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Barockoper auf Schillers Schauspielbühne: zur Wirkungsästhetik der Oper in den Räubern

TEIL II: KLASSIZISTEN

3. Oper als ästhetisches Modell bei Herder und Schiller: zwischen Anthropologie, Affektrhetorik und autonomem Gesamtkunstwerk

3.3 Affektrhetorik der Oper und opernhafte Episierung des Dramas bei Friedrich Schiller

3.3.1 Barockoper auf Schillers Schauspielbühne: zur Wirkungsästhetik der Oper in den Räubern

In seinem Dramenerstling Die Räuber564 greift Schiller auf Formen und Strukturen der Oper, von der er nachhaltige Eindrücke in seiner Jugend erhalten hatte, mit dem Ziel der Affekt- und Wirkungssteigerung zurück. Peter Michelsen hat in seiner inzwischen auch in der Schiller-Forschung rezipierten565 Studie im Detail nachgewiesen, welche Mittel der Oper und des Balletts Schiller in den Räubern aufgreift, um sie zur Wirkungssteigerung und Innovation der Form zu nutzen. In seiner zunächst weitgehend unbeachtet gebliebenen Studie bezieht sich Michelsen auf die Überlegungen von Konrad Burdach zu Schillers Chordrama und die Geburt des tragischen Stils aus der Musik566, einer deutlich unter dem Eindruck von Wagners Musikdramatik verfaßten Arbeit zur Verwendung des Chores und chorischer Funktionen in Schillers Dramen.

Michelsens Ausgangsüberlegung ist die „scheinbare Diskrepanz zwischen offensichtlichen Mängeln und ebenso offensichtlicher Genialität“567 der Räuber. Diese Diskrepanz löst sich jedoch auf, wenn man die Räuber nach ihren eigenen poetologischen Maßstäben begutachtet; Maßstäbe die sich zum Teil weit von der Tragödientheorie der Aufklärung entfernen und auf die ästhetischen Mittel und Funktionen der (barocken) Oper zurückgreifen. Als erster Aspekt für die Opernhaftigkeit der Räuber ist daher die Negierung

564 Friedrich Schiller: Die Räuber. In: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 3: Die Räuber. Hg. v.

Herbert Stubenrauch. Weimar 1953 [enth. Erstdruck, Mannheimer und ‚Trauerspiel’-Fassung].

565 „Michelsen hat ein arg vernachlässigtes Thema der Schiller-Forschung gründlich bearbeitet: die Beziehung Schillers (und der Räuber) zu Tanz, Oper, Ballett, zur Ausdruckskunst überhaupt;

Michelsen verweist mit Recht darauf, daß in der Schiller-Forschung der Einfluß der italienischen Oper bis heute nicht gründlich geprüft worden sei. Der erste Teil seiner großangelegten und wichtigen Studie geht auf das im eigentlichen Sinne Theatralische beim jungen Schiller ausführlich ein, bespricht das Pantomimische einzelner Räuber-Szenen, erläutert das Verhältnis von körperlichem Ausdruck und seelischer Stimmung und wertet ausführlich, was die Frage der Beeinflussung durch das Ballett angeht, Noverres Briefe über die Tanzkunst aus – bislang nicht geschehen in der Schiller-Forschung, man hat sich allenfalls mit Engels Ideen zu einer Mimik befaßt. Michelsens Studie über Gestik und Physiognomie in den Räubern, über choreographische Anweisungen bei Schiller und Techniken aus dem Bereich des Tanzes füllt eine erhebliche Forschungslücke.“ (Helmut Koopmann: Forschungsgeschichte. In: Schiller-Handbuch. Hg. von dems. Stuttgart 1998, S. 809-932, hier S. 896.)

566 Konrad Burdach: Schillers Chordrama und die Geburt des tragischen Stils aus der Musik. In: Ders.:

Vorspiel. Gesammelte Schriften zur Geschichte des deutschen Geistes. 2. Bd.: Goethe und sein Zeitalter (DVjs, Buchreihe, 3. Bd.). Halle a.d. Saale 1926, S. 116-237. Zum damaligen Stand der Forschung vgl. Michelsen: „Es ist kaum glaublich, aber leider wahr, daß der ganze Komplex der Beziehungen Schillers zu dem Opern- und Musikleben Ludwigsburgs und Stuttgarts – das doch ganze sechzehn Jahre, vom siebten bis zum dreiundzwanzigsten Lebensjahr, auf Schiller hat einwirken können! – bisher noch keiner eingehenden Untersuchung gewürdigt worden ist. Allein Konrad Burdach hat (...) in seiner hochbedeutsamen Abhandlung Schillers Chordrama und die Geburt des tragischen Stils aus der Musik vom Musiktheater in Ludwigsburg und Stuttgart in einer dem Rang des Gegenstandes angemessenen Weise gesprochen und dabei einige wertvolle Hinweise auch in Bezug auf Schillers Jugendwerke, vor allem Die Räuber, gegeben. Seinen Anregungen ist bisher nicht weiter nachgegangen worden.“ (Michelsen, S. 15.)

567 Ebd., S. 9. Als Mängel der Räuber gelten die absurde Handlung, verstiegene und unwahrscheinliche Charaktere und eine ‚grelle’ Sprache. – Soweit nicht anders angegeben beziehen sich die folgenden Erläuterungen zur Opernhaftigkeit der Räuber auf die Ergebnisse von Michelsen.

des aufklärerischen Wahrscheinlichkeitspostulates in den Räubern zu nennen. Von der Vergegenwärtigung der Fabel bis ins Detail der Ereignisse zeigt sich, wie sich Schiller „in souveräner Willkür um ein Wahrscheinlichmachen kaum gekümmert hat.“568 Ein zweiter Aspekt ist das rhetorische Sprechen, das an die Stelle von psychologischer Motivierung tritt. Es zeigt sich beispielsweise in dem Vorzeigen des blutverschmierten Schwertes als Beweismittel für den Tod Karls. Das Schwert als falsches indicium dient in der Tradition der Rhetorik gerade der Trübung der Urteilskraft durch Aufwühlung des Gemüts. Zugleich war es Schiller aus dem theatralischen Bereich bekannt, und zwar aus der italienischen Oper. Er hatte nachweislich mindestens eine gesehen, in der das Motiv in einer sehr ähnlichen Weise wie in den Räubern verwendet wird.569 Mit der Opernpflege an den deutschen Höfen:

„ragte aber nicht nur ein bedeutsames Stück barocker Kultur weit ins achtzehnte Jahrhundert hinein (...), sondern es stand vor allem – lange vor dem Sturm und Drang – in einer freilich nur halbliterarischen Gattung die Darstellung von Gefühlsregungen aller Art im Zentrum der künstlerischen Bemühung.“570

Ein weiterer Aspekt betrifft das „Lieblinsthema der Italiäner“ (Heinse): den Kampf des Helden zwischen Ehre oder Pflicht und der Liebe. Die theatrale Exzentrik, mit der sich Karl am Schluß zwischen seinem Räuberdasein und seiner Liebe zu Amalia entscheiden muß, entspringt dem Einfluß der Opernpathetik Metastasios: „Der Lieblingskonflikt Metastasios ist der der Schillerschen Dramatik.“571

Ebenfalls aus der Opernrhetorik stammt die auffällige Verwendung gestischer Zeichen:

„Daß der pathetische Geist der Oper die szenische Wirklichkeit auch der Räuber prägt, dokumentiert sich besonders eindringlich in der ungewöhnlichen Vehemenz der Gebärdensprache.“572 Schillers diesbezügliche Regieanweisungen573 dienen gerade nicht einer individualisierten, psychologisch nuancierten Charakterdarstellung, sondern sind als konventionelle, rhetorische Mittel zu verstehen. Die theatrale Wirklichkeit, in der diese Darstellungsmittel zum Einsatz kamen, stellte insbesondere das Ballett dar:

„Das ‚Pantomimische’, das nach Lessing der Schauspieler unbedingt ‚vermeiden’

müsse, hatte nun aber gerade zu seiner Zeit in einer anderen theatralischen Gattung einen triumphalen Wiedereinzug gehalten: im Ballett.“574

568 Ebd., S. 10.

569 Vgl. ebd., S. 13.

570 Ebd., S. 15.

571 Ebd., S. 17. Vgl. dagegen Bernhard Asmuth, der den Konflikt zwischen Liebe und Ehre als

„Standardkonflikt“ im höfischen Drama des 17. und 18. Jahrhunderts ausmacht (Corneille).

(Bernhard Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse. Stuttgart, Weimar 41994, S. 146f.) 572 Michelsen, S. 20.

573 Die hier vorgestellten Überlegungen zum Modell Oper beziehen sich auf die erste Druckfassung des Dramas von 1781. Etwaige Änderungen in der Mannheimer oder der späteren sogenannten Trauerspiel-Fassung, die die Opernhaftigkeit der Räuber zurücknimmt, werden von Michelsen an einigen Stellen berücksichtigt.

574 Ebd., S. 23.

Schiller hatte Ballette von Noverre oder zumindest von dessen Nachfolger am Ludwigsburger Hof, Dauvigny, gesehen. Als ein direkter Bezug auf das Noverrsche Ballett La Mort d’Hercule, das Schiller in Ludwigsburg nachweislich gesehen hatte, kann das Losungswort angesehen werden, das Karl nach der Ermordung Spiegelbergs ausgibt: „Der sterbende Herkules sey heut Parole.“ (IV, 5) Außerdem zeigen sich zwischen dem Finale des Herkules-Balletts und dem der Räuber frappante Parallelen: „Die ungezügelte Vehemenz der Affekte, wie sie hier zur Darstellung gelangt, steht dem Charakter des Räuber-Finales recht nahe, näher als die Schlußszene irgendeines Sturm und Drang-Dramas.“575 Insgesamt läßt sich festhalten, daß der junge Schiller ein völlig ungebrochenes Vertrauen zum Darstellungsmittel der Gebärden hatte, die ihm als „schlackenloser Ausfluß des seelischen Geschehens“576 galten. Gänzlich unbekümmert um aufklä rerische Unterscheidungen zwischen Drama und Oper, entnahm er den theatralischen und tänzerischen Darbietungen in Ludwigsburg und Stuttgart die Möglichkeit, die intensivierte Darstellung der Affekte mit Hilfe ausladender Gebärden – und im gewissen Umfang auch der Musik in Form von Gesangseinlagen – im Schauspiel zu verwirklichen. Der Bühnenpraxis der Aufklärer wie der Kraftgenies setzt Schiller damit die große pathetische Geste des Barocktheaters entgegen.577

Ein weiterer Aspekt ist die auf starke Kontrastwirkungen ausgelegte Dramaturgie. Die Typisierung und tendenzielle Entindividualisierung seiner Figuren, die Schiller im Rahmen der skizzierten Affektästhetik erzielt, erinnert an einen zentralen Aspekt der Barockoper, den auch Carl Dahlhaus hervorhebt, daß nämlich die Affekte die eigentlich agierenden Momente des musikalischen Dramas bilden:

„Die einzelne dramatische Person dagegen erscheint – ohne sich zum Charakter, zu einer in unterschiedlichen Situationen und Gemütszuständen sich durchhaltenden Prägung zu verfestigen – als bloßer Schauplatz von Affekten, die wie Wetterumschläge über die Seele hereinbrechen.“578

Im Hinblick auf die Räuber beschreibt Michelsen einen analogen Mechanismus für die Affekt- und Charakterdarstellung:

„Gestik und Physiognomie stehen also im Dienste der Leidenschaften, denen gegenüber ihre Träger, die Menschen, fast nur noch als Gefäße erscheinen. Die Personen sind Sprachrohre, aus denen etwas anderes heraustönt.“579

Die von Ballett und Oper übernommenen Möglichkeiten der pantomimischen Darstellung in den Räubern verrät Schillers „souveränen Sinn für Bewegungsregie“580. Dazu gehört auch der effektvolle Einsatz von Generalpausen, in denen die Szenerie gleichsam zu ‚lebenden Bildern’ gefriert. Im vierten Akt beispielsweise wird der innere Gegensatz zwischen der

575 Ebd., S. 31.

576 Ebd., S. 32.

577 Vgl. ebd., S. 37.

578 Carl Dahlhaus: Ethos und Pathos in Glucks Iphigenie auf Tauris. In: Ders.: Klassische und romantische Musikästhetik, S. 55-65, hier S. 60.

579 Michelsen, S. 40.

580 Ebd., S. 43.

Gruppe der Räuber und Karl durch äußere Kontraste in der Szenengestaltung markiert.

Dazu gehört nicht nur der Kontrast zwischen Dialog und Monolog sondern auch Musik (Karl begleitet seinen Gesang auf der Laute) und die als Tableau gestaltete in Szenerie, deren Eindrücklichkeit durch eine Generalpause unterstrichen wird: „Sie [Die Räuber] lagern sich auf der Erde und schlafen ein. Tiefe Stille.“ (IV, 5). Der innere Zustand des von Ängsten und Gewissensbissen geplagten Franz wird ebenfalls durch Pantomime und Generalpause visualisiert: „Franz wirft sich in seinem Sessel herum in schröcklichen Bewegungen. Tiefe Pause.“ (V, 1) In der letzten Szene wird die Dramatik des Todes von Karls Vater durch ein effektvolles Tableau illustriert: „Der alte Moor gibt seinen Geist auf. Amalia steht stumm und starr wie eine Bildsäule. Die ganze Bande in fürchterlicher Pause.“ (V, 2) Und schon kurze Zeit später, am dramatischen Höhepunkt der Wiederbegegnung von Karl und Amalie, greift Schiller erneut auf dieses Darstellungsmittel zurück: „Er hängt an ihrem Mund, sie bleiben in stummer Umarmung.“ (V, 2). In den letzten drei der vier angeführten Beispielen dienen Pantomime und Generalpause als übersteigerte Darstellungsformen für einen außerordentlichen emotionalen Zustand der Figuren.

Szenen wie die in der Schenke, in der Moor den Brief erhält und Spiegelberg kontrapunktisch dazu eine regelrechte Pantomime aufführt (I, 2), oder die Ansprache Moors an seine Räubergesellen (II, 3) zeigen ebenso wie die chorische Behandlung der Räuber, die Zusammenfassung einer größeren Anzahl von Personen oder gar Massen zu Gruppenwirkungen auf der Bühne die „pantomimisch-choreographische Schulung des Autors“581. Karl Moor „zu Pferd“ in die Szene reitend und ein 78 Mann starker Räuberhaufen („Sehen Sie, Herr Pater! hier stehn neunundsiebenzig, deren Hauptmann ich bin.“; II, 3) auf der Bühne sind gängige Bühnenpraxis im Rahmen der damaligen Opernästhetik. Zweck dieses Unterfangens ist die Profilierung des Helden Moor durch die chorische Führung der Räuber als eine Form pathetischer Steigerung:

„Indem die Menge in steter Beziehung auf den Helden komponiert wird, dessen Geschicke gerade durch die Harmonie oder Disharmonie mit den Massen heftig oder schmelzend auf die Gemüter wirkt, wird sie in die dramatische Gesamtkonstellation eingeordnet.“582

Ein weiteres dramaturgisches Element, das Schiller der Oper entlehnt hat, sind die Szenerie und Dekorationen, die sich in den Räubern vom Szenen-Konzept anderer Sturm-und-Drang-Dramen unterscheidet. Schiller versteht „Szene“ ausschließlich als Bühnenbild und nicht als Auf- oder Abtritt einer Person: „Schillers Art indessen, geschlossene Handlungsmassen zu bilden und sie in mehreren, jeweils dekorativ wirkenden Szenerien sich abspielen zu lassen, ist die der Oper.“583 Er denkt hier nicht literarisch, sondern geht von den realen Gegebenheiten der Bühne aus, und zwar von denen der Opernbühne, die sich durch aufwendige, auf den Grundton der jeweiligen Szene einstimmenden Dekorationen, eine große Raumtiefe und perspektivische Wirkungen sowie ein ausgefeiltes Maschinenwesen auszeichnete.

581 Ebd.

582 Ebd., S. 47.

583 Ebd., S. 52.

Selbst einzelne Elemente lassen sich noch auf Schillers Opernerfahrung beziehen. Die

„Galerie“ (IV, 2) war beispielsweise eine Lieblingsdekoration der Oper. Ein Brand, wie er das Moorsche Schloß erfaßt (V, 1), war ein „Effekt, den sich die Opernbühne selten entgehen ließ“584 Hinzu kommen außerdem die betonten Szenenschlüsse. Wilhelm Große streicht heraus, daß die Szenenschlüsse in den Räubern „immer kräftig betont und knapp, sozusagen auf der Hebung“ enden, während in Goethes, Lenz’ oder Klingers Sturm-und-Drang-Dramen die „scheinbar zufälligen, stumpfen oder verschwebenden Szenenschlüsse“

überwiegen.585 Das entspricht den Gestaltungsprinzipien von Szenen in der Oper, die durch die Abgangsarien oder Final-Ensemble mit starken Akzenten versehen werden.

Neben einer Steigerung der affektischen Wirkung bedingen die erläuterten szenischen und choreografischen, von der Opernbühne entlehnten Aspekte aber auch eine physische und mentale Distanz zur Bühne, damit ihre dramatische Wirkung zur Geltung kommen kann.

Diese auf Fernwirkung angelegte Bühnenform fordert einen „Helden“ im emphatischen Sinn, der sich vom „mittleren Charakter“ im aufklärerischen bürgerlichen Theater ebenso abhebt wie vom „starken Kerl“ des Sturm und Drang, in dem die „menschliche Natur als eine letztlich ‚gute’ gegen die ‚Unnatur’ der Konventionen triumphiert“.586 Der Held des großen musikalischen Dramas eines Metastasios oder auch in den Balletten von Noverre

„erleidet die Leidenschaften noch als Passionen: er hat mit ihnen zu kämpfen, sieht sich in einen Konflikt versetzt zwischen ihnen und der durchaus als Wertinstanz verstandenen Vernunft, die ihm in den gesellschaftlichen Normen als Pflicht, Ehre oder Ruhm unbezweifelt vor Augen stand.“587

Die Pointe in den Räubern besteht ja gerade darin, daß Karl aus einer weiterhin gültigen Norm heraus handelt, er die Vaterordnung „trotz allem als alleinverbindliches Rechtsprinzip anerkennt“, wie Hans Richard Brittnacher in seiner Interpretation der Räuber im Schiller-Handbuch konstatiert588. Zu der opernhaft-heldischen Konstitution der Figur gehören das Attribut des Schwertes und die vielen aus der Oper entlehnten mythologischen Anspielungen der Räuber und Amalies („so lehre mich Dido sterben“; V, 2). Anders als in Lessings Dramen, die auf den Akt der Identifizierung zwischen Zuschauer und Bühnenfiguren setzen, sollen die Räuber Entsetzten, Schauder, Schrecken, Erstaunen und Bewunderung hervorrufen. Das setzt jedoch die Distanz zum Rezipienten voraus, die Nicht-Gleichheit zwischen Publikum und Dargestelltem. Daher lautet Michelsens Fazit:

„Schiller erweckt damit jenen elementaren Sinn des Theaters, wie er in den Opernaufführungen seiner Jugend zu höchster Entfaltung gelangte, in

584 Ebd., S. 53. – Neben den Beispielen der Oper des 18. Jahrhunderts, die Michelsen anführt, läßt sich auch auf den Weltenbrand am Ende Götterdämmerung verweisen, mit dem Wagner in einer alten Operntradition steht.

585 Wilhelm Große: Friedrich Schiller: Die Räuber. Grundlagen und Gedanken zum Verständnis des Dramas. Frankfurt am Main 1986, S. 76.

586 Michelsen, S. 53.

587 Ebd. – Wilhelm Große spricht in diesem Zusammenhang von einer „opernmäßigen Überdimensionierung der Gestalten“ (Große, S. 79).

588 Hans Richard Brittnacher: Die Räuber. In: Schiller-Handbuch (wie Anm. 554), S. 326-353, hier S.

329.

naiver Unbekümmertheit an der Schauspielbühne seiner Zeit wieder zum Leben.“589

Jörg Krämer ordnet die Opernhaftigkeit der Räuber, die einen entscheidenden Anteil an deren großem Erfolg hatte590, in den ästhetischen und theaterpraktischen Kontext der Zeit ein. In dem von Michelsen analysierten konkreten Beispiel der Räuber zeigt sich der Einfluß des Musiktheaters als faktische Realität auf die weitere Entwicklung des deutschen Dramas, die weit stärker ausfällt, als in der Fachperspektive meist bewußt ist. Als übergeordnete Funktion des theaterpraktischen und ästhetischen Vorbilds der Oper identifiziert Krämer die Diskussion um ein neues Verständnis von Subjektivität:

„Nicht der Roman oder die Formen der ‚bürgerlichen’ Sprechdramatik, sondern das deutsche Musiktheater bildet ab den 1770er Jahren das breiteste, massenwirksamste Forum, auf dem ein neues Verständnis von Subjektivität sich konstituiert und diskutiert wird.“591

Schillers Anreicherung des Dramas mit Elementen der Oper und des Balletts kann als eine Antwort auf die Krisensituation des damaligen Sprechtheaters gesehen werden, wie Brittnacher resümiert. Dabei bescheinigt er Michelsen eine „imponierende Gründlichkeit“, mit der dieser deutlich machen könne, wie die „Dramaturgie des Dramas bis in die Details der Gebärdensprache, der Requisiten und des choreographischen Arrangements dem suggestiven Vorbild von Oper und Ballett verpflichtet blieb.“592 Brittnacher, der über Michelsens Bestandsaufnahme des opernhaften Inventars in den Räubern hinausgeht593, sieht in dieser Charakteristik von Schillers Drama ein Antwort auf die. Mit dem Rückgriff auf das Modell Oper kann dem Theater seine „kultische Dimension“ zurückgegeben werden:

„Denn als dramatische Antworten auf zeitgenössische Entwicklungen krankten Aufklärung und Sturm und Drang an beträchtlichen Defiziten.

Das Drama der Aufklärung drohte, sich zu einem dürren, moraldidaktischen Thesentheater zu entwickeln, während das Drama des Sturm und Drang Gefahr lief, bei der Kompensation dieses Mangels an Sinnlichkeit zum Rührstück oder zum Spektakel zu verkommen. Dem gerade aufgeklärten und bürgerlich gewordenen Theater eroberte Schillers virtuose und effektsichere Theatralik seine kultische Dimension zurück.“594

589 Michelsen, S. 56.

590 Krämer, S. 31.

591 Ebd., S. 7.

592 Brittnacher, S. 326.

593 „Michelsen fragt nach dem Inventar der pathetischen Kritik des Stücks und ihrer Wirkung, nicht nach ihrem Objekt und noch weniger nach ihrer Legitimität. Er beweist ihre Wirkungskraft vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Repräsentationskultur, ohne zu problematisieren, inwiefern die Einschmelzung gattungsexterner Techniken affektischer Anreicherung dem Theater in einer Krisensituation zu der dringlich benötigten Innovation verhalf.“ (Brittnacher, S. 327) 594 Ebd. Schiller brachte in den Räubern zwei geläufige mit zwei obsoleten Traditionen des Theaters

zusammen: Die „unverstellte Krudität des Sturm und Drang und die schneidende Aggressivität des

Im Hinblick auf das Modell Oper, wie es in dieser Studie untersucht wird, läßt sich für Schillers Drama Die Räuber die Relevanz fast aller in der Systematik erläuterten Diskurs-Kategorien zeigen. Die Kategorie Skalierung von Opernhaftigkeit bezieht sich auf den gegenüber dem Schauspiel gesteigerten der Affektausdruck, der in den Räubern mit den Mitteln der Oper erzielt wird: im rhetorischen, mit Requisiten untermalten Sprechen und den pathetischen Gesten. Diese gehören, zusammen mit den Mitteln der pantomimischen Darstellung, der Tableau- und der Kontrast-Dramaturgie, auch zu der Kategorie der Visualität und szenischen Präsentation. Die betonten Szenenschlüsse, aber auch der Brand des Schlosses am Dramenende sind Elemente der Kategorie Opernfinale. Die historische Kategorie der Unwahrscheinlichkeit kommt in Schillers Negierung des aufklärerischen Wahrscheinlichkeitspostulats und seinem in der Tradition der Dramen Metastasios oder der Ballette Noverres konzipierten Helden Moor zum Tragen.595 Auch läßt sich von einer hohen Librettotauglichkeit von Schillers Dramen sprechen, die beliebte Vorlagen für die Oper des 19. Jahrhunderts waren. Ethery Inasaridse hat in einer Studie zu Schiller und die italienische Oper596, in der es um zu Libretti umgearbeiteten Dramen von Schiller geht, vor dem Hintergrund von dessen Ästhetik die Dramen im Hinblick daraufhin untersucht, wie diese opernhaft gestaltet sein könnten. Daraus läßt sich die besondere Attraktion für die Vertonung von Schillerdramen begründen. Schließlich ist der Gesang zu nennen, der in den Räubern als Bühnenmusik zur effektsicheren Charakterisierung von Personen und Steigerung der Kontrastwirkung eingesetzt wird. Die Lieder, die Karl Moor und Amalie zugeordnet sind, schöpfen aus dem klassischen Fundus (Karl Moor: Cäsar und Brutus, IV, 5;

Amalies: Hektor und Andromache, II, 2 und IV, 5) und bezeichnen ihre Grundkonflikte: den zwischen Sohn und Vater (Moor) und den zwischen Mann und Frau (Amalie). Unterstrichen wird die Bedeutung beider Lieder durch den Kontrast zu dem vulgären Lied der Räuber

„Stehlen, morden, huren, balgen“ (IV, 5), das zwischen Amalies Hektor-Lied im Garten und Karls den nächtlichen großen Monolog einleitenden Brutus-Lied plaziert ist. Diese Übersicht zu den Diskurs-Kategorien der Oper, die sich in den Räubern identifizieren lassen, zeigt die Breite der Rezeption der Oper als Modell für Schillers Drama.

3.3.2 Schiller um 1800: Oper als Modell für die Wiederbelebung der antiken