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III. Nutzen und Gebrauchswerte von Mobiltelefon und Internet

3. Gesundheit und Wohlbefinden

Mehrere Studien haben die Wirkung von modernen Informations- und Kommunikati-onstechnologien auf die Gesundheit von wohnungslosen Menschen bereits untersucht (e.g. Alemagno et al. 1996; Barman-Adhikari und Rice 2011; Eyrich-Garg 2010; Kara-banow und Naylor 2010; McInnes et al. 2014a, 2014b, 2015; Rice 2010; Rice et al.

2010, 2012b; Young und Rice 2011). Untersucht wurden beispielsweise Effekte der Mediennutzung auf die körperliche und auf die seelische Gesundheit (e.g. Eyrich-Garg 2010), die Bedeutung des Internet als Informationsmedium zur Prävention sexuell übertragbarer Krankheiten (e.g. Rice 2010) sowie die Wirkung konkreter medienge-stützter Interventionsmöglichkeiten in der medizinischen Langzeitbehandlung woh-nungsloser Menschen (e.g. McInnes et al. 2014a und 2014b).

a) Sexuelle Gesundheit

Wohnungslose Menschen nutzen das Internet unter anderem, um Beziehungs- und Sexualpartner_innen zu finden (McInnes et al. 2015; Young und Rice, 2011). Bei einer Befragung zur Nutzung von Online Social Networking Technologies gab rund ein Vier-tel (23 Prozent) der befragten wohnungslosen Menschen an, in den letzten drei Mona-ten online Sexualpartner_innen kennengelernt zu haben (vgl. Young und Rice 2011:

256). Insbesondere junge Wohnungslose suchen online Informationen zur sexuellen Gesundheit und zu sexuell übertragbaren Infektionen (vgl. Young und Rice 2011). Eine Befragung von 169 jungen wohnungslosen Menschen in Los Angeles ergab, dass das Internet eine wesentliche Informationsquelle im Kontext sexuell übertragbarer Krank-heiten und Gesundheit darstellt:

„Approximately half of the sample reported looking for HIV or other STI related information, and 62% of respondents reported using the Internet to find answers to general health questions.“ (Barman-Adhikari und Rice 2011: 95)

Vor diesem Hintergrund kann angenommen werden, dass das Internet förderlich und präventiv auf die sexuelle Gesundheit junger wohnungsloser Menschen wirkt. Es

72 scheint ein positiver Zusammenhang zwischen dem zum Teil internetgestützten Kon-takt zu „pro-social home-based peers“ und dem Gebrauch von Kondomen zum Zwe-cke der Gesundheitsprävention zu bestehen (Rice 2010: 589). Andererseits nutzen wohnungslose Menschen das Internet auch, um dort multiple Sexualpartner_innen zu finden (a.a.O.: 90), was letztlich ein Risiko für die sexuelle Gesundheit darstellen könnte. Ob das Internet für die sexuelle Gesundheit wohnungsloser Menschen positive oder negative Wirkungen entfaltet, scheint letztlich davon abzuhängen, mit wem die wohnungslosen Menschen konkret via Internet in Kontakt kommen.

Eine Untersuchung zum Zusammenhang des Risikoverhaltens junger wohnungsloser Menschen und deren Internetnutzungsverhalten zeigte, dass die Nutzung von online Netzwerken, um dort über Liebe und Safer Sex zu sprechen, das Wissen über HIV steigern kann, die Häufigkeit von „exchange sex“ dadurch abnimmt und auch die Teil-nahme an Tests zu sexuell übertragbaren Krankheiten zunehmen kann (vgl. Young und Rice 2011: 255). Auch ist beschrieben, dass der Kontakt junger wohnungsloser Menschen zu nicht-drogennutzenden „home-based peers“ sich positiv auf das Drogen-Nutzungsverhalten der wohnungslosen Menschen auswirkt und beispielsweise zu sin-kendem Alkoholkonsum führen kann (vgl. Rice et al. 2011b). Ebenso wirkt sich Kontakt zu Familie, Freund_innen und Gesundheitsversorgern positiv auf die physische und psychische Gesundheit von wohnungslosen Menschen aus (Eyrich-Garg 2010: 366).33

“Research has shown that social capital has an impact on health and well-being: The less social capital one accrues, the more likely one is to report poor or fair health (Cattell 2001)” (Oliver und Cheff 2014: 646) b) Seelische Gesundheit

Es wird wiederkehrend beschrieben, dass der Zugang zu Mobiltelefonen und dem In-ternet sich positiv auf das seelische Wohlbefinden wohnungsloser Menschen auswir-ken kann. Mobiltelefone vermitteln wohnungslosen Menschen, die häufig Opfer von Übergriffen und Gewalt sind oder immer wieder gesundheitliche Krisensituationen er-fahren (siehe dazu Kapitel 9), ein elementares Sicherheitsgefühl, da sie mit diesen

33 Rice et al. (2012: 693) verweisen darauf, dass es sowohl Untersuchungen gibt, die belegen, dass die sozialen Kontakte wohnungsloser Menschen sich förderlich auf die Lebens- und Gesundheitsumstände auswirken, als auch Belege dafür, dass sie sich negativ niederschlagen. Welcher Effekt zu erwarten ist hängt wohl stark davon ab, ob die konkreten Kontakte gesundheitsförderliche oder risikoreiche Verhal-tensweisen an den Tag legen. Wie bereits beschrieben, können sich beispielsweise destruktive Bezie-hungen zu Familienmitgliedern auch als Stressoren auswirken.

73 Geräten jederzeit Rettungskräfte oder Freund_innen und Bekannte kontaktieren kön-nen (Eyrich-Garg 2010). Darüber hinaus geben Mobiltelefone wohnungslosen Men-schen, die Möglichkeit in Kontakt mit Familienmitgliedern zu bleiben, wodurch sich das Gefühl der Verletzlichkeit und Hilfslosigkeit reduzieren und damit positiv auf das seeli-sche Wohlbefinden auswirken kann:

„Even if family members are unable to provide housing or financial help, the emotional support received from ‚staying in touch‘ is important to people who find themselves in vulnerable situations with a dearth of options.“ (LeDantec 2008: 26)

Miller et al. (2005) untersuchten in einem Pilotprojekt, das Bewohner_innen einer Langzeiteinrichtung für wohnungslose Menschen Zugang zu Computern und Anleitung bei der Nutzung bot, die Wirkungen der Computernutzung. Insgesamt berichteten die Teilnehmenden von einer Steigerung des Selbstwertgefühls sowie einem erhöhten Er-leben von Selbstwirksamkeit (Miller et al. 2005: 194f.). Die im Rahmen des Projekts neu erworbenen digitalen Kompetenzen beförderten das Selbstwertgefühl der woh-nungslosen und veränderten deren Selbstwahrnehmung zum Positiven. In diesem Sinne hatte die Computernutzung einen positiven Einfluss auf das seelische Wohlbe-finden der wohnungslosen Menschen. Muggleton und Ruthven (2012) verweisen da-rauf, dass insbesondere junge wohnungslose Menschen oft Schwierigkeiten haben, ein gutes Selbstwertgefühl aufzubauen und zu erhalten:

„Self-esteem issues can be especially difficult for the homeless, and particularly homeless young people, as they have become discon-nected from their previous lifestyle and have often lost trust in people important to them, as well as with wider society (Slesnick et al. 2008, p.

728).“ (Muggleton und Ruthven 2012: 222)

Sie sehen in der Nutzung digitaler Medien zwei weitere Möglichkeiten, das seelische Wohlbefinden wohnungsloser Menschen zu steigern: Zum einen ermöglichen die Me-dien ihnen durch Lesen, Lernen und Reflexion („learning about oneself“) eine Gele-genheit, das Selbstwertgefühl zu steigern und auch mit seelischen Belastungen besser umzugehen (a.a.O.: 233). Lesen wird von befragten wohnungslosen Menschen immer wieder als eine Form der „Therapie“ wahrgenommen (a.a.O.: 233). Zum anderen bie-ten digitale Medien, durch ihren immersiven Charakter aber auch die Möglichkeit einer

„Wirklichkeitsflucht“ („escapism“) und können damit helfen, erlebten Stress abzubauen (siehe dazu auch Kapitel 12).

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"In the context of social isolation, unpleasant living conditions and trau-matic life events, both past and present, the ability to switch off and distract oneself can be a vital corollary of serving more basic needs for food, clothing and shelter." (Muggleton und Ruthven 2011: 234)

c) Unterstützung der Gesundheit durch digitale Hilfsangebote

Neben den möglichen positiven gesundheitlichen Wirkungen digitaler Medien für woh-nungslose Menschen, die sich aus deren Nutzung selbst heraus ergeben, wurden aber auch bereits konkretere digitale Hilfsangebote erprobt und wissenschaftlich begleitet:

McInnes et al. (2014b) erforschten experimentell die Wirkung von digitalen Appoint-ment Remindern, die eingesetzt wurden, um sich proaktiv nach dem Wohlbefinden von wohnungslosen Veteranen zu erkundigen, die für eine längere Zeit keine medizinische Beratung mehr in Anspruch genommen hatten oder, um an bestehende Behandlungs-termine zu erinnern. Hierzu wurden SMS-Nachrichten an Personen verschickt, die in der Vergangenheit bereits medizinische Hilfe in Anspruch genommen hatten, zu denen jedoch seit längerem kein Kontakt mehr bestand:

“We were wondering how you are doing because we haven’t seen you in a while? It would be great to see you. Please call xxx-xxx-xxxx to set up an appointment.” (McInnes 2015b: 11)

Diese digitale Fortführung der Idee aufsuchender Sozialarbeit wurde insbesondere von wohnungslosen Personen mit psychischen Schwierigkeiten als wertvoll beschrieben (ebd.). Das Gefühl, grundsätzlich soziale Unterstützung erhalten zu können und damit ein Gefühl von Zugehörigkeit zu erfahren, wirkt sich offenkundig positiv auf das seeli-sche Wohlbefinden wohnungsloser Menseeli-schen aus. Oliver und Cheff (2014) verweisen ebenfalls auf den Zusammenhang zwischen Sozialkapital, dem Gefühl, Hilfe in An-spruch nehmen zu können und dem Gefühl von Kontrolle, die letztlich wieder in einem Zusammenhang zum seelischen Wohlbefinden stehen:

„According to Dunn (2000), one of the benefits of having access to so-cial capital in the form of soso-cial networks is that individuals become aware that others will be there to assist them in times of need, thereby elevating self-esteem and sense of control.“ (Oliver und Cheff, 2014:

643)

Mehrere Untersuchungen beschäftigen sich mit den Möglichkeiten von Tele Health, das heißt der medizinischen Versorgung auch von wohnungslosen Menschen mithilfe digitaler Medien (e.g. Alemagno et al. 1996; Eyrich-Garg 2010; McInnes, et al. 2014a, 2014b; Rice et al. 2012b; Freedman et al. 2006). In diesem Kontext liegt der besondere

75 Wert der digitalen Medien darin, eine orts- und zeitunabhängige Versorgung und Be-treuung wohnungsloser Menschen zu ermöglichen.

„Cellular telephones […] can be useful tools in assessing for the health-service needs of difficult-to-reach populations“ (Alemagno et al. 1996:

1626).

Die Idee von Tele-health-Projekten für wohnungslose Menschen knüpft an die Be-obachtung an, dass viele wohnungslose Menschen bereits Mobiltelefone nutzen, um Kontakt zu Sozialarbeiter_innen, Fallmanager_innen, dem Gesundheitssystem und Psychiater_innen zu halten (vgl. McInnes et al. 2015). Der asynchrone Charakter von Textmessaging bietet den Betroffenen in diesem Kontext die Möglichkeit, flexibel, d.h.

zeitversetzt, auf das Gesundheitssystem zu reagieren.

„The Internet as a technological tool, however, can be seen to depart from these other ICTs in new and novel ways by not only compressing but extending time and space, allowing asynchronous communication possibilities to take place at undetermined times and sequences” (Kar-abanow und Naylor 2010: 166)

Eyrich-Garg verweist darauf, dass sich Chatberatung und Onlinemodule in verschie-denen anderen Gesundheitskontexten (Alkoholmissbrauch, Depression, Übergewicht, Krebs, chronische Schmerzen, HIV) empirisch belegt als durchführbar und für viele Adressantengruppen als effektiv erwiesen haben (2011: 302).

4. Gesellschaftliche Integration und Minderung des subjektiven

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