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Opernhaftigkeit in Goethes Egmont: Funktionen eines Modells

TEIL II: KLASSIZISTEN

4. Goethes wunderbare Welt der Oper

4.1 Vom Musiktheater zum Modell Oper: Goethes Auseinandersetzung mit den Potentialen einer musikalischen Gattung

4.1.2 Opernhaftigkeit in Goethes Egmont: Funktionen eines Modells

(1) E.T.A. Hoffmanns Kritik an dem als zu opernhaft empfundenen Gesang im Egmont – wohlgemerkt im Rahmen einer Rezension von Beethovens Komposition, die als eine selbstständige musikalische Schicht und genuiner Bestandteil des Dramas verstanden wird (vgl. auch die Regieanweisungen!) – bezieht sich nicht auf das Drama als Ganzes, sondern auf ein bestimmtes Lied, das Klärchen im ersten Akt singt („Die Trommel gerühret!“). Für ein Schauspiel sei es zu sehr geschmückt, während es für die „Operette“ (i.e. komische Oper, Singspiel) ein „Meisterstück“ sein würde.665 Hoffmann hält hier an einem spezifischen Illusionskonzept fest: solche Liedeinlagen müßten zumindest virtuell den Erfordernissen von Inzidenzmusik entsprechen („zu solchen im Schauspielen vorkommenden Liedern höchstens die Begleitung setzen, welche von den auf dem Theater befindlichen Personen, wenigstens scheinbar, ausgeführt werden kann.“666).

Im Gegensatz zu dem als zu opernhaft empfundenen Lied hält Hoffmann das opernhafte Finale des Dramas, für das Goethe in den Regieanweisungen und Beethoven in seiner kompositorischen Umsetzung dramaturgische Elemente des Musiktheaters verwendet (Melodram, Pantomime und „Siegessymphonie“), für äußerst gelungen.667 Man könnte zwar durchaus von einem konkurrierenden Modell von Vokal- und Instrumentalmusik bei Hoffmann sprechen, zumal er abschließend die „Beethovensche Instrumentalmusik“

würdigt, und, ohne daß der Begriff an dieser Stelle fällt, Beethovens „Besonnenheit“ und seine Beherrschung des musikalischen Materials lobt, die er auch in seiner berühmten Rezension der Fünfter Sinfonie Beethovens herausstellt. Da Hoffmann wesentliche ästhetische Grundsätze aber auch an Beispielen des Musiktheaters entwickelt (s.u. Kap. 5), können wir uns auf seine ästhetische Bestimmung des Singens konzentrieren, die auf Konzeptionen der romantischen Oper vorausweist und sich wie eine abschließende Stellungnahme zu der Diskussion um Musik und Gesang im (deutschsprachigen) Musiktheater ausmacht.

Um die Bedeutung von Hoffmanns Konzeption, „Oper“ und „Schauspiel“ anhand der dramaturgischen Rechtfertigung des Singens für das Modell Oper im Rahmen von Goethes Werk mit Egmont als Exempel zu erfassen, müssen wir kurz auf die historische und wissenschaftliche Debatte um das deutsche Singspiel ausgreifen. In seinem Präzisierungsversuch des Terminus’ Singspiel lehnt Joachim Reiber die Vermeidung des historisch und konzeptionell problematischen Wortes „Singspiel“ als Sammelbegriff zugunsten des allgemeineren Terminus „Oper“ oder „deutsche Oper“ vor allem mit der Begründung ab, daß der „Begriff Oper der Musik eine konstitutive, dramaturgisch tragende und gefestigte Rolle zuzuweisen scheint, wie er sich in der Konzeption der betreffenden Werke nur selten findet.“668 Demgegenüber habe insbesondere in den 1760er und 1770er Jahren in Bezug auf die Werke, in dessen Kontext der Terminus Singspiel verwendet werden soll, noch keinerlei Konsens darüber bestanden, wie die Musik in einzelne Szenen

665 Ebd., S. 178.

666 Ebd., S. 179, Herv. im Orig.

667 Vgl. ebd., S. 182f.

668 Joachim Reiber: Art. „Singspiel“. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. neubearb. Aufl., Bd. 8. Kassel/Basel/Stuttgart 1998, Sp. 1470-1489, hier Sp. 1471, Herv. im Orig.

oder gar in ganze Akte zu integrieren sei. Szenen seien selten so angelegt gewesen, daß sie

„in einer musikalischen Nummer kulminierten, Gesangseinlagen habe man oft auf simple Weise motiviert (etwa durch die Aufforderung an eine Bühnenfigur, ein Lied zu singen), und Aktschlüsse oder -anfänge ohne Musik seien gang und gäbe gewesen.“669 Als wesentliches Merkmal von Singspielen – so man denn eine bestimmte Werkgruppe unter diesen Terminus subsumieren will – kann ihr „entstehungsgeschichtlicher Zusammenhang mit den gesprochenen Schauspielen“670 gesehen werden.

Reibers Darstellung der Diskussion um das Singspiel zeigt zweierlei. Zum einen zeichnet sich die tendenziell wachsende Dominanz der Musik ab: Wenn im Singspiel die Frage nach der dramaturgischen Rechtfertigung von Musik und Gesang zentral war, die Nähe zum gesprochenen Schauspiel entstehungsgeschichtlich gegeben und zugleich der Ausdruck

‚Singspiel’ auch auf eine Abgrenzung zur Oper mit der Musik als zentralem Faktor zielte671, wenn hingegen in Dramen wie dem Egmont der Faktor Musik dramaturgisch und poetologisch aufgewertet wird, dann scheint sich um 1800 (oder eher im ausgehenden 18.

Jahrhundert) eine Tendenz von der Fixierung der (deutschen) Oper auf die Sprache als leitendes Paradigma zur Musikalisierung des (Sprech-) Dramas mit der Musik als Fokus abzuzeichnen. Das entspricht im Ganzen der bekannten Tendenz der allmählichen Auf- und Überbewertung des Musikalischen, die aber auch und gerade im Bereich des Musiktheaters und Singens entwickelt wird, wie in dieser Studie gezeigt werden soll. Zum zweiten läßt sich mit Blick auf die Rezension von Hoffmann die Möglichkeit beschreiben, das Modell Oper zu differenzieren. Hoffmanns Forderung nach einer Abgrenzung von Oper und Schauspiel mit Musik anhand der Lied-Frage verweist bereits auf die Praxis einer tendenziellen Vermischung von Schauspiel und Musiktheater, denn sonst müßte man die Differenz nicht so nachdrücklich betonen. Bezieht man Hoffmanns Forderung auf die eben skizzierte Diskussion um das Singspiel und dessen dramaturgische Begründung des Gesangs, dann läßt sich – rein methodisch gesehen – eine Unterscheidung von ‚Modell Oper’ und

‚Modell Singspiel’ für die Literatur konstatieren. ‚Singspiel’ wird dabei nicht als Gattungsbegriff, sondern als systematisches Konzept im Rahmen des Modells Oper verstanden – und damit als eine „dramatische Chiffre jener utopischen ‚Unschuld und schönen Einfalt’“672, als die das Singspiel seit Wieland gehandelt wurde. Das ‚Modell Oper’

wäre demnach immer dann für einen literarischen Text zu veranschlagen, wenn Musik und Gesang als von der Erzählinstanz unhinterfragte Elemente in der Literatur erscheinen würden, wie das im Finale des Egmont der Fall ist oder beispielweise im Helena-Akt des

669 Ebd., Sp. 1471.

670 Ebd.

671 Vgl. ebd.

672 Ebd., Sp. 1487.

Faust. Vom ‚Modell Singspiel’ ließe sich hingegen dann sprechen, wenn Lieder und Musik im Handlungszusammenhang des Textes dramaturgisch begründet würden, wie etwa das Lied Lilies im Märchen oder die Gesangseinlagen des Harfners im Wilhelm Meister.

(2) Auf einer übergeordneten poetologischen Ebene läßt sich Hoffmanns Bestimmung des Singens, das der Ausdruck eines „erhöhten poetischen Zustands“ sei, explizit an das Modell Oper anknüpfen. Gesang taucht in der Literatur um 1800 in Form von Liedeinlagen und der thematischen oder strukturellen Aufwertung des Liedes verstärkt auf. Hoffmann bezeichnet die Grundkonstellation der Oper als „erhöhten poetischen Zustand“, der den automatischen Übergang der Sprache in das Singen in bestimmten Momenten hinreichend begründet. Wenn also in Erzähltexten, vor allem in romantischen, der Gesang eine nicht näher explizierte, im szenischen Handlungsraum als selbstverständlich hingenommene Äußerungsform der Figuren darstellt, dann folgt diese Darstellungsweise des Textes dem Prinzip der Oper, so wie Hoffmann es als deren „Basis“ angibt. Oder anders formuliert: Der Übergang der Sprache in Gesang stellt ein opernhaftes Prinzip dar, das generisch mit der Ästhetik der Oper – und eben nicht (nur) mit Vorstellungen des Musikalischen im Sinne der Idee der absoluten Musik – verknüpft ist und das in Formen der Oper, des Schauspiels mit Liedeinlagen oder aber in Erzähltexten künstlerisch realisiert werden kann. In Prosaliteratur findet sich Gesang nicht nur auf thematischer Ebene, indem Figuren an Stelle von sprachlichen Äußerungen singen; man kann von ‚Gesang’ im Erzähltext aber auch im Fall von sprachmusikalischer ‚Verklanglichung’ der Rede sprechen, wie sie in romantischen Texten zu finden ist. Beides sind aber sehr unterschiedliche Phänomene verdeckter Intermedialität, von denen vor allem das erste, also das Singen von Erzählfiguren als reguläre Kommunikationsform, im Rahmen des Modells Oper zum Tragen kommt. Zur Abgrenzung vom Lied oder der Konzertarie als singulären musikalischen Phänomenen läßt sich der Gesang als opernhaftes Prinzip durch seine Einbettung in einen szenischen Handlungsrahmen definieren.

Die von Hoffmann am Beispiel des Egmont aufgeworfene Problematik der Rechtfertigung des Gesangs, der ja eine zentrale Diskurs-Kategorie des Modells Oper darstellt, innerhalb des dramatischen Zusammenhangs läßt sich auf weiteren Textbeispielen dieser Arbeit im Bereich der Prosaliteratur übertragen. Novalis Roman Heinrich von Ofterdingen, Tecks Magelone-Zyklus und Hoffmanns Märchen Der goldene Topf sowie Erzählungen von Eichendorff und Jean Paul lösen auf je unterschiedliche Weise das Problem, daß sich aus dem Einfügen von Gesang in die Rede der Figuren ergibt. Da in diesen Texten ebenso wie im Drama Egmont durch die Musikalisierung der Sprache eine Differenz zwischen der normalen Figurenrede und dem ‚erhöhten Zustand’ der im Gesang potenzierten Sprache konstatiert werden kann, was ein von der Erzählinstanz produzierter Effekt ist, können die Beispiele auch auf den Modus der dramatischen Ironie perspektiviert werden.

Funktionalisierung opernhafter Elemente im Egmont:

Goethe hatte bei Beendigung der Arbeit am Egmont 1787 von Rom seinen damaligen

‚Hauskomponisten’ Kayser um Schauspiel- und Bühnenmusik für sein neustes Werk gebeten („die Symphonien, die Zwischenakte, die Lieder und einige Stellen des fünften Akts, die Musik verlangen“673). Kaysers Komposition kam zwar nicht zustanden, aber die Schauspielmusik von Beethoven liefert 1811 exakt die eigentlich von Kayser gewünschte Vertonung. Der musikalische Schluß des fünften Aktes wird von einer melodramatischen Passage eingeleitet, auf der eine ausgedehnte Pantomime mit Klärchen als Allegorie der Freiheit folgt, die Egmont träumt oder als Vision erlebt. Die Pantomime endet in einem Tableau und wird von Inzidenzmusik („kriegerische Musik von Trommeln und Pfeifen“674), die in größtmöglichem Kontrast zu der die Vision begleitenden Musik steht, zurück in die Bühnenrealität geführt. Die spiegelbildliche Konstruktion ganz am Ende des Werkes, in der die Inzidenzmusik der Trommeln wieder durch die Musik ersetzt, also gleichsam gelöscht und in eine „Siegessymphonie“ überführt wird, markiert die strukturelle Bedeutung der Musik für die Gestaltung des Egmont-Stoffes. Im folgenden soll gezeigt werden, in welcher Weise sich die opernhafte und melodramatische Gestaltung des Egmont die poetische Aussage des Werkes mitbestimmt. Dabei muß, so die These, nicht nur die letzte Szene, sondern auch die Szene von Klärchens Tod und vor allem die Funktionalisierung der Musik in beiden Szenen, die sich wechselseitig aufeinander beziehen läßt, berücksichtig werden.

Das Drama setzt Musik und musikalisch-szenische Gestaltung – Liedeinlagen zur Charakterisierung Klärchens, die melodramatische Traumvision, Einleitungs-, Zwischenakt- und Schlußstücke, zum Teil explizit von Goethe vorgeschrieben – in den unterschiedlichsten Funktionen ein.

Anders als es Schillers Formulierung vom „Salto mortale in eine Opernwelt“675 in dessen ablehnender Egmont-Rezension behauptet, tritt der melodramatische Schluß nicht unvorbereitet ein, und das nicht nur wegen der vielfachen vorangegangenen Musikverwendung, sondern auch aus strukturellen Gründen. Das Ende der letzten Szene

673 Goethe an Philipp Christoph Kayser, 14. August 1787. In: Johann Wolfgang von Goethe: Werke, Bd. 4: Dramatische Dichtungen II. Hg. v. Wolfgang Kayser. München 131994, S. 617.

674 Johann Wolfgang Goethe: Egmont. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. In: Ders.: Werke, Bd. 4, S.

370-454, hier S. 453.

675 „Kurz, mitten aus der wahrsten und rührendsten Situation werden wir durch einen Salto mortale in eine Opernwelt versetzt, um einen Traum – zu sehen. Lächerlich würde es sein, dem Vf.

dartun zu wollen, wie sehr er sich dadurch an Natur und Wahrheit versündigt habe; das hat er so gut und besser gewußt als wir; aber ihm schien die Idee, Klärchen und die Freiheit, Egmonts beide herrschenden Gefühle, in Egmonts Kopf allegorisch zu verbinden, sinnreich genug, um diese Freiheit allenfalls zu entschuldigen. Gefalle dieser Gedanke, wem er will – Rez. gesteht, daß er gern einen witzigen Einfall entbehrt hätte, um eine Empfindung ungestört zu genießen.“

(Friedrich Schiller: Über Egmont, Trauerspiel von Goethe (1788). In: Schillers Werke.

Nationalausgabe, Bd. 22: Vermischte Schriften. Hg. von Herbert Meyer. Weimar 1958, S. 199-209, hier S. 208f, Herv. im Orig.) Goethe reagierte gelassen auf Schillers Kritik: „In der Litteratur Zeitung steht eine Recension meines Egmonts welche den sittlichen Theil des Stücks gar gut zergliedert. Was den poetischen Theil betrift; möchte Recensent andern auch noch etwas zurückgelaßen haben.“ (Goethe an Herzog Karl August vom 1. Oktober 1788, In: Johann Wolfgang von Goethe: Werke, Bd. 4: Dramatische Dichtungen II. Hg. v. Wolfgang Kayser. München 131994, S. 621.)

zwischen Brackenburg und Klärchen (V., 3) korrespondiert mit der Schlußszene in mehrfacher Hinsicht: Jene wird durch diese vorbereitet, ja vorweggenommen. Anders als die Inzidenzmusik (Lieder, Marschmusik) und die zunächst der Theaterkonvention geschuldeten Zwischenaktmusiken ist die Musik, die Goethe in den beiden Szenen mit Klärchens und Egmonts Tod fordert, integraler Bestandteil des Dramas und zugleich außerhalb der Bühnenrealität angesiedelt. Sie ist ein die Bühnenillusion durchbrechendes Mittel, ähnlich wie es Schiller für den Chor in der Braut fordert. Nicht an der Täuschung der Bühnenrealität ist Goethe gelegen – Schiller hatte ihm vorgeworfen, er habe sich „an Natur und Wahrheit versündigt“676 –, sondern an einer höheren, symbolischen Wahrheit, die er in der sinnlich vorgestellten Allegorie der Freiheit in der Traumvision zum Ausdruck bringt. Schon in der Parallelszene mit Klärchens Tod fungiert Musik als Symbol: ihr Sterben findet hinter der Bühne statt, auf der Bühne wird es akustisch durch die Musik symbolisiert („eine Musik, Klärchens Tod bezeichnend, beginnt“) und optisch durch ein verlöschendes Licht („die Lampe, welche Brackenburg auszulöschen vergessen, flammt noch einigemal auf, dann verlischt sie“). In ihren letzten Worten, nachdem sie das Gift getrunken hat, hatte Klärchen von der Lampe zu Brackenburg gesprochen: „Lösche diese Lampe still und ohne Zaudern, ich geh zur Ruhe.“677 Klärchens Aufforderung ist ebenfalls ein Symbol, nämlich für ihre Beziehung zu Brackenburg, der für Egmont zur Seite treten muß: „Sie zieht mich nach, und stößt ins Leben mich zurück. O Egmont, welch preiswürdig Los fällt dir! Sie geht voran; der Kranz des Siegs aus ihrer Hand ist dein, sie bringt den ganzen Himmel dir entgegen.“678 Diese Vorausdeutung von Brackenburg auf die pantomimische Darstellung in der musikalisierten Schlußallegorie unterstreicht die Komplementarität der beiden Szenen und der beiden Hauptfiguren. Die metonymische Vertauschung von Schlaf und Tod, die die Sterbeszene von Klärchen exponiert, wird in Egmonts musikalisierter Traum-Allegorie, die auf dessen Tod vorausweist, aufgegriffen679.

Als Verbindungsstück zwischen Egmonts Traum und Klärchens Tod fungiert die Szene im Gefängnis, zu deren Beginn – also zeitgleich mit Klärchens Tod – Egmont „schlafend auf dem Ruhebette“ gezeigt wird (während er in der dem Tod Klärchens vorausgehenden Gefängnisszene den fliehenden Schlaf beschworen hatte). An dieser Stelle wird Klärchens Tod mit Egmonts Schlafassoziiert. Die Musik, die „Klärchens Tod bezeichnet“, leitet als Zwischenaktmusik in die anschließende Gefängnisszene über (Umbaupause!) und bildet zugleich ein symbolisches Verweissystem, das vom Autor oberhalb der Handlungsebene angesiedelt wird. Dabei steht die Musik nicht nur symbolisch, sondern im dramaturgischen Kontext auch metonymisch für Klärchens Tod, da letzteres dem Blick entzogen und ersteres als expliziter Ersatz dafür dem Ohr geboten wird.

In der abschließenden Traum-Allegorie und Egmonts Gang zur Hinrichtung erfahren diese genuin musikalisch erzeugten Konstellationen eine Steigerung. Der Schlaf und die „Musik“

676 Schiller: Über Egmont, S. 209.

677 Goethe: Egmont, S. 444f.

678 Ebd., S. 444.

679 In der melodramatischen Passage, die dem Traum vorausgeht, spricht Egmont die Metonymie von Schlaf und Tod direkt an: „Süßer Tod! (....) und eingehüllt in gefälligen Wahnsinn, versinken wir und hören auf zu sein.“ (Ebd., S. 452.)

löschen als Gegenpole zur äußeren Realität das wache, rationale Dasein aus – im Unterschied dazu steht die „kriegerischen Musik mit Trommeln und Pfeiffen“ als Inzidenzmusik zum einen für die äußere Bühnenrealität und zum anderen als Symbol für Egmonts Scheitern und Tod. Damit ist auch die Musik in die vielfältige Oppositionsbildung, die eine Grundstruktur des Dramas ausmacht, eingeschrieben: der harte Rhythmus der

„Trommeln und Pfeifen“ steht der sanften „Musik“, die Egmonts „Schlummer“ begleitet gegenüber, so wie Klärchen gegen Alba, weibliches gegen männliches Prinzip, Liebe gegen Macht, Privatheit gegen Politik und Freiheit gegen Tod steht.

In die Schlußsequenz ist allerdings ein deutlich ironisches Element eingebaut, das auf dramaturgischer Ebene mit der strukturellen Opernhaftigkeit korrespondiert: Egmont wähnt Klärchen, die für ihn gleichbedeutend ist mit der Freiheit, in sicherer Obhut bei Ferdinand680, während sie tatsächlich bereits tot ist – ein Wissen, das der Autor mit dem Zuschauer teilt. Wie ernst ist also diese „eschatologische Schau“, die das Melodrama als Medium zur „Vermittlung von Jenseits und Diesseits“681 benutzt, vom Autor gemeint? Wie überzeugend ist Egmonts musikgestützter innerer Rückzug in Wahnsinn und Traum als Lösung für das Drama? Die musikalische Begleitung und Überhöhung des Wortdramas („Siegessymphonie“) kann in doppelter Bedeutung gelesen werden: als dramatisch unmittelbarer Ausdruck des Trostes und der Erlösung oder als ironischer Kommentar des Autors, der sich sozusagen wie der Komponist in der Oper „über die Köpfe der handelnden Personen hinweg“ (Dahlhaus) mit dem Publikum über Egmonts Tragödie unterhält. Man kann also von einer Funktionalisierung der Oper als Modell im dritten Modus in seiner Variante als dramatische Ironie sprechen. Der Kontrast zwischen Scheitern im Drama und poetischer Überhöhung in der dramatischen Darstellung, die sich den Mitteln der Oper als Modell bedient, eröffnet einen Raum für die poetische Aussage, in dessen Mitte, gleichsam ironisch schwebend, sich das Drama als Ganzes einer vereindeutigenden Antwort verwehrt.

Das lieto fine der Oper findet im Modus des Traums und in Gestalt einer „Siegessymphonie“

statt. Die Verklärung Klärchens – schon der Name spricht! – erinnert natürlich an Fausts Gretchen, ihr allegorisches Voranschreiten in Tod und Verklärung an den Schlußchor in Faust II: „das Ewig-Weibliche zieht uns hinan.“ Die gesetzte Korrespondenz zwischen Oper/Musik, dem reinen Weiblichen und der Erlösung des männlichen Helden, fungiert als innere oder höhere Kompensation für den äußeren Totalverlust. Man kann den Schluß als positive Lösung lesen682 oder aber, gerade wegen seiner Opernhaftigkeit, als einen ironisch gebrochenen. Die Oper als Modell gibt Goethe die poetischen Mittel in die Hand, seinem tragischen Helden Egmont einen versöhnlichen Tod zu verschaffen: die Oper als Versprechen für eine der düsteren Gegenwart entgegengestellte Zukunft.

680 „Ich kenne ein Mädchen; du wirst sie nicht verachten, weil sie mein war. Nun ich sie dir empfehle, sterb ich ruhig.“ (Ebd., S. 452.)

681 Holtbernd, S. 152.

682 Vgl. beispielsweise Wolfgang Kayser: „Egmont ist wieder ganz er selbst geworden, er hat seine Freiheit wiedergefunden, die den Kern seines Wesens ausmacht, und er hat das Gefühl, daß sein Tod ein Schritt auf dem Wege zu einer glücklicheren Zukunft seines Landes sei.“ (Wolfgang Kayser: Nachwort zu Egmont. In: Goethe: Egmont (wie Anm. 674), S. 641.)

Liest man den Egmont im Hinblick auf eine auch biographisch gemeinte Künstlerproblematik, wie etwa Hartmut Reinhardt es unternimmt683, dann muß man im Hinblick auf das Modell Oper die Ambivalenz des Dramenschlusses und den dramaturgischen Rückgriff auf Elemente der Oper stärker herausarbeiten. Reinhardt erwähnt zwar den

„Anflug von Ironie“684, der am Schluß aufgrund der dramatischen Gestaltung auf den Helden fällt, insofern sich sein Schicksal nicht durch eine heroische Tat, sondern nur durch ein „Traumbild der Seele“ erfüllt: „Darin liegt ein letzter Abstand von der Realität als dem Bereich, aus dem alles Träumen kommt und in dem es sich als ein Produktives verwirklicht oder als ein nur Innerliches bricht.“685 Durch die Formung insbesondere des Schlusses nach dem Modell der Oper rückt die Bühnenrealität in den Modus der Uneigentlichkeit und sie wird vom Autor auf eine Weise kommentiert, die den handelnden Figuren nur zum Teil zugänglich ist. Wenn man Reinhardts Argumentation folgt, daß Goethe in der endgültigen Ausarbeitung des Egmont in Rom, wo er die Erfüllung seiner Jugendträume erlebt686, auch seine eigene Situation als Künstler mit verarbeitet hat, dann erhält die Erklärung des opernhaften Schlusses eine neue Prägnanz. Reinhardts These ist, „daß Goethe in Egmont sein früheres individualistisches Dichtertum im Bild festhält“687, von der es Abschied zu nehmen galt zugunsten einer „objektiven Verbindlichkeit“688 eines geformten Kunstverhaltens. Konzentriert man sich auf diesen Aspekt der Selbstversicherung des Dichters im Drama, dann zeichnet Egmont das Bild eines Menschens, der im Versinken in ein dauerhaftes poetisch-musikalisches Gemälde überführt wird, dessen „Erfüllung im Traum, freilich nur im Traum.“689 gewährt wird. Eine bloß subjektive Ausdeutung des Schlusses, die das Innen von Egmont dem Außen seiner Situation gegenüberstellt, greift zu kurz; Goethes Ausgestaltung des Dramas lenkt auf den Kunstvorgang selbst.690 Gegenüber der poetologischen Interpretation des Egmont durch Reinhardt, der sich eher defensiv zur

683 Hartmut Reinhardt: Egmont. In: Goethes Dramen. Neue Interpretationen. Hg. v. Walter Hinderer.

Stuttgart 1980, S. 122-143.

684 Ebd., S. 130.

685 Ebd.

686 „Das Land, wo die Zitronen blüh’n, erfährt Goethe als Traumland. (...) ‚Alle Träume meiner Jugend seh’ ich nun lebendig’, heißt es nach der Ankunft in Rom, der ‚Hauptstadt der Welt’.“

(Ebd., S. 128.) 687 Ebd., S. 130.

688 Ebd., S. 129.

689 Ebd., S. 130, Herv. im Orig.

690 „Offenbar zielt Goethes Gestaltung des Schlusses nicht auf die politische Utopie als solche (...).

Aber es fehlen auch Anzeichen einer Distanzierung, aus denen gefolgert werden könnte, daß es mit Egmonts visionärer Perspektive eine bloß subjektive Bewandtnis habe. Dies macht doch die Struktureigentümlichkeit des Schlusses aus, daß Egmonts Traum nicht zur Realität hin gebrochen wird, sondern sich in einer traumanalogen Perspektive erfüllt, die ihrerseits keiner Einschränkung unterliegt. Wenn die Erwartungen psychologischer Wahrscheinlichkeit oder historischer Vermittlung hier zu einem defizitären Befund kommen, so bleibt immer noch die Möglichkeit, sich auf den Kunstvorgang selbst einzulassen und seine spezifische Logik zu klären.“

( Ebd., S. 125, Herv. S.L.)

Modellfunktion der Oper verhält691, muß der wesentliche Anteil unterstrichen werden, den die Opernhaftigkeit des Dramas für dessen poetische Aussage hat. Gerade wenn man den Modus der dramatischen Ironie berücksichtigt, der in Goethes Rekurs im auf das Modell Oper im Egmont zum Tragen kommt, dann erscheint die Oper als diejenige Dramenform, die dem Dichter die ästhetischen und dramaturgischen Mittel für eine utopische Konzeption bietet – wenn auch in ironischer Brechung. Wie weit Goethe damit gegangen ist, zeigt das nächste Kapitel, in dem es um die Oper als Modell für Goethes opus magnum, die Faust-Tragödie geht.

691 Reinhardt geht von der üblichen Egmont-Kritik in der Tradition Schillers aus und versucht, den kritisierten Schluß unvoreingenommen ernst zu nehmen und an seiner „spezifischen Logik“ zu messen. Angesichts der oben aufgezeigten Bedeutung der Oper als Modell für den Egmont wirkt es dennoch so, als versuche Reinhardt, negative Reflexe durch das weitgehende Vermeiden des Begriffes ‚Oper’ zu verhindern. Lediglich an einer Stelle werden Oper, Pantomime und Tableau – nicht jedoch das Melodram – als Modelle genannt: „Wenn eine sinnbildlich-musikalische Pantomime das Finale – ein hier durchaus angebrachter Begriff der Operndramaturgie – bildet, so handelt es sich nach diesem Gestaltungplan nicht um einen plötzlichen Sprung ‚in eine Opernwelt’ (Schiller). (...) Diese opernhaften Züge sind dem Drama aber nicht künstlich aufgesetzt, sondern die Dialoge drängen von sich aus zum musikalisierten Tableau.“ (Ebd., S.

126.)