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ERSTES HALBBYTE

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6.5 Visuelle Sprachen

6.5.4 Gebärdensprache

Die Gebärdensprache (engl.: sign language) wird als die eigentliche „Muttersprache“ der gehörlosen Menschen angesehen und ist in vielen Ländern auch als offizielle Minderheitensprache (mit allen damit verbundenen Rechten) anerkannt. Die Eigenständigkeit dieser Sprache kommt darin zum Ausdruck, daß es sich nicht um eine Wort-zu-Wort Übersetzung einer gesprochenen Sprache handelt (siehe dazu auch 6.5.5), sondern daß sie ihre eigenen Regeln (Syntax, Grammatik und Semantik) hat. Während die Syntax unserer gesprochenen Sprache auf "Subjekt - Objekt - Prädikat" aufbaut, könnte man die Grundsyntax der Gebärdensprache mit "Thema - Beschreibung" charakterisieren.

Die Darstellung von Gebärden erfolgt in erster Linie mit Armen und Händen (meist beiden) und zwar etwa innerhalb eines Fensters, das nach oben durch den Kopf und nach unten durch den Nabel begrenzt ist. Auch seitlich werden Gebärden nahe am Körper ausgeführt. Mit anderen Worten, ein Bildausschnitt (z.B. bei einer Videoübertragung), der den Kopf und Brustbereich einer gebärdenden Person zeigt, ist demnach ausreichend.

Zusätzlich zu den Bewegungen und Stellungen von Armen, Händen und Fingern spielt auch der Gesichtsausdruck eine große Rolle. Viele zusätzliche Attribute werden auf diese Weise vermittelt. Soll beispielsweise zusätzlich zur Gebärde für "Arbeit" (Aufeinanderschlagen der beiden Fäuste - siehe Abb. 6.52, Bild ganz links) ausgedrückt werden, daß es sich um eine besonders schwere Arbeit handelt, dann wird der "Sprecher" / die "Sprecherin" die Wangen aufblasen, die Stirn runzeln und ein ernstes Gesicht machen.

Jede Gebärde ist also ein visuelles Symbol, das sich aus bestimmten Handformen, Ausführungsstellen und Bewegungen (einmalig oder wiederholt) zusammensetzt und durch Körperhaltung und Mimik ergänzt wird.

Gebärdensprache ist nicht nur visuell dargestellte, sondern auch visuell empfundene Sprache.

Das soll heißen, daß die Art, in der Dinge oder Vorgänge durch Gebärden dargestellt werden, stark davon abhängen, wie sie sich der gebärdenden Person visuell (also auch perspektivisch) darstellen. Die Gebärde für "Person" ist demnach vollkommen anders, je nachdem ob sie sich auf eine Person bezieht, die sich nahe neben dem Sprecher / der Sprecherin befindet oder weiter weg auf der anderen Straßenseite. Im ersten Fall wird eine Handbewegung verwendet, die von der Schulter bis zur Hüfte reicht (siehe Abb. 6.52, zweites Bild von links). Im zweiten Fall kann die entfernte Person durch den aufgestellten und weiter von Körper entfernten Zeigefinger repräsentiert werden. Eine größere räumliche Entfernung bedingt in diesem Fall auch die Verwendung eines kleineren Symbols.

Hörende Personen, die Gebärdensprache lernen (was übrigens mit viel Praxis verbunden sein sollte) müssen sich daher vollkommen von ihren auditiv geprägten Gedanken (Wortfolgen und Satzstellungen) lösen und in die rein visuell orientierte Welt der gehörlosen Menschen eintauchen.

a) Geschichte der Gebärdensprache

Die Geschichte der Gebärdensprache reicht weit zurück, ist aber leider nicht ausreichend dokumentiert. Einen besonderen Fall stellt die Insel Martha's Vineyard (dem US Bundesstaat Massachusetts im SO vorgelagert) dar, auf der sich zufolge eng begrenzter Zuwanderung und der dadurch erfolgten Inzucht im frühen 18. Jahrhundert eine hohe Rate von genetisch bedingter Gehörlosigkeit entwickelte. Je nach Gebiet wird von 0,7% bis 25% gehörlosen

6.METHODEN DER ALTERNATIVEN KOMMUNIKATION

Personen berichtet. Das hatte zur Folge, daß sich dort bereits sehr früh eine Gebärdensprache entwickelte. In diesem Fall, bedingt durch den hohen Anteil an gehörlosen Personen, wurde Gebärde zur zweiten Verkehrssprache, die auch von der hörenden Bevölkerung beherrscht wurde. Gehörlosigkeit wurde daher auf Martha's Vineyard nicht als Kommunikations-Handicap empfunden.

Was einerseits die Bemühungen um die gesellschaftliche Anerkennung der Gebärdensprache und deren Verwendung als Mittel zur Unterrichtung von gehörlosen Kindern anbelangt, spielte Frankreich im 18. Jahrhundert eine führende Rolle. Allerdings wurde die linguistische Eigenständigkeit der Gebärdensprache zu dieser Zeit noch nicht voll erkannt.

Es soll in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben, daß um die Gebärdensprache auch ein gewisser „Glaubenskrieg“ entbrannt ist. Befürworter der Gebärdensprache sehen darin nicht nur eine sehr effektive Kommunikationsmöglichkeit sondern verfechten damit auch das Recht auf eine eigene kulturelle Entwicklung gehörloser Menschen. Die Gegner argumentieren damit, daß dadurch gehörlose Menschen (und hier geht es vornehmlich um die Kinder hörender Eltern) in eine Subkultur bzw. in ein Ghetto abgedrängt werden. Ihnen erscheint es wichtiger, daß sich Kinder möglichst an die hörende und sprechende Gesellschaft anpassen und daher perfekt Lippenlesen lernen und auch in der Lage sind, sich lautsprachlich zu artikulieren. Dieser Streit eskalierte sogar soweit, daß es durch einen 1880 in Mailand stattgefundenen Kongreß von Gehörlosenpädagogen zu einem kompletten Verbot der Gebärdensprache kam. Diese kategorische Haltung wird heute zwar nicht mehr vertreten, aber das Maß der Akzeptanz der Gebärdensprache ist immer noch von Schule zu Schule unterschiedlich.

In letzter Zeit setzt sich jedoch die Meinung durch, daß eine multimodale Erziehung über eine möglichst große Zahl von Kanälen, in der Gebärden, geschriebene und gesprochene Lautsprache in einem ausgewogenen und zeitlich auf die Entwicklung des Kindes abgestimmten Verhältnis stehen, den höchsten Lernerfolg bieten [DOT 96]. Die multimodale Herangehensweise hat sich auch bei Kindern mit Down Syndrom bewährt. Auch wenn keine Hörschädigung vorliegt, werden diese Kinder durch die parallele Vermittlung von Lautsprache und Gebärden (man spricht hier auch von "totaler Kommunikation") besonders gefördert.

Abschließend noch einige Beispiele zur Anerkennung der Gebärdensprache:

 Vom Parlament der Europäischen Union wurde die Gebärdensprache im Jahr 1988 offiziell und einstimmig anerkannt.

 Im Oktober 1998 hat die Tschechische Republik die Gebärdensprache offiziell als Sprache einer Bevölkerungsminderheit anerkannt.

 Bemühungen um eine Anerkennung der Österreichischen Gebärdensprache haben erst am 1. September 2005 Erfolg gehabt.

 Die momentan jüngste Anerkennung erfolgte in Neuseeland im April 2006.

b) Nationale und internationale Gebärdensprachen

Gebärde ist eine lebendige Sprache, die (wie gesprochene Sprachen und Dialekte) von Land zu Land und selbst von Region zu Region verschieden ist und dem üblichen zeitlichen Wandel unterworfen ist. Sie ist nicht aus der jeweiligen vokalen Sprache des Landes oder der Region abgeleitet. Daher ist amerikanische Gebärdensprache (ASL = American Sign Language) vollkommen verschieden zur britischen Gebärdensprache (BSL = British Sign Language) obwohl die vokale Sprache in beiden Ländern Englisch ist. ASL ist sogar näher verwandt mit der französischen Gebärdensprache (LSF), da im 19. Jahrhundert einer der ersten Lehrer für gehörlose Menschen in den USA ein Franzose38 war.

38 Laurent Clerc

Selbst relativ kleine Länder wie Österreich verfügen (noch) über keine einheitliche Gebärdensprache. Von Region zu Region bestehen deutliche Unterschiede, eine Verständigung ist aber trotzdem weitgehend möglich. Das hängt auch damit zusammen, daß viele Gebärden ikonischen Charakter haben und daher ohne weitere Vereinbarung entweder in verschiedenen Ländern identisch sind oder so evident sind, daß sie ohne weiteres verstanden werden können. Die Sprachbarrieren zwischen gehörlosen Menschen verschiedener Nationen werden sogar als geringer eingeschätzt als zwischen hörenden Personen.

Neben den vielen existierenden nationalen und regionalen Gebärdensprachen bemüht man sich auch um die Entwicklung einer internationalen Gebärdensprache. Die internationale Gebärdensprache "Gestuno" versucht durch weltweite Vereinheitlichung von Gebärden auf der Ebene der Begriffe (also der "Vokabeln") eine im internationalen Verkehr einheitliche Basis zu schaffen. Eine Vereinheitlichung von Syntax und Grammatik ist dabei jedoch nicht vorgesehen.

In Europa sind Bestrebungen zur Schaffung der "International Sign Language" (ISL) noch im Gange. Abb. 6.52 zeigt einige (wenige) typische Gebärden der ISL.

Abb. 6.52: Beispiele für Gebärden (Quelle British Deaf Association 1975)

c) Katalogisierung der Gebärdensprache

Die Vereinheitlichung einer Sprache über größere geographische Gebiete hinweg hängt mit dem Vorhandensein eines Alphabets, mit der Verschriftung und mit der Verbreitung dieses Schriftgutes zusammen. Alle diese Voraussetzungen sind für die gesprochene Sprache seit Jahrhunderten erfüllt. Schreibweise und Bedeutung von Wörtern können in Wörterbüchern und Lexika zusammengefaßt und systematisch geordnet werden.

Bei einer rein visuell vermittelten Sprache fehlen diese Voraussetzungen. Gebärden lassen sich nicht in einfacher Form in eine alphabetische Reihenfolge bringen, in einem Gebärdenwörterbuch zusammenfassen und auf diese Weise verbreiten und vereinheitlichen.

Gebärdenlexika mußten sich daher lange auf statische Zeichnungen oder Photos samt erklärendem Zusatztext beschränken. Das Nachschlagen einer Gebärde ausgehend vom lautsprachlichen Begriff war dabei noch die leichtere Angelegenheit, da sich die lautsprachlichen Wörter alphabetisch ordnen lassen. Aber wie soll man zu einer Gebärde den zugehörigen lautsprachlichen Begriff finden?

Erst das Computerzeitalter, mit der Möglichkeit der multimedialen Mensch-Maschine Kommunikation hat eine Verbesserung dieser Situation gebracht. Für eine ganze Reihe von Gebärdensprachen wurden einzelne Gebärden durch Videoaufzeichnung erfaßt, nach eigens dafür entwickelten Klassifikationssystemen sortiert (z.B. HamNoSys = Hamburger Notationssystem für Gebärdensprachen) und in multimedialen Datenbanken abgelegt.

Für Österreich wurde mit ÖGS-LEX 1.0 die erste CD-ROM mit rund 750 Digital-Video Gebärden geschaffen. In der ersten Version berücksichtigt sie vor allem die Kärntner Version der ÖGS (Österreichische Gebärdensprache). Eine Erweiterung soll folgen. Mit dem Multimediapaket

6.METHODEN DER ALTERNATIVEN KOMMUNIKATION

"MUDRA39" wurde ein Nachschlagewerk sowie ein Lern- und Trainingsprogramm für die ÖGS geschaffen, in dem in der derzeitigen Beta-Version 1.000 Gebärden erfaßt sind.

Derartige Nachschlagewerke für Gebärden finden sich auch zunehmend im WWW. Nach Eingabe des gesuchten Vokabels wird die zugehörige Gebärde in einem Videoclip dargestellt.

Die umgekehrte Richtung – von der Gebärde zum lautsprachlichen Wort – ist ein noch ungelöstes Problem.