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Das Problem der Bagatellkündigungen in der aktuellen Rechtsprechung

III. Möglichkeit der außeror- außeror-dentlichen Kündigung

1. An sich geeigneter Grund

a) Bagatelldelikt als an sich geeigne-ter Grund

Verhaltensbedingte Gründe bilden dann einen an sich geeigneten Grund, wenn der Arbeitnehmer rechtswidrig und schuldhaft seine vertraglichen Pflichten verletzt hat.11 Dabei war bis-lang weitestgehend unstrittig, dass auch eine geringfügige Pflichtverletzung ei-nen an sich zur außerordentlichen Kündigung geeigneten Umstand dar-stellen kann. Ob eine bestimmte Ver-tragsverletzung und die daraus folgende Störung des Arbeitsverhältnisses als geringfügig anzusehen sind, ist eine von den konkreten Umständen des Einzel-falls abhängende Wertungsfrage, die nicht das Vorliegen eines an sich geeig-neten Grundes ausschließt. Der Grad des Verschuldens und die Höhe des Schadens sind bei genereller Eignung

10 Müller-Glöge, in: Erfurter Kommentar, 11.

Aufl., § 626 BGB Rdnr. 15.

11 Fischermeier, in: Gemeinschaftskommentar zum Kündigungsschutzgesetz (KR), 9.

Aufl., § 626 BGB Rdnr. 139.

vielmehr im Rahmen der Interessenab-wägung zu berücksichtigen.12 Dementsprechend beurteilte das BAG neben dem oben dargestellten

„Bienenstich-Fall“ von 1984 beispielsweise auch die Entwendung von drei Kiwis oder zwei Päckchen Tabak oder eines Liters Sahne als an sich geeignete Gründe.13 In einer Linie mit dieser seit langem unveränderten Rechtsprechung steht auch die aktuelle

"Emmely-Entscheidung“ des BAG.

Hierin hat das BAG nochmals klargestellt, dass zum Nachteil des Ar-beitgebers begangene Eigentums- oder Vermögensdelikte, aber auch nicht strafbare, ähnlich schwerwiegende Handlungen unmittelbar gegen das Vermögen des Arbeitgebers typischer-weise – unabhängig vom Wert des Tat-objekts und der Höhe des eingetretenen Schadens – als Grund für eine außeror-dentliche Kündigung in Betracht kom-men. Begehe der Arbeitnehmer bei oder im Zusammenhang mit seiner Arbeit

12 Dörner/Kiel, in: Ascheid/Preis/Schmidt, Großkommentar zum Kündigungsrecht, 3.

Aufl., § 626 BGB Rdnr. 276; BAG, Urteil vom 11.12.2003 - 2 AZR 36/03.

13 BAG, Urteil vom 20.09.1984 - 2 AZR 633/82;

BAG, Urteil vom 16.10.1986 - 2 AZR 695/85;

BAG, Urteil vom 02.04.1987 - 2 AZR 204/86.

rechtswidrige und vorsätzliche – gege-benenfalls strafbare – Handlungen un-mittelbar gegen das Vermögen seines Arbeitgebers, verletzte er zugleich in schwerwiegender Weise seine schuld-rechtliche Pflicht zur Rücksichtnahme und missbrauche das in ihn gesetzte Vertrauen.14 Eine Bagatellgrenze im Sinne einer wertmäßigen Untergrenze, ab der eine Kündigung zulässig wäre, gibt es nach dieser Rechtsprechung nicht.15

b) Keine Übertragung der strafrecht-lichen Wertungen

Im Strafrecht bestimmt § 248 a StGB, dass Diebstahl und Unterschlagung geringwertiger Sachen nur auf Antrag verfolgt werden, es sei denn, dass die Strafverfolgungsbehörde wegen des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung ein Einschreiten von Amts wegen für geboten hält. Das Antragserfordernis wird entsprechend auch auf die Straftatbestände der Be-günstigung, Hehlerei, Betrug und Un-treue angewandt. Maßgeblich für die

14 BAG, Urteil vom 10.06.2010 - 2 AZR 541/09.

15 Vgl. Grimm /Windeln, ArbRB 2009, 374 (374); Eckert, BC 2010, 26 (26).

Geringwertigkeit einer Sache ist deren Verkehrswert zur Tatzeit. Gegenwertig wird die Grenze der Geringwertigkeit bei ca. € 50,00 gesehen.16 Das Antragserfordernis bei solchen auf geringwertige Sachen bezogenen Straftaten zeigt, dass die Straftaten nach Auffassung des Gesetzgebers die Allgemeinheit in der Regel so wenig berühren, dass ein Eingreifen mit Kriminalstrafe nur erforderlich scheint, wenn der Verletzte sein Interesse daran durch einen Antrag bekundet.17 Ver-fahrensrechtlich ergänzt wird diese Regelung der Bagatelldelikte durch das Opportunitätsprinzip der

§§ 153, 153 a StPO.18 Danach kann die Staatsanwaltschaft mit Zustimmung des für die Eröffnung des Hauptverfahrens zuständigen Gerichts von der Verfol-gung eines Vergehens absehen, wenn die Schuld des Täters als gering anzu-sehen wäre und kein öffentliches Inte-resse an der Verfolgung besteht (§ 153 I StPO) oder wenn jedenfalls die Erfüllung von Auflagen und Weisungen

16 Kühl, Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl., § 248 a Rdnr. 3.

17 Sternberg-Lieben, Bosch, in: Schön-ke/Schröder, StGB, 28. Aufl., § 77 Rdnr. 4.

18 Kröpil, ZRP 2010, 178 (180).

geeignet ist, das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung zu beseitigen, und die Schwere der Schuld nicht entgegen-steht (§ 153 a I StPO).

Vor diesem Hintergrund wird es teil-weise als ungerecht empfunden, dass derartige geringfügige Handlungen ge-gen das Vermöge-gen des Arbeitgebers zwar gegebenenfalls keiner strafrechtli-chen Sanktion ausgesetzt sind, gleich-wohl aber den Verlust des Arbeitsplat-zes durch außerordentliche Kündigung auslösen können. So wurde schon vor einigen Jahren von einzelnen Landesar-beitsgerichten und ArLandesar-beitsgerichten angenommen, dass die Entwendung von geringwertigen Gegenständen schon an sich keinen wichtigen Grund zum Ausspruch einer fristlosen Kündi-gung darstelle.19 Diese Auffassung ha-ben im vergangenen Jahr auch die Bun-destagsfraktionen der SPD und der Par-tei „Die Linke“ aufgegriffen. Beide Frak-tionen präsentierten Gesetzentwürfe, die im Fall von Bagatelldelikten eine Kündigung ohne vorangegangene

19 Vgl. LAG Köln, Urteil vom 30.09.1999 - 5 Sa 872/99; LAG Hamburg, Urteil vom 08.07.1998 - 4 Sa 38/97; ArbG Reutlingen, Urteil vom 04.06.1996 - 1 Ca 73/96.

mahnung ausschließen. Danach sollte eine Kündigung ohne vorherige Ab-mahnung unzulässig sein, „wenn der wirtschaftliche Schaden nicht ins Ge-wicht fällt“20 bzw. wenn sich das Eigen-tums- oder Vermögensdelikt „auf ge-ringwertige Gegenstände“21bezogen hat.

Das BAG ist diesen Überlegungen in der

„Emmely-Entscheidung“ vom 10.06.2010 zu Recht nicht gefolgt, sondern hat – wie oben dargestellt – die Annahme einer allgemeingültigen Bagatellgrenze zurückgewiesen. Die Erschütterung der für die Vertragsbeziehung notwendigen Vertrauensgrundlage kann unabhängig davon eintreten, welche konkreten wirtschaftlichen Schäden durch den Arbeitnehmer verursacht wurden. Er-forderlich ist für eine außerordentliche Kündigung stets eine umfassende Interessenabwägung aller Umstände des Einzelfalls. Bei § 626 BGB handelt es sich um einen offen gestalteten Tatbestand, mit dem die Festlegungen einer bestimmten Wertgrenze nicht zu vereinbaren ist.22 Die Festlegung einer

20 Gesetzentwurf der Bundestagsfraktionen der SPD vom 09.02.2010, BT-Drs 17/648.

21 Gesetzentwurf der Bundestagsfraktionen der Partei „Die Linke“ vom 09.02.2010, BT-Drs 17/649.

einbaren ist.22 Die Festlegung einer Re-levanzschwelle würde auch Folgeprob-leme aufwerfen, wie beispielsweise die Frage der exakten Wertberechnung o-der die Behandlung nur geringfügiger Grenzüberschreitungen.23

Vor allem kann die strafrechtliche Be-wertung mit Blick auf ihren Sinn und Zweck nicht auf das Kündigungsrecht übertragen werden. Der Zweck der ver-haltensbedingten Kündigung ist nicht die Sanktion für eine erfolgte Vertrags-pflichtverletzung, sondern die Vermei-dung von weiteren Vertragspflichtver-letzungen. Es gilt das so genannte

„Prognoseprinzip“. Es geht darum, ob aus der konkreten Vertragspflichtver-letzung und der daraus resultierenden Vertragsstörung geschlossen werden kann, dass der Arbeitnehmer den Ar-beitsvertrag auch erneut in gleicher oder ähnlicher Weise verletzten wer-de.24 Das zukunftsbezogene

22 BAG, Urteil vom 10.06.2010 - 2 AZR 541/09;

Walker, NZA 2011, 1 (2); Langen, Arbeit und Arbeitsrecht, 2010, 20 (23); Preiss, ArbuR 2010, 242 (243); Stoffels, NJW 2011, 118 (120).

23 BAG, Urteil vom 10.06.2010 - 2 AZR 541/09;

Preiss, ArbuR 2010, 242 (243).

24 BAG, Urteil vom 12.01.2006 - 2 AZR 21/05.

Vgl. auch Stoffels, NJW 2011, 118 (121).

gungsrecht hat daher nichts mit der strafrechtlichen Zwecksetzung zu tun.25 Besonders deutlich wird der Unter-schied zum Strafrecht bei der in der Rechtsprechung allgemein anerkannten Möglichkeit einer Verdachtskündigung, die im Strafrecht (im Sinne einer Ver-dachtsverurteilung) aufgrund der rechtsstaatlichen Unschuldsvermutung undenkbar und verfassungswidrig wä-re.26 Das Bundesarbeitsgericht hat da-her wiederholt klargestellt, dass für die kündigungsrechtliche Beurteilung des Verhaltens des Arbeitnehmers die straf-rechtliche Bewertung nicht maßgebend ist. Allein entscheidend sei der Verstoß gegen vertragliche Haupt- oder Neben-pflichten und der mit ihm verbundene Vertrauensbruch.27

c) Verdachtskündigung

Die für eine verhaltensbedingte Kündi-gung erforderliche Unzumutbarkeit der weiteren Zusammenarbeit kann sich auch aus einem vertrauenzerstörenden

25 Vgl. Preis, ArbuR 2010, 186.

26 Preis, ArbuR 2010, 186 (186 f.).

27 Vgl. BAG, Urteil vom 10.06.2010 - 2 AZR 541/09.

Verdacht ergeben.28 Die Kündigung wird dabei nicht auf eine vom Gekün-digten begangene schuldhafte Pflicht-verletzung selbst, sondern allein darauf gestützt, dass der Gekündigte im Ver-dacht stehe, die Vertragsverletzung be-gangen zu haben. Eine Verdachtskün-digung kann gerechtfertigt sein, wenn sich starke Verdachtsmomente auf ob-jektive Tatsachen gründen, die Ver-dachtsmomente geeignet sind, das für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnis-ses erforderliche Vertrauen zu zerstö-ren, und der Arbeitgeber alle zumutba-ren Anstzumutba-rengungen zur Aufklärung des Sachverhalts unternommen, insbeson-dere dem Arbeitnehmer Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat.29