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„Menschen mit Lebensmittelpunkt Straße“

III. Theorien Digitaler Ungleichheit: Stabile Phänomene und Wirkun- Wirkun-gen von Ungleichheit in Bezug auf eine sich wandelnde Technologie Wirkun-gen von Ungleichheit in Bezug auf eine sich wandelnde Technologie

3. Digital Gap III – Erwartete Gratifikation

In der ersten quantitativen Erhebung im Rahmen der vorgelegten Untersuchung aus dem Jahre 2016 gaben zusammengefasst 59 Prozent der Befragten an, das Internet sei „wichtig für ihren Alltag“. Lediglich ein Drittel der Befragten (34 Prozent) beschrie-ben, dass sie das Internet nicht gebrauchen, da sie „darin keinen Nutzen sehen“. Der überwiegende Teil dieser Gruppe aber vermutet in der Nutzung einen Mehrwert für den Alltag. In einer offenen Kategorie danach befragt, welchen größten Vorteil sie in der Nutzung dieser Technologien sehen, gab der überwiegende Teil der Befragten den

„Erhalt von sozialen Kontakten“ und eine grundsätzliche „Erreichbarkeit“ an. Zu den

163 größten Nachteilen wurden andererseits „unerwünschte Erreichbarkeit“ und Phäno-mene der „persönlichen Entfremdung“ gezählt.

Mithilfe des qualitativen Materials wird noch einmal ein genauerer Blick auf die Hinter-gründe der Nichtnutzung ermöglicht. Es zeigt sich im Material, dass eine Nichtnutzung des Internet durch die Befragten häufig im Zusammenhang mit einem nicht erwarteten oder fehlenden Gebrauchswert steht. An einigen Stellen werden auch grundsätzliche Bedenken der Interviewpartner_innen gegenüber dem Internet deutlich, von denen die erwartete Gratifikation ebenfalls gesteuert wird. Diese Befürchtungen führen nicht nur dazu, dass Menschen mit Lebensmittelpunkt Straße das Internet nicht nutzen, sondern dass sie sogar ganz bewusst die Nutzung von Digitalen Medien ablehnen und meiden.

Die „erwartete Gratifikation“, der „Gebrauchswert“ oder Nutzen, den man sich von ei-ner Internetnutzung verspricht, steht immer auch in Abhängigkeit zu den Befürchtun-gen und Vorbehalten geBefürchtun-genüber dem Internet. In Zilliens (vgl. 2009: 124) syntheti-schem Modell zur Digitalen Ungleichheit fallen unter die Kategorie der „erwarteten Gra-tifikation“ insbesondere die „Ziele der Internetnutzung“ aus dem Informationstechnolo-gischen Index nach Jung et al. (2001) sowie der „Motivational Access“ nach van Djik (2005). Als typische Gründe für eine bewusste Nicht-Nutzung führt van Djik (2005) Unbehagen und Befürchtungen gegenüber der neuartigen Technologie an:

„Van Dijk bezeichnet die Personen, die ihre Nichtnutzung des Internets damit begründen, dass sie keine Zeit zur Internetnutzung hätten, die pornographischen, kriminellen oder politisch extremen Inhalte des Net-zes ablehnten, das Medium Internet einfach nicht bräuchten oder grundsätzlich das Internet nicht nutzen wollten, als „want-nots“ (van Dijk 2005: 28ff.).“ (Zillien 2009: 118)

Um zu verstehen warum bestimmte Menschen mit Lebensmittelpunkt Straße das In-ternet nicht nutzen, ist es daher bedeutsam zu rekonstruieren, welche Vorbehalte die sogenannten „want-nots“ (vg. Van Dijk) mit Lebensmittelpunkt Straße gegenüber dem Internet haben. Einige in der Erhebung wiederkehrende Muster lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Ähnlich der Beschreibung von van Dijk (2005) kann auch für obdachlose und woh-nungslose Menschen festgestellt werden, dass ein zentraler Grund für die Nicht-Nut-zung des Internet darin besteht, dass die betreffenden Personen keinen unmittelbaren Nutzen einer Internetnutzung vermuten, die den notwendigen Aufwand rechtfertigen

164 würde. Einige der Befragten betonen, dass das Internet für ein Leben auf der Straße nicht (überlebens-)wichtig genug sei:

„Internet. Ist für mich nicht lebensnotwendig. Das ist Rumspielerei. Des-wegen habe ich seit 2002 keinen Internetzugang. Und ich brauche es nicht.“ (Interview Jens, Abs. 30)

a) Vermeidung von sozialen Konflikten

Dieser grundsätzlichen Indifferenz treten jedoch auch negative Erfahrungen oder all-gemeine Befürchtungen gegenüber. Wiederkehrend wird von den Befragten Men-schen mit Lebensmittelpunkt Straße sowie von Sozialarbeiter_innen geschildert, dass es zwischen wohnungslosen Menschen immer wieder zu sozialen Konflikten kommt, die durch das Internet verstärkt werden. Digitale soziale Konflikte unter den Menschen mit Lebensmittelpunkt Straße führen auch dazu, dass bestimmte Personen eine grund-sätzlich aversive Haltung gegenüber Internettechnologien und insbesondere gegen-über den Social Media Plattformen (Facebook) entwickelt:

„Viele bereuen es dann. Dann schreiben sie auf Facebook irgendeinen Mist. Vielleicht auch betrunken oder aus Wut oder irgendetwas und kön-nen die Konsequenzen überhaupt nicht abschätzen. Also da sind schon viele- also gab schon sehr viel Streit hier. Manche Leute haben dann mit der Arbeit hier aufgehört, weil sie es nicht wieder revidieren konnten.

Einfach Mist geschrieben.“ (Gruppendiskussion Sozialarbeiter_innen I, Abs. 49)

Mehrfach beschreiben die Befragten auch, dass es in der Vergangenheit zu digitalen sozialen Konflikten kam, bei denen sich eine Gruppe gegen eine einzelne Person rich-tete. Die Erfahrung einen solchen Konflikt nicht selbst kommunikativ auflösen zu kön-nen, führte bei einigen Befragten dazu, dass sich ihre Internetnutzung änderte:

"Auf Facebook wird vieles zerpflückt und zerhackt. Und das ist das Ganze, was mich an Facebook echt ärgert. Und manchmal sag ich: ‚Ey, warum habe ich eigentlich Facebook? Nicht nötig! Ey, so ein Scheiß!‘

[...] Im echten Leben kann ich den Einzelnen noch überzeugen viel-leicht. Und meinen Status sozusagen klar darlegen. Aber im Facebook, den sehe ich nie! Den habe ich nie gesehen! Scheißegal! Den blockiere ich vielleicht irgendwann mal oder so, wenn er mir zu doof kommt. Ab-gesehen davon würde ich auf Facebook nie auf solche Sachen reagie-ren.“

165 b) Angst vor Datenmissbrauch

Neben konkreten negativen Erfahrungen mit dem Internet stehen ebenso häufig abs-trakte Ängste wie die „Angst vor Überwachung“ durch den Staat oder die Kontrolle durch Ämter und Institutionen wie Jobcenter oder Polizei.

„Ich möchte meine Daten für mich behalten. Ist auch wieder so ein Vor-teil für mich. Die wissen zwar viel in Deutschland über mich von den Akten alles Mögliche. Aber Internet, No-Go.“

Auch schildern die Befragten, dass eine Angst vor Datenmissbrauch durch wirtschaft-lich-orientierte Unternehmen den Hintergrund ihrer Nicht-Nutzung darstellt. Damit un-terscheiden sich die Gründe der Nicht-Nutzung oder der eingeschränkten Nutzung wie Angst vor Überwachung und Verlust der Privat- und Intimsphäre grundsätzlich nicht von den Ängsten die Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft (vgl. Papsdorf et al. 2018) häufig für ihre aversive Haltung gegenüber der Internettechnologien anführen.

„Ja, gut, das geht ja dann alles über Google. Google und YouTube. Ja, gut ich komme da nicht drum herum. Ich würde es am liebsten auch anders machen. Aber- und wie gesagt, weil das nicht meine Daten sind, ist mir das auch egal. Die wissen zwar, dass das immer die gleiche E-Mail ist, da haben die ja ihre Algorithmen zu. Ich merke dann was die mir vorschlagen, wenn ich dann was suche.“ (Interview Nicolas, Abs.

110)

Papsdorf et al. (2018) konnten in einer Untersuchung zum freiwilligen Internetverzicht von Jugendlichen rekonstruieren, dass spezifische Defizite und Nachteile der Internet-kommunikation, die Nicht-Nutzung der befragten Personen begründen. Dazu gehören insbesondere eine Störung des Alltags, permanenter Erreichbarkeitsdruck, Überwa-chung und Verlust der Privatsphäre, eine Abhängigkeit vom Internet (ebd.: 352ff.). Die Befragung der Menschen mit Lebensmittelpunkt Straße zeigt, dass die Nicht-Nutzung des Internet durch bestimmte Personen dieser Gruppe sich durch die gleichen Ängste und Erfahrungen begründet. Damit lässt sich zusammenfassend schließen, dass ein niedriges Maß an erwarteter Gratifikation und eine aversive Haltung gegenüber den Internettechnologien dazu führen, dass die Internetnutzung bestimmter Personen mit Lebensmittelpunkt Straße bewusst sehr gering ist.

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Tabelle 4 - Digital Gaps im Kontext Wohnungslosigkeit

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