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Funktionen, Aufgaben und Verhältnis zur Staatsmacht

6.3 T RADITIONELLE RURALE H ERRSCHAFTSFORMEN

6.3.1.1 Funktionen, Aufgaben und Verhältnis zur Staatsmacht

In den beiden Untersuchungsregionen Biombo und Gabú sind die Herrschaftsformen im ländlichen Bereich weitgehend ähnlich. Die lokale Autorität ist der Régulo bzw.

Laamdô (auf Pulaar), der die höchste Persönlichkeit in der “traditionellen”

Herrschaftsform darstellt. Danach folgen die Klasse der Ualiu,87 der Almaame (Gebetsvorsteher) oder Tcheernô (in Pulaar) und der Muru.88 Sie leiten die islamischen Gebete und fast alle Zeremonien in den muslimischen Dörfern. Bei den nicht-islamischen Volksgruppen, wie etwa den Pepeis von Biombo, nimmt der Cansaré eine mit dem Ualiu vergleichbare Position ein und der Balobero oder Djambacus89 eine dem Muru ähnliche Stellung. An der darauf folgenden Stelle in der Herrschaftshierachie steht der Dorfchef bzw. chefe de tabanca auf Portugiesisch und Kriolo, der auf Pulaar djarga genannt wird. Es folgt anschließend der Dorfrat oder maubê saarê auf Pulaar, wo auch der N´gamam seinen Platz einnimmt. Der N´gamam leitet die Fanadozeremonien vom eigentlichen chirurgischen Eingriff - der tatsächlichen Beschneidung - bis zu den Tieropfern für die Geister, die helfen sollen, dass die Fanadoteilnehmer nicht krank werden und die durch die Beschneidung verursachten Wunden schneller heilen. An der Basis befindet sich die Bolandá - das ‘normale’ Volk.

Régulos sind die höchsten Erdherren in ihren regulados (s. unten). Auf Dorfebene sind es die Dorfchefs, die diese Funktion tragen. Die Régulos werden gemäss der Tradition als spirituelle, politische und juristische Vertreter ihrer Gemeinschaften verstanden. Das Verwaltungsgebiet eines Régulos umfasst ein Gebiet mit mehreren Dörfern. So ein

87Träger der Weisheit, weiser Mann.

88Der Muru erfüllt nicht nur die Aufgaben eines Dorfpriesters, sondern er ist auch derjenige, der die begehrten Amulette und Nás herstellt. Nás ist eine Flüssigkeit zum Einnehmen oder Einreiben, welche Krankheiten kurieren oder vermeiden kann. Die Amulette und Nás finden nicht nur im Bereich der Medizin und Gesundheit Verwendung, sondern auch im spirituellen Kontext.

89Djambacus ist die Bezeichnung für die traditionellen Heiler bei den animistischen Gesellschaften. Auf Dorfebene gehören die Djambacus zur lokalen politischen Führung (s. hierzu Augel, 1998:15).

Gebiet heißt auf Portugiesisch regulado, tchom auf Kriolo und diiual auf Pulaar. Jedes regulado hat einen eigenen Namen.

Während der Feldforschung konnte der Verfasser feststellen, dass die regulados der Region Gabú größer sind als die der Region Biombo. Zwei extreme Beispiele liegen mit dem regulado von Tuman´na Cima in der Region Gabú mit 125 Dörfern (nach Angaben seines Régulos Mamadú Salê Embaló) und dem regulado von Intusso vor, das nur aus dem Dorf Intusso besteht und dessen Régulo Unsumandé N´Di heißt. Ein nur aus einem einzigen Dorf bestehendes regulado scheint mit dem Dorf Intusso der einzige Fall in ganz Guinea-Bissau zu sein. Auf die Frage, warum das regulado von Intusso nur aus einem Dorf besteht, antwortete der Régulo N´Di, “weil Intusso ein ganz besonderer Fall ist.” Worin diese “Besonderheit” von Intusso allerdings liegt, abgesehen von seiner großen Einwohnerzahl, konnte während des Feldforschungsaufenthaltes nicht festgestellt werden, da der Régulo darüber keine weiteren Erklärungen abgegeben hat.

Nach der Volkszählung von 1991 gehört Intusso mit 771 Einwohnern (MPCI/INE90, 1996) zu den größten Dörfern Guinea-Bissaus.

Weitere Beispiele für die Größenunterschiede der regulados in den beiden Unter-suchungsregionen:

• In der Region Biombo: Das regulado Reino de Thor hat zwölf Dörfer und das regulado namens Biombo besteht aus sieben Dörfern.

• In der Region Gabú: Das regulado Boé besteht aus 66 Dörfern, Tchana besitzt 37 Dörfer.91

Die Régulos in allen “vertikalen Gesellschaften”92 haben die Kolonialisierung nicht tatenlos akzeptiert. Nachweisbar haben Régulos überall Widerstand gegen die portugiesische Kolonisation geleistet. Aufgrund der militärischen Übermacht der

90Ministério de Plano e Cooperação Internacional, Instituto Nacional de Estatisticas (Ministerium für Planung und Internationale Zusammenarbeit, Nationales Statistisches Institut).

91Alle Angaben über die Größe der regulados wurden von den jeweiligen Régulos während der Interviews mitgeteilt.

92Die stark hierarchisierten Gesellschaften Guinea-Bissaus hat A. Cabral als “vertikale Gesellschaften”

bezeichnet, und als Beispiel nennt er die Fulbe. Andere Gesellschaften, in denen es keine klare hierarchisierte Führung in politischen Hinsicht gibt, hat er “horizontale Gesellschaften” genannt. Die

Portugiesen und wegen Uneinigkeiten unter den verschiedenen Régulos mussten sie jedoch mehr oder minder kapitulieren. So wie die Régulos aller Ethnien in bestimmten Zeitabschnitten gegen das Kolonialsystem Widerstand leisteten, waren sie gezwungen, nach der Kapitulation mit dem portugiesischen Herrschaftsapparat zusammenzuarbeiten (s. mehr dazu bei Mendy, 1994:153-211).

Damit begann die Periode der ‘zwei Gesichter’ vieler Régulos, die einerseits die Kolonialinteressen zu vertreten hatten und andererseits die Rolle der “traditionellen”

Autorität ausübten. Diejenigen, die diese Spielregeln nicht akzeptierten, wurden in der Regel ihrer Ämter enthoben, sobald die lokale Kolonialadministration bei ihnen antikoloniale Tendenzen bemerkte. Andere Personen wurden an ihre Stelle gesetzt und erhielten Titel und Aufgaben der Régulos; die Einheimischen betrachteten sie als

“Usurpatoren” (Cardoso und Ribeiro, 1988:170). Die Kolonialmachthaber benutzten manchmal jedes Mittel, um ihre Favoriten als Régulos durchzusetzen. Jao (1989:51) berichtet, wie die portugiesische Verwaltung ihren Favoriten namens Mancanha bei der Mancanhaethnie mit grausamen Mitteln unterstützte, indem sie die Rivalen von Mancanha bis zum Tod folterten: “(...) todos os que se mostravam rivais dele (de Mancanha, I.E.) eram muitas vezes castigados até à morte pelos colonialistas”. („Alle, die gegen ihn (Mancanha) waren, wurden oft von den Kolonialisten bis zum Tod bestraft.“) Die meisten Régulos entschieden sich unter diesen Umständen, mit dem Kolonialsystem zusammenzuarbeiten. Diese Entscheidung hat der Régulo von Tchana während eines Interviews als “hochstrategisch” qualifiziert, “weil man nur so die regulados und die dörflichen Einheiten retten konnte”, wie er ausführte. Der Preis für diese Strategie war hoch, weil die große Mehrheit unter den Régulos ihre reale Macht verlor und sich zu einer Art verlängertem Arm der Kolonialadministration wandelte.

Nach der Unabhängigkeit Guinea-Bissaus wurden sie von dem neuen Regime

“colaboradores de tugas”93 genannt und viele von ihnen wurden bestraft. Diese

Macht in diesen Gesellschaften übt die Versammlung der ältesten Dorfbewohner aus, die gleichzeitig Entscheidungsträger sind. Vertreter dieser Gesellschaften sind für Cabral die Balantas.

93Tugas war in Guinea-Bissau der Name für die im Kolonialsystem involvierten Portugiesen. Die Afrikaner, die mit ihnen zusammenarbeiteten, hat man als “Kollaborateure” (colaboradores) bezeichnet.

Transformation afrikanischer Autoritäten in “abhängige Mittelsmänner der Kolonialverwaltung” (Wirz, 1982:38) hat es überall in Afrika südlich der Sahara unter der Herrschaft aller europäischen Kolonialmächte gegeben.

Nach der Unabhängigkeit Guinea-Bissaus hat die Nationalregierung der PAIGC die Régulos entmachtet und die regulados aufgelöst. An ihre Stelle setzte man neue Machtstrukturen - die Responsáveis de Secções94 - nachdem die Territorien der regulados in Secções Administrativas (= administrative Zonen) von der PAIGC-Regierung aufgeteilt worden waren. Mehrere Régulos, oft mit Familienangehörigen, wurden von den neuen Regierungsvertretern in den Regionen verhaftet, gefoltert und einige von ihnen sogar ermordet. Auf solche willkürlichen Verhaftungen und Hinrichtungen von “traditionellen” Autoritäten weist Fernandes (1993:45) hin.

Die Colaboradores de Secções und das auf jedem Dorf eingeführte fünfköpfige (zwei Frauen und drei Männer) Comité de Tabanca (Dorfkomittee) waren mehr oder weniger eine Verlängerung des Machtapparates der PAIGC. Die ihnen zugedachte Rolle, die traditionelle Macht der Régulos und der Dorfchefs zu übernehmen, konnten sie jedoch nicht verwirklichen. So entstand in den ländlichen Gebieten ein Machtvakuum zwischen den Dörfern und der Regierung (vgl. Embaló, 1994:7).