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In Guinea-Bissau darf nach dem Gewohnheitsrecht jedes erwachsene Mitglied der Gemeinschaft in einem beliebigen Gebiet ein Dorf gründen. Die Auswahlkriterien sind jedem selbst überlassen: In der Regel sucht sich ein Pastoralist, z.B. aus der Volksgruppe der Fulbe, ein Gebiet mit ausreichender Weidefläche und genügendem Wasservorrat aus. Der Ackerbauer, beispielsweise von den Mandingas und von den Balantas, bevorzugt eine Gegend mit fruchtbaren Böden und genügend Wasser;

während der Palmweinsucher und Palmfrüchtesammler, z.B. von den Pepeis, sich Waldgebiete mit vielen wildwachsenden Palmen aussucht. Der Fischer schließlich, z.B.

aus der Gruppe der Nhomincas, benötigt die Nähe eines Flusses. Je nach den benötigten natürlichen Ressourcen sind die Auswahlkriterien und Standortansprüche an das zu gründende Dorf recht unterschiedlich.

Seit Anfang der 1990er Jahre ist eindeutig zu beobachten, wie immer mehr neue Dörfer in der Nähe von Straßen gegründet werden. Jüngere Bauern verlassen zusammen mit ihren Frauen die Haupt-Morança aus den alten Dörfern und ziehen in neu gegründete Dörfer am Straßenrand oder gründen selbst eigene Dörfer (für die Erklärung des Begriffes Morança und zur Bedeutung dieser Familieneinheit s. Kap. 6.2). Typisch für diese neue “Generation” von Dörfern sind die relativ grossen Anpflanzungen von Cajubäumen, also die Einrichtung von Pontas de caju. In Straßennähe hat man bessere Verkaufsmöglichkeiten für seine Produkte vor Ort und besseren und schnelleren Zugang zu den größeren Märkten. Diese jungen Bauernfamilien pflegen enge Kontakte mit ihren Familienangehörigen und anderen Verwandten aus dem alten Dorf.

Zur Gründung eines Dorfes werden Tiere als Opfer für die Götter (Geister) geschlachtet.

Das Dorf wird nur dann gegründet, wenn die Zustimmung des Régulos83 und der Götter (Geister) vorliegt. Nur eine der beiden ‘Stimmen’ wird dagegen als unausreichend verstanden. Solche Zustimmungen werden in zahlreichen “traditionell” lebenden Gesellschaften im ruralen Afrika als eine Art Kompromiss bzw. Pakt zwischen den Göttern / Geistern und dem Dorfgründer verstanden. Gemäß lokalem Glauben sollen die Götter / Geister versprochen haben, einerseits das Dorf vor Bösem zu bewahren und andererseits zu guten Ernteerträgen, zur Fruchtbarkeit der Felder und zu Regen beizutragen. Der Dorfgründer soll im Gegenzug geloben, in bestimmten Zeitabständen (z.B. einmal in 2 oder 3 Jahren) Tieropfer, wie Kühe, Schafe, Ziegen oder Schweine, für die Geister zu vollbringen.84

Der Dorfgründer erhält automatisch die Position eines Dorfchefs. Zusammen mit den Dorfältesten legt der Dorfchef die Zone für die Anbaukulturen, die Zone für die Weidewirtschaft und die Zone für die heiligen Wälder fest, die für Opferzeremonien, für den Fanado85 (Initiationsrituale) und für den Dorffriedhof dienen. Die “chirurgischen”

Eingriffe (d.h. die eigentliche Beschneidung) an jungen Mädchen und jungen Männern spielen dabei eine sekundäre Rolle. Wie Schäfer (1995:144) während einer Studie in

83Zum Regulo s.u. Kap. 6.3.

84Vgl. auch Funk: 37.

85Fanado ist das Initiations- bzw. Beschneidungsritual. Fanado für Männer wird bei allen Ethnien des Landes praktiziert. In welchem Lebensjahr die Fanado stattfinden soll, variiert je nach Ethnie: Bei den Fulbe und Mandingas z.B. findet die Fanado in der Regel bei jungen Burschen zwischen zwölf und sechzehn Jahren statt. In manchen Fällen werden Kinder im jüngeren Alter zur Fanado geschickt. Bei anderen Ethnien, wie etwa den Balantas, wird normalerweise die Fanado bei erwachsenen Männern durchgeführt, oft sogar nach der Gründung einer eigenen Familie. Die Fanadoreifen werden aus verschiedenen Familien eines Dorfes in einer Gruppe von bis zu fünfzig Kindern oder jungen Männern gesammelt. Eine Fanado ist ein Dorffest, das mehrere Tage dauern kann. Die Beschneidung findet in der “baraka” des heiligen Waldes des Dorfes statt, und dort leben die Fanadoteilnehmer bis zu drei Monate lang. Zugang zur baraka haben nur Männer, die schon beschnitten sind.

Während der Fanadozeit werden den Fanadoteilnehmern verschiedene Lebensstile der Gesellschaft wie Jagen, Fischen, Sammeln von Wildfrüchten etc. beigebracht. Auch mehrere gesellschaftliche Codes und Rituale werden dort gelehrt. Geheimlieder und geheime Redewendungen gehören dort zum

“Lehrplan” ebenso wie das Erlernen von Beherrschung, was vor allem bedeutet, dass man als Mann niemals vor Schmerzen weinen darf. Wenn die Fanadoteilnehmer ins Dorf zurückkehren, werden sie in die Gesellschaft der Erwachsenen aufgenommen,und damit fern von Frauengruppen gehalten. Das wird auch auf Dorfebene gefeiert. Fanado für Mädchen wird bei muslimischen Familien praktiziert;

dort wird dieses Verfahren “religiös” begründet. Auch die Fanado bei Mädchen wird groß gefeiert.

Männer haben keinen Zugang zu der ganzen Prozedur der Fanado bei Frauen.

Sierra Leone feststellte, war Initiation “nicht an die körperliche Reife der Mädchen gebunden, vielmehr stand die gesellschaftlich-kulturelle Orientierung im Mittelpunkt.”

Die heiligen Wälder für Fanado und die für den Friedhof sind nicht identisch. Sie liegen an unterschiedlichen Standorten. Eine Hinwegsetzung über dieses Arrangement der Landverteilung oder die Zerstörung eines solchen ‘Abkommens’ werden als Zerstörung des Dorfes interpretiert.

Wenn das Dorf wächst und fruchtbares Land für die Landwirtschaft knapper wird, kann es vorkommen, dass einige Gemeinschaftsmitglieder bisweilen versuchen, ein Stück des heiligen Waldes als Kulturfeld zu gewinnen. Das passiert allerdings nur selten und wird als heikles Problem behandelt. Der heilige Wald ist ein Tabuland, welches jeder Dorfbewohner meiden muß, solange er keinen Anlaß hat, es zu betreten. Die Anlässe wie Opferzeremonien, Zeremonien für die Toten, Bestattung und Fanado werden auf Dorfebene durchgeführt.

Die Benutzung dieses Landes und seiner Ressourcen für private Zwecke führt zur Verstossung aus dem dörflichen Netzwerk, zur ‘Verteuflung’ und geht bis zur Forderung der Dorfbewohner, der Betroffene möge das Dorf verlassen. Dorffremde, die die Regeln über die heiligen Wälder nicht respektieren, müssen mit harten Widerstandsformen rechnen. Als ein Beispiel führt Platteau (1996a:40) die Bijagos-Inseln in Guinea-Bissau an, die für die einheimische Bevölkerung der Fisch- und Jagdgemeinschaften sacred islands mit symbolischem Wert sind. Die kommerzielle Ausbeutung dieser Inseln nach Vergabe von Privatlizensen durch den Staat in Form von landlease für touristische Entwicklung oder die zeitweise Besetzung des Landes und Nutzung seiner Ressourcen durch Außenstehende (z.B. migrierende Kleinfischer aus dem Senegal) hat Empörung ausgelöst und zu violenten Reaktionen bei den Inselbewohnern - den Bijagós - geführt, wie Platteau (ibd.) bei seinen Feldforschungen dort beobachten konnte. Diese Reaktionen führten bis zur Vergiftung einiger Eindringlinge.