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Europäische und deutsche Begriffsbestimmungen von Wohnungslosigkeit im Vergleich Vergleich

II. Relevanz der Begriffsbestimmung moderner Wohnungslosenhilfe

1. Europäische und deutsche Begriffsbestimmungen von Wohnungslosigkeit im Vergleich Vergleich

In Deutschland richtet sich die Definition von Wohnungslosigkeit in aller Regel nach dem Vorschlag der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe aus ihrem Posi-tionspapier von 2010 (siehe BAG W 2010). Diese versteht unter wohnungslosen Men-schen Personen, die nicht über einen mietvertraglich abgesicherten Wohnraum verfü-gen. Von Wohnungslosigkeit betroffene Personen sind im Verständnis der BAG W da-nach insbesondere Menschen

„im ordnungsrechtlichen Sektor, die aufgrund ordnungsrechtlicher Maß-nahmen ohne Mietvertrag, d. h. lediglich mit Nutzungsverträgen in Wohnraum eingewiesen oder in Notunterkünften untergebracht werden [sowie Personen] im sozialhilferechtlichen Sektor, die ohne Mietvertrag untergebracht sind, wobei die Kosten nach Sozialgesetzbuch XII und/oder SGB II übernommen werden, die sich in Heimen, Anstalten, Notübernachtungen, Asylen, Frauenhäusern aufhalten, weil keine Wohnung zur Verfügung steht, die als Selbstzahler in Billigpensionen leben, die bei Verwandten, Freunden und Bekannten vorübergehend unterkommen, die ohne jegliche Unterkunft sind, ‚Platte machen‘ [und auch] Aussiedler, die noch keinen Mietwohnraum finden können und in Aussiedlerunterkünften untergebracht sind. “ (BAG W 2020)

Straßenobdachlosigkeit wird nicht eigens definiert, sondern wird als eine besondere Unterform von Wohnungslosigkeit verstanden. Die Begriffsbestimmung der BAG W hat einen formal-juristischen Charakter, da sie den fehlenden eigenen Mietvertrag als zentrales Merkmal von Wohnungslosigkeit heranzieht. Während einige spezielle For-men von Wohnungslosigkeit, wie z.B. „Pensionbewohner_innen“, konkret benannt werden, finden andere gängige Formen von Wohnungslosigkeit, wie z.B. das Über-nachten in Abbruchhäusern, keine gesonderte Erwähnung. Insofern liefert die Begriffs-bestimmung von Wohnungslosigkeit der BAG W einen brauchbaren ersten juristi-schen/verwaltungstechnischen Halt, beschreibt deren Vielfältigkeit und Komplexität je-doch nicht umfassend genug.

Ein weitergehender Personenkreis lässt sich der Definition der sogenannten „Woh-nungsnotfälle“ der BAG W entnehmen, welche auch Personen erfasst, die „unmittelbar

108 von Wohnungslosigkeit bedroht sind“ (Kündigung durch Vermieter_in) in „unzumutba-ren Wohnverhältnissen leben“ (Substandardwohnungen, Überbelegung, fehlende sa-nitäre Ausstattung), „Zuwander_innen in gesonderten Unterkünften“ und auch Perso-nen, die „ehemals von Wohnungslosigkeit betroffen oder bedroht waren, mit Normal-wohnraum versorgt wurden und auf Unterstützung zur Prävention von erneutem Woh-nungsverlust angewiesen sind“ (BAG W 2010).

In der deutschen Praxis der Sozialarbeit haben sich darüber hinaus über viele Jahre hinweg einige eigene Versuche der Typologisierung und Kategorisierung von Woh-nungslosigkeit und Obdachlosigkeit ergeben, die über eine formale/juristische Bestim-mung hinausreichen, da auch sie spezifische Prozesse und Mechanismen im Kontext von Wohnungslosigkeit beschreiben.

Auf europäischer Ebene unternimmt die Dachorganisation der europäischen Woh-nungslosenhilfe FEANTSA (Fédération Européenne d'Associations Nationales Travaillant avec les Sans-Abri) mit der sogenannten ETHOS Typologie den Versuch einer Begriffsbestimmung, von „Homelessness and Housing Exclusion“. Diese euro-päische Definition wird nachfolgend mit den Begriffsbestimmungen von Wohnungslo-sigkeit und Wohnungsnot der BAG W verglichen (siehe Tabelle 3). Dabei wird der Ver-gleich zusätzlich mit Terminologien der deutschen Praxis der Wohnungslosenhilfe und der deutschsprachigen Fachliteratur vervollständigt. Ziel dieses Vergleichs ist es, die Beschreibungen von Wohnungslosigkeit wechselseitig zu vervollständigen, um eine möglichst breite Erfassung des sozialen Armutsphänomens von Wohnungslosigkeit zu gewährleisten. Hieraus entsteht eine dichtere Beschreibung der untersuchten Perso-nengruppen und eine Beschreibung von Subgruppen in der Wohnungslosigkeit, deren Unterscheidung wichtig ist, um zu einem späteren Zeitpunkt die Ergebnisse zur Nut-zung von Mobiltelefon und Internet sinnvoll interpretierbar zu machen. An Sollbruch-stellenstellen der Begriffsbestimmungen und Kategorisierungen werden eigens erho-bene qualitative Daten als Ankerbeispiele eingesetzt, um die Grenzen der formalen Begriffsbestimmungen zu verdeutlichen. Es wird sich dabei zeigen, dass eine Bezeich-nung der Personengruppe, die mit der WohBezeich-nungslosenhilfe in Kontakt kommt, als

„Menschen mit Lebensmittelpunkt auf der Straße“ deren soziale Wirklichkeit am zu-treffendsten beschreibt. Der Begriff der „Menschen mit Lebensmittelpunkt Straße“ stellt die gemeinsame Klammer dar, die alle in den Typologien und Begriffsbestimmungen aufgeführten Personengruppen umschließt.

109 2. Die Komplementierung der „European Typology on Homelessness and Hou-sing Exclusion“ mit der deutschen Perspektive

Die FEANTSA unterscheidet in ihrer Typologie von Wohnungslosigkeit und Woh-nungsexklusion (ETHOS) grundsätzlich vier Hauptformen von Wohnungslosigkeit mit entsprechenden weiteren Unterdifferenzierungen: Neben Obdachlosigkeit, also dem Nächtigen im öffentlichen Raum zum Beispiel unter Brücken auf Parkbänken, in Ver-schlägen und ähnlichem sowie dem Wohnen in Notunterkünften (in der Regel nied-rigschwellige Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe) werden im Hinblick auf Woh-nungslosigkeit fünf Unterformen von beschrieben.

Dazu zählen das Wohnen in Wohnungsloseneinrichtungen (Übergangswohnheime, Asyle/Herbergen, Übergangswohnungen), in Frauenhäusern, in Einrichtungen für Ausländer_innen (Aufnahmeeinrichtungen für „Flüchtlinge“ und andere Zuwande-rer_innen, Auffangstellen, Gastarbeiterquartiere) und Dauereinrichtungen für Woh-nungslose. Auch Menschen, die aus Institutionen (z.B. Strafvollzugsanstalten oder Re-habilitationseinrichtungen) entlassen werden und keine eigene Wohnung haben, ge-hören dieser Typologie folgend zur Gruppe der wohnungslosen Menschen (vgl.

FEANTSA 2020). Die beiden Hauptkategorien „obdachlos“ und „wohnungslos“ der ETHOS decken die Kernnutzergruppen der deutschen Wohnungslosenhilfe weitge-hend ab. Sie bilden die wesentliche Überschneidungsfläche zur deutschen Definition von Wohnungslosigkeit der BAG W.

„In Germany, the determining factor for being considered homeless is tenancy. If there is no fixed tenancy, then a person does not have a

‚home‘. So homeless counts in Germany now include only people in supported housing with insecure tenancies. And people from all other ETHOS categories are registered as homeless.“ (FEANTSA 2006: 7)

Bei den oben beschriebenen Personengruppen liegt nach deutschem Verständnis deshalb Wohnungslosigkeit vor, da sie über keinen eigenen Mietvertrag verfügen. Das deutsche System der Wohnungslosenhilfe mit seinen verschiedenen ambulanten, sta-tionären oder auch niedrigschwelligen und aufsuchenden Hilfsangeboten adressiert überwiegend diese Personengruppe. Die Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe rich-ten ihre Angebote insbesondere nach diesen Gruppen aus und werden für Hilfsange-bote finanziert, die Personen helfen, „bei denen besondere Lebensverhältnisse mit so-zialen Schwierigkeiten verbunden sind“ (§ 67 SGB XII). Personen dieser beiden Kate-gorien, die diese Angebote der Wohnungslosenhilfe in Anspruch nehmen, sind es die

110 beispielsweise über die integrierte Wohnungsnotfallberichterstattung oder den DzW statistisch erfasst werden. Sie werden in der deutschsprachigen Fachliteratur als Fälle von „sichtbarer“ (vgl. Enders-Dragaesser 2000: 96) oder auch „manifester“ Wohnungs-losigkeit (vgl. Geiger und Steinert 1997) beschrieben.

a) Spannungsverhältnis ungesichertes Wohnen

Die ETHOS der FEANTSA beschreibt darüber hinaus noch die Oberkategorie des so-genannten „ungesicherten Wohnens“, also ein Leben in ungesicherten Wohnverhält-nissen. Darunter fällt beispielsweise konkret das temporäre Wohnen bei Familie oder das Nächtigen bei Freund_innen oder Bekannten, Hausbesetzung, Bedrohung durch Zwangsräumung oder auch das Wohnen in einer Wohnung, in der seelischen oder körperlichen Gewalt droht. Im letzten Fall liegt zwar noch eine Übernachtungs- und Wohngelegenheit vor, dieses Verhältnis ist jedoch rechtlich d.h. mietvertraglich nicht ausreichend gesichert oder faktisch von einer jederzeitigen Aufgabe bedroht, um nicht Opfer von Gewalt zu werden. In die Kategorie des „ungesicherten Wohnens“ fallen ebenso Personen, gegen die ein Räumungsurteil ergangen ist oder denen eine Zwangsversteigerung bevorsteht. Menschen, die sich nach der ETHOS als Personen mit „ungesichertem Wohnen“ eingruppieren lassen, gehören in der Praxis der Woh-nungslosenhilfe ebenfalls zum Nutzerkreis der sozialarbeiterischen Angebote, auch wenn sie nach formaler Definition (noch) nicht wohnungslos sind. In der Definition von Wohnungsnotfällen der BAG W werden Personen, bei denen ein Verlust der derzeiti-gen Wohnung unmittelbar aufgrund von Kündigung oder sonstiderzeiti-gen zwinderzeiti-genden Grün-den (z.B. Gewalt) bevorsteht, als „unmittelbar von Wohnungslosigkeit bedroht“ be-schrieben (vgl. BAG W 2010).

b) Spannungsverhältnis latente Wohnungslosigkeit

In der deutschsprachigen Fachliteratur werden diese beschriebenen Personengrup-pen („ungesichertes Wohnen“; „unmittelbar von Wohnungslosigkeit bedroht“) häufig auch als „latent wohnungslose“ Menschen bezeichnet und damit von Menschen abge-grenzt, deren Wohnungslosigkeit schon als „manifest“ verstanden wird (Geiger und Steinert 1997: 330). Unter manifester Wohnungslosigkeit fassen Geiger und Steinert (1997) „eine offensichtliche und vom Hilfe- und Kontrollsystem wahrgenommene Woh-nungslosigkeit“. Bei von latenter Wohnungslosigkeit Betroffenen handelt es sich hin-gegen beispielsweise um Menschen,

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„[…] bei denen der Mietvertrag der Wohnung […] nicht auf sie selbst, sondern auf den Ehemann, den Partner, den Vater u. ä. lautet. [Sie]

leben in der ‚eigenen‘ Wohnung. Dennoch können auch sie unmittelbar und kurzzeitig von einem Wohnungsverlust betroffen sein, z.B. im Fall eines Beziehungskonfliktes bzw. Beziehungsverlustes oder wenn das Mietverhältnis durch Überschuldung oder Fehlverhalten des Woh-nungsinhabers gefährdet ist, weil es für sie persönlich keine Rechts-grundlage für ein Verbleiben in der Wohnung gibt.“ (Enders-Dragaesser 2000: 100).

„Latent wohnungslose“ Personen stehen damit sozusagen an der Schwelle zur „mani-festen Wohnungslosigkeit“.

In der praktischen Sozialarbeit entsteht häufig eine Schnittstelle zwischen Wohnungs-losenhilfe und anderen sozialarbeiterischen Arbeitsfeldern. Dies ist beispielweise bei den sogenannten „care leavern“ der Fall (vgl. Sievers 2019). Dabei handelt es sich um Jugendliche und junge Erwachsene, die das System der Jugendhilfe aufgrund ihres Alters verlassen müssen und an das Hilfesystem der Wohnungslosenhilfe geraten, weil sie keinen eigenen mietvertraglich gesicherten Wohnraum finden können (vgl.

ebd.). In der ETHOS werden diese Menschen als „wohnungslos“ kategorisiert (Siehe Tabelle 3, Nr. 6.3). Sie „fallen nicht mehr unter die Jugendwohlfahrt, bleiben aber wei-terhin im Heim, weil keine andere Wohnmöglichkeit zur Verfügung steht“ (vgl. ETHOS).

Insbesondere Frauen fallen häufig unter die Kategorie der „latenten Wohnungslosig-keit“ bzw. des „ungesicherten Wohnens“, da ein provisorisches Wohnen bei Freund_innen, Bekannten oder Wohnungsfreiern empirisch betrachtet eine typische Coping Strategie von Frauen darstellt, um Obdachlosigkeit oder „manifester Woh-nungslosigkeit“ zu entgehen (vgl. Hniopek 2012: 527; Rosenke 2018a; Hauprich 2019b).

„Als latent wohnungslos galten […] Frauen, die in prekären Wohnver-hältnissen lebten bzw. kurzfristig von Wohnungslosigkeit bedroht wa-ren. Damit waren zum einen die Frauen gemeint, die bei Bekannten, Freunden untergekommen waren und die dort in finanzieller und/oder sexueller Abhängigkeit aushielten.“ (Enders-Dragaesser 2000: 94).

Kommen Frauen bei sogenannten „Wohnungsfreiern“ oder “Sozialfreiern“ (vgl. Hni-opek 2012) unter, lässt sich ihre Situation in mindestens dreifacher Hinsicht als unge-sichert beschreiben: Erstens besteht kein eigener Mietvertrag, sodass der Anspruch auf Wohnraum schon rechtlich nicht abgesichert ist. Zweitens ist die provisorische Wohnsituation vom Erbringen (sexueller) Dienstleistungen abhängig, weshalb das Fortbestehen der Wohnmöglichkeit von deren kontinuierlicher Bedienung abhängig ist

112 sind. Und drittens sind Beziehungen zwischen wohnungslosen Frauen und den „Sozi-alfreiern“ häufig von seelischer oder körperlicher Gewalt geprägt (vgl. Hauprich 2019b;

Enders-Dragaesser 2000), sodass das eigenständige Aufgeben der Wohnmöglichkeit im Falle ausufernder Gewalt ebenfalls hinzukommt.42

c) Spannungsverhältnis verdeckte Wohnungslosigkeit

Sind wohnungslose Menschen durch solche Konstellationen und Übernachtungsar-rangements zudem bestrebt, ihre Wohnnotsituation gegenüber der Mehrheitsgesell-schaft zu verdecken, um Stigmatisierungsprozessen zu entgehen, spricht man in Deutschland auch von „verdeckter Wohnungslosigkeit“ (vgl. Enders-Dragaesser 2000:

98ff.). Verdeckte Wohnungslosigkeit kann der FEANTSA folgend auch als ein „unge-sichertes Wohnen“ verstanden werden. Geiger und Steinert (1997: 330) sehen in der latenten Wohnungslosigkeit hingegen eine Unterform verdeckter Wohnungslosigkeit, die sich durch prekäre Wohnverhältnisse d.h. durch mietrechtlich ungeschützte Unter-künfte oder ein „hohes Maß an persönlicher Abhängigkeit“ auszeichnet. Sie begründen diese Unterordnung jedoch nicht und grenzen die „verdeckte“ und „latente“ lediglich gegen die „manifeste“ Wohnungslosigkeit ab.

In der Definition von Wohnungsnotfällen der BAG W wiederrum bilden die „konfliktbe-ladenen und von Gewalt geprägten Lebensumstände“ eine Form „unzumutbarer Wohnverhältnissen“ (siehe Tabelle 3, C.7). An diesem Beispiel wird deutlich, dass ins-besondere in der deutschen Fachliteratur bestimmte Begriffe nicht immer einheitlich und trennscharf verwendet werden.

Die verdeckte Wohnungslosigkeit bei Männern wird bis heute kaum wissenschaftlich empirisch untersucht. Daher ist es streitbar, ob „verdeckte Wohnungslosigkeit“ als ein Alleinstellungsmerkmal wohnungsloser Frauen ein empirisches Artefakt darstellt, das aus dem Abgrenzungsprozess der Hilfen für wohnungslose Frauen in den 1990er Jah-ren als eigenständigem Arbeitsbereich stammt. Untersuchungen zur Frauenwoh-nungslosigkeit fokussieren häufig die Themen (sexualisierte) Gewalt und verdeckte Wohnungslosigkeit – wie ausgeprägt diese beiden Problematiken auch bei männlichen Wohnungslosen eine Rolle spielen, wird seltener untersucht. Lutz und Simon (2007)

42 Auch wenn ein Sich-in-persönliche-Abhängigkeiten-Begeben in der Fachliteratur wiederkehrend als idealtypischer Verarbeitungsmechanismus von wohnungslosen Frauen beschrieben wird, so fallen doch auch viele männliche wohnungslose Menschen unter diese Kategorie von „verdeckter“/ „versteckter“

oder „latenter“ Wohnungslosigkeit.

113 merken hierzu an, dass man der Kategorie „männliches Geschlecht“ in der Forschung zur Wohnungslosigkeit bislang kaum Beachtung geschenkt hat und daher nahezu keine empirischen Daten zu den Verursachungshintergründen von männlicher Woh-nungslosigkeit neben Armut, Arbeitslosigkeit und Deklassierungsprozesssen zur Ver-fügung stehen (Lutz und Simon 2007: 153). Der Zusammenhang zwischen „starren Männerrollen“, „Konfliktlösungsversuchen“, „männlichem Risikoverhalten“ und ver-deckter bzw. manifester Obdachlosigkeit ist bislang nicht erforscht (vgl. ebd.). An die-sem Beispiel wird deutlich, dass Typologien, Kategorie-Systeme und Begriffsbestim-mungen auch kulturell eingefärbt werden. Es ist davon auszugehen, dass sich auf diese Weise in wissenschaftliche Untersuchungen über die Jahre auch viele empiri-sche Artefakte eingeschlichen haben (vgl. dazu auch von Treuberg 1990).

d) Spannungsverhältnis verschämte Armut

Gerull (2011: 17) führt unabhängig von Wohnungslosigkeit die Begriffe der „verdeck-ten“ (bei Gerull 2018b: 34 auch „versteckte Wohnungslosigkeit“) und „latenten Armut“

als gemeinsame Kategorie ein. Von „verdeckter“, „latenter“ oder auch „verschämter Armut“ spricht man, wenn Personen die ihnen zustehenden Rechte auf Transferleis-tungen aufgrund von Angst vor Stigmatisierung oder Ausgrenzung durch die Mehr-heitsgesellschaft nicht in Anspruch nehmen (vgl. ebd.). Als eine besondere Form die-ser „verschämten Armut“ kann die Nicht-Nutzung von Angeboten der Wohnungslosen-hilfe verstanden werden. Auch in den Interviews der im Rahmen der für diese Unter-suchung durchgeführten eigenen Erhebung zur Mobiltelefon- und Internetnutzung durch Menschen mit Lebensmittelpunkt Straße, die in Einrichtungen der Wohnungslo-senhilfe durchgeführt wurden, beschreiben die Befragten, dass sie „eigentlich nicht hierhergehörten“ und dass sie sich selbst nicht als Nutzer_innen der Wohnungslosen-hilfe verstehen.

Die Dimensionen „verschämter Armut“ können nur erahnt werden (vgl. ebd.). Für den Bereich der Transferleistungen im Kontext Erwerbslosigkeit lässt sich zu dieser Prob-lematik feststellen, dass Erhebungen aus den 1990er Jahren und Studien aus den Zeiten vor Einführung des 2005 in Kraft getretenen SGB II belegen, dass nur etwa die Hälfte der potentiellen Leistungsberechtigten auch eine Hilfe in Anspruch nahm.

"So ergaben Untersuchungen Ende der 1990er Jahre, dass auf 100 So-zialhilfeempfänger/-innen 110 Menschen kamen, die ihre Ansprüche auf Leistungen des damaligen Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) nicht

114 wahrnahmen, dies entsprach einer Quote der Nicht-Inanspruchnahme

von 59 Prozent für das Jahr 1991 (Neumann/Hertz 1998)." (Gerull 2011:

17)

Dass sich ähnliche Phänomene auch in Bezug auf die Nicht-Nutzung der Wohnungs-losenhilfe zeigen würden, liegt nahe, ist jedoch bislang nicht empirisch belegt und lässt sich demnach nur mutmaßen. Empirische Studien, die sich mit Wohnungslosigkeit von Frauen beschäftigen, belegen jedoch immer wieder eindeutig Formen verdeckter Woh-nungslosigkeit bei Frauen, die auch als eine Form der Nicht-Nutzung des Systems der Wohnungslosenhilfe verstanden werden können (Enders-Dragasser 2000; Geiger und Steinert 1997 u.ä.).

Gerull (2011) führt mit dem Begriff der „verschämten Armut“ eine weitere wichtige Di-mension von Armut und Wohnungslosigkeit ein, nämlich das subjektive Empfinden von Armut, Scham und die Angst vor Stigmatisierung. Der Begriff der „verschämten Armut“

ist kein gänzlich neuer Begriff, sondern lässt sich bereits in spätmittelalterlichen Dis-kursen um die sogenannten „Hausarmen“ wiederfinden. Dort hatte er jedoch eine et-was andere Bedeutung denn:

„[…] mit dem Begriff der ‚verschämten Armen‘ [wurde] ein Kreis geson-dert hervorgehoben, womit dann speziell Menschen gemeint sind, die verarmt sind und daher die ihrem Stand entsprechende Lebensweise nicht führen können. Sie trachten aber danach, diese Verarmung zu verheimlichen, um die mit der standesgemäßen Lebensführung verbun-dene ‚Ehre‘ nicht zu verlieren.“ (Schneider 2017: 321f.)

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