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Vorhaben

6 Sinnvoll leben in der Kindheit

6.2 Folgen für die Kindheit

schaften etc. von vornherein klar, woran sich der/die andere(n) orientieren. Zugleich wird in dieser öffentlichen Kommunikation auch immer in Erscheinung treten, dass Sinnvorstellungen mit bestimmten Individuen und Gruppen verbinden, von anderen aber eben auch trennen. Gruppenidentitäten müssen auch nicht lebens-lang gelten. Zugehörigkeit könnte ein Mosaik aus stabilen Orien-tierungen und wechselnden Selbstverortungen sein.

Kindheitsforschung sich „überwiegend auf umfassende Fragestellun-gen wie die WandlunFragestellun-gen in der kindlichen Lebenswelt (konzentrier-te), bei der die Veränderungen der Lebensphase Kindheit im Zusam-menhang mit gesamtgesellschaftlichen Entwicklungstendenzen und unter generationsvergleichenden Perspektiven analysiert wurden, so lässt sich seit Beginn der 1990er Jahre ein Perspektivenwechsel er-kennen, der sich in einer Hinwendung zu detaillierten, fallbezogenen und biographieorientierten Forschungsdesigns ausdrückt.“374

Trotz dieser Einschränkungen erscheinen einige Verallgemeinerun-gen plausibel, denn „Vielfalt der Lebenswelten und Gemeinsamkeit von Generationserfahrungen schließen sich nicht aus, sondern bilden eine Spannungseinheit.“375

Als allgemeine Veränderungen in der Kindheit gelten:

- Familienformen sind vielfältiger geworden und in der Vielfalt gleichwertiger. Die große Mehrzahl der Kinder wächst zwar wei-terhin in „traditionellen“ Familien auf, sie wissen aber oft von der Existenz anderer Formen; diese werden nicht zwangsläufig abgewertet.

- Der mit der Entstehung der Familie seit dem 18. Jahrhundert verbundene Prozess der Intimisierung und Emotionalisierung hat noch zugenommen. Kinder haben für ihre Väter und Mütter mitt-lerweile einen hohen emotionalen Wert, demgegenüber ökonomi-sche Kriterien und Fragen der sozialen Anerkennung zweitrangig geworden sind. Kinder werden tendenziell vom „Erziehungsob-jekt“ zum „Beziehungspartner“. In dieser Rolle sollen sie vor al-lem Bedürfnisse nach Spontaneität, Intimität, Gefühlsverbunden-heit, Körperkontakt, etc. erfüllen.

- Der Typus der „Verhandlungshaushalts“ hat gegenüber dem „tra-ditionellen Befehlshaushalts“ zugenommen. Das führt zu einer Informalisierung der innerfamilialen Beziehungen, einem gestei-gerten Gewicht von Selbstkontrolle und größerem individueller Spielraum für Entscheidungen.

374 Krüger/Grunert in Behnken/Zinnecker (2001), S. 129f.

375 Preuss-Lausitz (1993) S, 40f.

- Bei den Kindern hat vor allem in der Freizeitgestaltung ein ratio-naler Handlungstypus zugenommen; mögliche Aktivitäten müs-sen gegeneinander abgewogen und ausgewählt, in der Umsetzung geplant und im Ergebnis reflektiert werden.

- Bei den Handlungsaktivitäten spielen zwar weiterhin Erwachsene eine beratende Rolle, generell ist aber die Vorbildfunktion von erwachsenen Bezugspersonen zurückgegangen, zumindest was die Altersgruppen etwa ab 10 Jahren betrifft376.

- Die öffentliche, institutionalisierte Gestaltung des Kinderlebens hat stark zugenommen. Dies bindet die Aktivitäten der Kinder an vorgegebene Orte und Zeiten und die pädagogischen Normen der Institutionen.

Mit dieser Entwicklung hat Kindheit viele Elemente von Selbstver-ständlichkeit, quasi Naturgegebenheit, verloren; als nicht-natürliche erscheint sie den Kindern zunehmend als gestaltbar, aber auch unge-sichert. Zugleich erfordert sie spezifische Gestaltungskompetenzen.

Die Veränderungen und die damit verbundenen Erfahrungen können einzelne Wahrnehmungen und Empfindungen gegenüber dem eigenen Leben beeinflussen. Das heißt dann z.B. für Zeit-, Interaktions- und Gestaltungserfahrungen als wichtige Erfahrungsdimensionen von Le-bensgestaltung:

1. Kinder erleben in verschiedenen Erfahrungsbereichen einen schnellen Wandel: Dies kann grundsätzliche Bedingungen wie z. B. Veränderungen im ökonomischen Status der Eltern oder Veränderungen in der Lebensform der Familie betreffen, aber auch Aspekte wie schnell wechselnde Kindermoden, was Outfit, Spielzeug, Kinderfilme usw. betrifft. Veränderungen wie die zu-erst genannten sind von den Kindern kaum beeinflussbar, wäh-rend sie bei dem Wandel in Kinderkulturen eher zwischen indi-viduellen Vorstellungen und sozialem Druck in der Gleichaltri-gengruppe abwägen können.

376 Siehe Untersuchung von Zinnecker/Silbereisen (1996), S. 195ff.

Schneller Wandel dürfte das Zeit- und Zukunftsempfinden der Kinder beeinflussen.

2. Das Verhältnis zur Zeit ist zugleich dadurch betroffen, dass Kin-der, verursacht von sinkender Geschwisterzahl und Verschwin-den der Straßenkindheit, zunehmend Freizeitgestaltung und Ent-wicklung von Freundschaften durch Zeitplanung und Zeitmana-gement fördern müssen. Das ZeitmanaZeitmana-gement wird z. B. durch Verabredungen und telefonische Kontakte umgesetzt bzw. flexi-bel verändert.377

3. Zeit- und Zukunftsvorstellungen dürften schließlich auch da-durch beeinflusst werden, dass Kinder da-durch Medien und Er-wachsenengespräche, von denen sie weniger als früher ausge-schlossen sind, mit Ereignissen von Kriegen und Katastrophen konfrontiert sind. Das Wissen um Bedrohungen und die entspre-chenden Empfindungen sind vermutlich verbreiteter als zu den Zeiten, in denen Kinder in einem pädagogischen Schonraum we-niger globale Bedrohungen verarbeiten mussten378.

4. Die Veränderungen im Familiengefüge sind oft beschrieben wor-den, so z. B. abnehmende Geschwisterzahl, Intensivierung der Eltern-Kind-Beziehung, Verhandeln als Erziehungsstil, vermehr-te Erfahrungen von Trennung und damit auch Aufbau neuer emo-tional wichtiger Beziehungen, u.a. Dies und weiteres dürfte bei Kindern dazu führen, dass von ihnen verstärkt Fähigkeiten zur Selbstwahrnehmung, zum Verbalisieren von Gefühlen, zur Be-gründung von Entscheidungen, zur Einfühlung in Verhandlungs-partner, zur Kontaktaufnahme gefordert werden.

377 Vgl. Diskowski/Preissing/Prott (1990), S. 98ff. Die Forschungsergebnisse von 1990 werden durch den zunehmenden Handy-Gebrauch sicherlich verstärkt.

378 Für Kinder mit Migrationshintergrund ist noch die besondere Situation zu berück-sichtigen, dass ggf. in ihren Herkunftsländern Krieg oder kriegsähnliche Verhältnis-se gegeben sind, die durch Erzählungen der Eltern oder FernVerhältnis-sehprogramme für ihr Erleben erhebliches Gewicht haben können.

5. Diese Interaktionskompetenz ist auch dann gefordert bzw. wird in dem Maße gefördert, wie die für die Entwicklung wichtige Gruppe der Gleichaltrigen - zumindest für die Freizeit - nicht einfach gegeben ist, sondern aktiv entwickelt werden muss. Dazu gehört auch der Aufbau von Freundschaftsnetzwerken. Diese In-teraktionskompetenz muss ggf. durch räumliche Mobilität er-gänzt werden, was zu größerer Selbstständigkeit, aber auch ggf.

zu größerer Abhängigkeit von Transportmöglichkeiten führen kann.

6. Zu den Interaktionserfahrungen gehört für immer mehr Kinder die Erfahrung von Verschiedenheit, was religiöse oder nichtreli-giöse Weltdeutungen, Lebensziele von Eltern, Erziehungsgebote und –Verbote, soziale Standards usw. betrifft. Diese Erfahrung von Verschiedenheit dürfte vor allem im Bereich der Schule, in der Kinder immer mehr Zeit verbringen, Gewicht haben; außer-halb der Schule bewegen sich Kinder vermutlich weiterhin in homogenen Milieus, was Familie, Kontakte der Eltern, eigene Spiel- und Freundschaftsbeziehungen usw. betrifft. Aber auch in heimischen Verhältnissen verschwindet nicht das Bewusstsein davon, dass andere Menschen „anders“ leben.

7. Ohne den steigenden Umfang von Kinderarmut379 zu ignorieren, lässt sich von der Mehrheit der Kinder sagen, dass sie in der Re-gel über eigene Kinderzimmer mit einer erheblichen Auswahl an Spielgeräten und eigenen technischen Medien verfügen. Erfah-rungen eines „Eigenen“ dürften hier möglich sein: Einen Raum mit eigenen Bildern gestalten, eigene Auswahl bei Musik und Spielprogrammen zu treffen, eine eigene Rückzugsmöglichkeit zu haben (die von Erwachsenen respektiert wird). Das Eigene auszuwählen und darzustellen - diese Möglichkeit dürfte bis zur Kleidung und zum Styling des eigenen Körpers reichen.

379 Siehe z. B. die Untersuchung von Holz u. a. (2005). Die Kinderarmut nimmt weiter-hin zu.

Nimmt man die anfangs skizzierten sechs allgemeinen Veränderun-gen380 in der Kindheit und die soeben aufgeführten sieben Aspekte381 zusammen, so lassen sich auch in den Lebenswelten der Kinder durchaus Merkmale dessen finden, was als „Sozialnorm des eigenen Lebens“ benannt wurde: Die Entscheidungsnotwendigkeiten, die Ak-tivitäts- und Fähigkeitspotentiale, die Reflexivität und die Entwick-lung einer biographisch gestützten Identität.

In den gesellschaftlichen Strukturen, in den Kinder aufwachsen, sind förderliche Bedingungen für die Entwicklung von Selbstständigkeit enthalten - sozial aber unterschiedlich verteilt. Immer mehr von ih-nen könih-nen, aber müssen auch selbständig werden, indem sie eine Vorstellung vom eigenen Leben entwickeln.

Damit erwächst der „Kernkonflikt für die Heranwachsenden nicht aus dem Leiden, was alles verboten sei, sondern daraus, was alles sie im Leben zustande bringen sollen.“382

Diese allgemeine Ambivalenz von Selbständigkeit im Allgemeinen gilt für Sinnfragen im Besonderen. Duncker fasst sie folgendermaßen zusammen:

„In den fast explosiv gewachsenen Möglichkeiten, individuellen Le-benssinn neu auszurichten und zu profilieren, ergeben sich immense Chancen nicht nur für den Entwurf persönlicher Identität. Auch für die kulturelle und religiöse Entwicklung kann eine neue Dynamik reklamiert werden. Die Endtraditionalisierung der Gesellschaft be-deutet für den Prozess der Kultur, dass die schöpferische Dimension gegenüber der bewahrenden an Kraft gewinnt. (…) Es ist jedoch leicht einsehbar, dass die neue Beweglichkeit und Flexibilität in der Konstruktion individueller, kultureller und religiöser Sinnwelten auch eine Kehrseite hat. (…) Die gewachsenen Chancen für die

380 Vielfalt von Familienformen, Intimisierung und Emotionalisierung von Familien, Verhandlungshaushalt, planvolle Freizeitgestaltung, geringere Vorbildfunktion von Erwachsenen, Institutionalsierung der Kinderwelten.

381 Erfahrung von Veränderung, Zeitmanagement, emphatisches Verhandeln, gefährde-te Zukunft, aktive Sozialkontakgefährde-te, Umgang mit Verschiedenheit, Selbstdarsgefährde-tellung.

382 Siehe Ziehe (1996), S. 36.

struktion von Sinn bringen gerade für den Einzelnen neue Belastun-gen mit sich, die ausgehalten werden müssen und neue Energien und Aufmerksamkeiten beanspruchen. Sinnsuche steht vermehrt unter dem Druck ständiger Selbstvergewisserung und reflexiver Rückkopp-lung mit der Erfahrung, die seismographisch (…) ausgewertet wird.

(…) Sinnfindungsprozesse in Kindheit und Jugend sind in Zeiten be-schleunigten Wandels von Lebensverhältnissen in diese spannungs-reiche Ambivalenz hineingeraten.“383