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I. Theoretischer Teil

2.1 Der Begriff Mehrsprachigkeit

2.1.1 Formen des mehrsprachigen Spracherwerbs

Im Allgemeinen unterscheidet die Sprachwissenschaft den simultanen und den sukzessiven Spracherwerb. Der Begriff simultaner Spracherwerb beschreibt die Situation eines Kindes, das zeitgleich mindestens zwei Erstsprachen7 erwirbt (Müller u.a. 2011: 15; Riehl 2014: 11). Dabei gelten alle Sprachen, die das Kind bis zur Vollendung des zweiten Lebensjahres zu erwerben beginnt, als simultan

6 Riehl (2014: 11-16) hingegen spricht von insgesamt vier Kriterien: die Art des Spracherwerbs, die gesellschaftlichen Bedingungen, in deren Rahmen die Sprachen erworben und gesprochen werden, die Sprachkompetenz der jeweiligen Sprecher_innen sowie die Sprachkonstellation.

Riehls Ausführungen werden in die folgenden Unterpunkte miteinfließen und können darüber hinaus im Kapitel 1.2 ihres Werkes „Mehrsprachigkeit. Eine Einführung“ (siehe

Literaturverzeichnis der vorliegenden Arbeit) näher nachgelesen werden.

7 Als Synonym für die Erstsprache wird häufig auch der Begriff Muttersprache verwendet.

Sprechen Mutter und Vater mit dem Kind von Geburt an verschiedene Sprachen, wird gewöhnlich zwischen einer Mutter- und einer Vatersprache differenziert (Triarchi-Herrmann 2012: 28f.). Der Begriff Muttersprache erscheint jedoch nicht eindeutig, da es etwa der Fall sein kann, dass nicht nur die Mutter, sondern ebenso der Vater, Geschwister, Verwandte oder auch andere

Bezugspersonen diese Sprache mit dem Kind sprechen. Darüber hinaus kann es sein, dass die Mutter ihre eigene Erstsprache an das Kind gar nicht weitergibt (vgl. Triarchi-Herrmann 2012:

28f.; Allgäuer-Hackl, Jessner und Oberhofer 2013: 70). Ferner wird mit diesem Begriff – so Allgäuer-Hackl, Jessner und Oberhofer (2013: 70f.) – nach wie vor überwiegend die Assoziation verbunden, dass jene Erstsprache eines Individuums, welche als Muttersprache betrachtet wird, die am stärksten entwickelte Sprache eines Individuums ist und dies auch sein ganzes Leben lang bleibt, was aber nicht der Fall sein muss.

13 erworbene Erstsprachen (Chilla; Rothweiler; Babur 2013: 23). Im Fall von zwei Erstsprachen wird von Bilingualismus gesprochen oder von einem bilingualen Erstsprachenerwerb8 (Müller u.a. 2011: 159; Riehl 2014: 11).

Von einem sukzessiven Spracherwerb wird den Ausführungen oben entsprechend hingegen gesprochen, wenn der Erwerb einer zweiten Sprache frühestens mit dem dritten Lebensjahr beginnt. Dieser Einteilung liegt der Gedanke zugrunde, dass das Kind bis zur Vollendung des zweiten Lebensjahres wesentliche Spracherwerbsschritte auch in seiner Erstsprache, die es von Geburt an hört, noch nicht zur Gänze durchlaufen hat (Chilla; Rothweiler; Babur 2013: 23).

Findet der Erwerbsprozess einer zweiten Sprache ab dem dritten Lebensjahr statt, wird der Begriff kindlicher Zweitsprachenerwerb verwendet (Chilla; Rothweiler;

Babur 2013: 23). Beginnt das Kind eine weitere Sprache erst im Alter von circa drei Jahren zu erwerben, spricht Keim (2012: 22) in Anlehnung an die Spracherwerbsforschung vom frühen Zweitspracherwerb. Handelt es sich schon um die dritte Sprache des Kindes, verwendet sie den Fachbegriff früher Drittspracherwerb. Wie sie unten ausführt, ist es für die Ergebnisse der Erwerbsprozesse relevant, ob es ich um einen frühen Zweit-/Drittspracherwerb oder einen Zweit-/Drittspracherwerb im Jugend- oder Erwachsenenalter handelt:

„Im Alter bis zu etwa 7 Jahren eigenen sich Kinder die zweite Sprache vor allem intuitiv an, ähnlich wie die Erstsprache. Unter günstigen Erwerbsbedingungen gelingt der „muttersprachähnliche“ Erwerb der Zweitsprache mühelos […] In späteren Lebensphasen werden andere Erwerbsstrategien eingesetzt und die grammatischen Regeln der Zweitsprache werden gezielt gelernt. Die Spracherwerbsforschung hat gezeigt, dass es in einem höheren Lernalter schwerer ist und großer Motivation bedarf, um „muttersprachliche“ Kompetenz in einer Zweitsprache zu erwerben.“ (ebd.)

8 Keim (2012: 22) verwendet in Anlehnung an die Spracherwerbsforschung hierfür die Bezeichnung doppelter Ersterwerb. Sollte das Kind noch im Kleinkindalter drei Sprachen zu erlernen beginnen, durchläuft es einen dreifachen Ersterwerb.

9 Die Autorinnen verweisen im Rahmen ihrer Definition zum simultanen Spracherwerb auf die folgende Publikation: Lambeck, K. 1984: Kritische Anmerkungen zur Bilingualismusforschung.

Tübingen: Narr.

Ferner führen die Wissenschaftlerinnen Natascha Müller, Tanja Kupisch, Katrin Schmitz und Katja Cantone (ebd.) aus, dass in der Forschung kein Konsens darüber besteht, bis zu welchem Alter das Kind erstmals mit einer zweiten Sprache konfrontiert werden muss, um tatsächlich von einem simultanen Spracherwerb bzw. einem Bilingualismus ausgehen zu können. Während einige Forschungsarbeiten den Erwerb beider Sprachen von Geburt an voraussetzen, um von einem Bilingualismus sprechen zu können, meinen andere Publikationen, dass für die Verwendung des Begriffes lediglich ein Erwerbsbeginn zweier Sprachen innerhalb der ersten drei Lebensjahre zutreffen muss. Für die erstgenannte Forderung geben die Wissenschaftlerinnen eine Publikation von Houwer an, die im Jahr 1990 erschien. Nähere Angaben zu ebendieser Publikation fehlen im Literaturverzeichnis ihres Werkes jedoch.

14 Für die Pädagoginnen Solveig Chilla, Monika Rothweiler und Ezel Babur (2013:

30) ist folglich der Erwerb einer weiteren Sprache bereits ab dem Alter von circa zehn Jahren als Zweit- oder Drittspracherwerb Erwachsener zu sehen. Obwohl der Erwerb einer weiteren Sprache ab dieser Altersgrenze für die Lernenden schwieriger zu sein scheint, können die erworbenen Sprachkompetenzen der Sprecher_innen am Ende aber dennoch sehr unterschiedlich ausgeprägt sein. So kann es auch Erwachsenen durchaus gelingen, eine Sprache so gut zu erlernen, so dass ihre Sprachfertigkeiten denen von Muttersprachler_innen beinahe gleichen.

Allgäuer-Hackl, Jessner und Oberhofer (2013: 69-71) zufolge existieren in der Mehrsprachigkeitsforschung gängige Synonyme für die oben eingeführten Begriffe. Folglich finden sich in zahlreichen Publikationen anstatt der Begriffe Muttersprache/Erstsprache, Zweitsprache, Drittsprache etc. die Abkürzungen L1, L2, L3 und Ln wieder, wobei „L“ für das englische Wort „language“ steht.

Während die Abkürzung L1 als Synonym für die Begriffe Muttersprache und Erstsprache betrachtet werden kann, bezeichnen die Abkürzung L2 die Zweitsprache und die Abkürzungen L3-Ln Sprachen, die darüber hinaus gelernt werden – so z.B. Fremdsprachen. Im Falle von zwei Erstsprachen spricht Tracy (2008: 106) dann zum Beispiel von 2L1.

Neben den bisher eingeführten Unterscheidungen differenziert die Mehrsprachigkeitsforschung zwischen einem gesteuerten und einem ungesteuerten Spracherwerb. Während mit dem gesteuerten Spracherwerb das gezielte Erlernen von Fremdsprachen – in einer dafür künstlich geschaffenen Umgebung – gemeint ist, wird unter dem Begriff des ungesteuerten Spracherwerbs das Erwerben einer Sprache im Rahmen natürlicher Situationen im Alltag verstanden (Chilla; Rothweiler; Babur 2013: 30; Keim 2012: 22; Riehl 2014: 11). Bei näherer Überlegung scheint es jedoch ersichtlich, dass eine strikte Trennung der beiden Kategorien gesteuerter und ungesteuerter Spracherwerb – wie es auch Allgäuer-Hackl, Jessner und Oberhofer (2013: 69) hervorheben – einiges außer Acht lässt. So können auch Migrant_innen sowie deren Kinder, die die Sprache unter anderem im natürlichen Gespräch im Alltag erlernen, zusätzlich Kurse oder eine Schulbildung in der jeweiligen Zielsprache absolvieren (vgl.

Triarchi-Herrmann 2012: 20f.).

Riehl (2014: 12) weist darüber hinaus auch auf die gesellschaftlichen Bedingungen hin, in deren Rahmen Mehrsprachigkeit entsteht und gelebt wird.

15 So spricht die Mehrsprachigkeitsforschung zudem von individueller, gesellschaftlicher und institutioneller Mehrsprachigkeit.10 Hierzu schreibt Riehl (ebd.):

„Während sich individuelle Mehrsprachigkeit auf den einzelnen Sprecher bezieht, versteht man unter gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit den Sprachgebrauch in mehrsprachigen Staaten oder Regionen und unter institutioneller Mehrsprachigkeit die Verwendung mehrerer Amtssprachen in Institutionen.“11

Nachdem die verschiedenen Formen und Bedingungen des mehrsprachigen Spracherwerbs vorgestellt wurden, soll nun das von Allgäuer-Hackl, Jessner und Oberhofer (2013: 69) und Riehl (2014: 11) genannte Kriterium der sprachlichen Kompetenzen diskutiert werden.