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3 „Sinn“ im staatlichen Ethikunterricht der Grundschule in sieben Bundesländern

3.3 Darstellung der sieben Rahmenpläne

3.3.7 Brandenburg

kleidet ist“ oder „Was der andere spielt“.117 Diese unterschiedlichen Wege, Kulturen zu bestimmen, setzen sich vielfältig fort.

(3) Im Thüringer Rahmenplan zeigt sich eine zwiespältige Verwen-dung der Vorstellung vom Eigenen. Einerseits orientiert sie sehr deutlich auf das Individuum und seine individuelle Entscheidung.

Andererseits identifiziert er die „eigene“ Kultur sehr einseitig mit bestimmten christlichen Traditionslinien.

Da werden dann auch Kinder aus anderen Ländern, deren Lebens-muster untersucht werden sollen, zu „Fremden“. Und nur in Bezug auf diese Fremden wird gefragt „Was will, kann, darf ich tolerieren und akzeptieren / nicht tolerieren und akzeptieren.“118

Unterschied zu der Darstellung der anderen Rahmenpläne werde ich deshalb auf dieses anregende Grundkonzept näher eingehen.

Denn das Überraschende und für die anstehende Thematik Interes-sante des Grundkonzepts ist die „Lebensgestaltung“, durch die neben die Gegenstandsbereiche „Ethik“ und „Religionskunde“, in die sich die meisten Inhalte der übrigen, hier dargestellten Lehrpläne einord-nen ließen, ein weiterer Lerngegenstand sehr grundsätzlich einge-führt wird.

Da „Sinn“ innerhalb der sog. Basisstruktur Lebensgestaltung auf-taucht, ist zu klären, was eine Basisstruktur ist. Edelstein (2001a, S 77) definiert:

„Basisstrukturen sind plausible Netze von grundlegenden Inhalten bzw. Handlungsweisen, die einen Wissensbereich bestimmen.“ Die drei Basisstrukturen Lebensgestaltung / Ethik / Religionskunde

„zeichnen den Aufbau basaler Bezüge des Menschen zu sich, zum anderen und zu einem Letztgültigen nach“.120

Sie sind fachdidaktische Konstruktionen; sie sind sowohl aufgrund einer Erkenntnisperspektive als auch in didaktischer Absicht entwor-fen.121

Ihr didaktischer Bezug ist fundiert in dem zentralen Gedanken der Kognitionspsychologie122, dass Subjekte lernen durch den Erwerb von Strukturen, mit deren Hilfe man Gegenstandsbereiche konstruie-ren und erfassen kann.

Der Bezug der Basisstruktur zur Fachwissenschaft bzw. den Fach-wissenschaften liegt in der Orientierung auf den Entstehungs- und Entdeckungszusammenhang wissenschaftlichen Erkennens, d. h. der Wissenschaftsbezug bleibt nicht auf die Rezeption und Auswahl der Forschungsergebnisse beschränkt. Da es auch zur Arbeit der Wissen-schaft gehört, mithilfe von Strukturen - also bereichsspezifischen

120 Kenngott (2005), S. 55.

121 Mit einer ähnlichen Funktion sind die fachdidaktischen Perspektiven in Kap. 8 die-ser Studie entworfen.

122 Edelstein (2001a) beruft sich auf J. Bruner in: ders. (2001a), S. 74.

Begriffen und Relationen, die sie verbinden - Erkenntnisse zu produ-zieren, bestehen zwischen den Wegen wissenschaftlichen Erkennens und den Fragen, Entdeckungen und Theoriebildungen der Schüler/-innen selbst methodisch keine prinzipiellen Unterschiede.

Basisstrukturen sind ein Instrument für Lehrer/-innen (und Wissen-schaftler/-innen), Themen zu erschließen und Erkenntnisse zu ermög-lichen. Sie sind nicht aufeinander reduzierbar bzw. miteinander aus-tauschbar. Indem sie auf einen Sachverhalt oder eine Erfahrung an-gewendet werden, machen sie lebensgestalterische, ethische oder re-ligionskundliche Dimensionen an eben diesem Lern- bzw. Erkennt-nisgegenstand deutlich. Allerdings gelten bei manchen Themen alle drei Basisstrukturen als produktive Erschließungen, manche Themen gelten aber auch als besonders für eine der Basisstrukturen prädesti-niert.

Dieser spezifische, fachdidaktische Status der Basisstrukturen und ihre doppelte Funktion ist m.E. eine der konzeptionellen Neuerungen für die Fundierung von „Ethik“ im weitesten Sinne als Unterrichts-fach. „Die (…) entworfenen Basisstrukturen für die Bereiche Le-bensgestaltung, Ethik und Religionskunde beanspruchen demzufolge nicht strukturisomorphe Lebens- oder Wissenschaftsbereiche zu sein.

Vielmehr wollen sie mögliche und insofern realitätsnahe Repräsenta-tionen der jeweiligen Sachbereiche sein, deren in didaktischer Ab-sicht entworfene Rekonstruktionen im Dienste der Entwicklung und des Unterrichts.“123

„Sinn“ ist wie erwähnt der Basisstruktur „Lebensgestaltung“ zuge-ordnet; ob man dabei noch zwischen dem subjektiven Bestreben nach einem sinnvollen Lebensziel und einem „Sinn des Lebens“ und ent-sprechenden Sinnsystemen, die dann zu „Religionskunde“ gehören würden, differenzieren muss, wird nicht eindeutig beantwortet.124

123 Ebenda, S. 75f.( Kursivierung im Original).

124 Man könnte eine Formulierung, dass die drei Bestandteile von LER in traditioneller philosophischer Terminologie den Fragen des guten Lebens, des richtigen Handelns und nach dem Sinn des Lebens entsprächen, so interpretieren. (vgl. ebenda, S. 71).

Es würde dann zwischen gutem und sinnvollem Leben entsprechend unterschieden.

Die Basisstruktur „Lebensgestaltung“ sieht in der Fassung für den Rahmenlehrplan Grundschule folgendermaßen aus125:

Obwohl die Basisstruktur L noch in vielerlei Hinsicht unklar ist126, gehe ich noch etwas näher auf sie ein, weil sich an ihr exemplarische Aufgaben und Probleme bei der didaktischen Konstruktion von

„Sinn“ deutlich machen lassen.

Der Kern der Struktur beinhaltet nicht, irgendeinen Sinn zu finden, sondern ihn zu konstruieren. Aber auch nicht dieser konstruierte Sinn selbst steht im Zentrum, sondern das „Bestreben“, also eine Intention und ein Prozess. Diese Prozessorientierung und Aktivität spiegelt sich auch in der sprachlichen Formulierung der den Kern umgeben-den Themenfelder wieder, wenn man von „Formen und Inhalte menschlicher Geselligkeit“ einmal absieht127.

125 Ministerium für Bildung (2004), S. 24. In der Formulierung des Kerns spricht der Rahmenlehrplan der SEK I statt von „Ablehnung“ vom „Scheitern“: Im ursprüngli-chen Entwurf des Wissenschaftliursprüngli-chen Beirats ist sogar von „Flucht, Scheitern, Sinn-losigkeit und Ekel“ die Rede.

126 So auch die Einschätzung ihrer Autoren: „Die Basisstruktur Lebensgestaltung weist vermutlich am wenigsten klare fachliche Umrisse auf. Nichtsdestoweniger scheint es möglich, ein kohärentes Konzept von L in LER zu entwickeln.“ Edelstein (2001a) S. 92.

127 Dies hieß ursprünglich (2001) auch „Geselligkeit gestalten“.

Formen und Inhalte menschlicher

Gesellschaft

Bewältigung von Krisen und Kontingenz Bestreben, ein sinnvolles

Lebensziel zu konstruieren und zu verfolgen

versus Ablehnung, Scheitern, Resignation gegenüber

einem solchen Ziel

Gestaltung von Le-bensgefühl und seinen Ausdrucks-formen

Prinzip Hoffnung:

Visionen vom eigenen Leben und von einer

gerechteren Welt Rückbesinnung und

Selbstwirksamkeit

Diese Intention kann man wohl als eine anthropologisch verortete Konstante128 ansehen, und nicht nur als ein spezifisches Phänomen z. B. des Jugendalters, was in der Entwicklungspsychologie häufig als zeitlich begrenzte Phase der Identitätssuche angesehen wird. Un-ter dieser Annahme erscheint es plausibel, sie als anthropologische - und eben nicht entwicklungspsychologische - Basisstruktur für die Konstruktion von Unterrichtsinhalten auch in der Grundschule anzu-setzen.

Der innere Kern ist als Dichotomie bzw. Spannungsbogen konzipiert, was an entsprechende Schemata zur Identitätsentwicklung von E. Erikson erinnert; allerdings ist diese Zweipoligkeit auch in den beiden anderen Basisstrukturen vorgesehen, wodurch sie dann zu ei-nem allgemeinen Muster für das Gelingen oder Scheitern des Auf-baus einer entsprechenden Struktur angesehen werden kann.

Dabei wird durch die Termini „Ablehnung“, vor allem aber „Resig-nation“ deutlich, dass die Autoren die Notwendigkeit des Bestrebens nach einem sinnvollen Lebensziel normativ postulieren.

Es wäre allerdings genauer zu klären, wann eine „Ablehnung“ vor-liegt: Wenn ich in Bezug auf begrenzte Zeiträume oder in Bezug auf bestimmte Lebensereignisse oder in Bezug auf ein gesamtes Leben darauf verzichte, nach Sinn zu fragen?

Kraus129 hat in anderem Zusammenhang die Zukunftsnarrationen und die darin enthaltenen Sinnvorstellungen empirisch bei achtzehnjähri-gen Juachtzehnjähri-gendlichen untersucht. In der Auswertung unterscheidet er zwischen drei Gruppen:

- Die erste Gruppe geht von einer Lebenshaltung aus, dass sich auf lange Sicht sinnvolle und bedrohliche Erfahrung in eine bejahen-de Bilanz summieren; Kraus nennt diese Sicht die bejahen-der dialekti-schen Versöhnung.

128 Lebensgestaltung hat eine „sozialwissenschaftlich und anthropologisch konstituierte Basis.“ Edelstein (2001a), S. 78.

129 Kraus (1996 ), S. 180ff.

- Eine zweite Gruppe verzichtet auf langfristige Lebensziele und plant Lebensabschnitte als zeitlich überschaubare Projekte; dies wird als „strategisch“ bezeichnet.

- Die dritte Gruppe schließlich lehnt stabile Sinnmuster ab und be-grenzt sich, z. T. ironisch hinsichtlich großer Sinnentwürfe, auf situationsspezifsche Handlungsweisen; für sie ist Leben ein Übergang zwischen Szenen; Kraus charakterisiert diese „situati-onsspezifische“ Gruppe als postmodernen Narrationstypus.

Auf dem Hintergrund solcher Untersuchungen empfiehlt es sich zu-mindest, die in der Basisstruktur angelegte Zweipoligkeit (Bestreben nach vs. Ablehnung von sinnvollem Leben) nicht auf eine Art anzu-setzen, die den Eigendeutungen der „Sinnkonstruierer“ und ihrem Umgang mit Sinn dann nicht mehr gerecht wird bzw. sie abwertet.

Für die Autoren der Basisstrukturen ist Lebensgestaltung vor allem durch die gesellschaftlichen Verhältnisse bedroht. „Es ist in der Tat schwierig geworden, sich im Wechselbad von Illusion und Desillusi-on ein sinnvolles Lebensziel zu setzen und Zukunft zu gestalten. Es fehlen die ‚großen Erzählungen’ und die tragfähigen Utopien.“130

Der Kern „sinnvolles Lebensziel…“ ist im Schema umgeben von fünf Themenfeldern - müßig zu spekulieren, warum es nun hier und bei den anderen Basisstrukturen gerade diese Anzahl ist. An anderer Stelle werden sie auch als „zentrale, normativ gewendete Kreise“131 bezeichnet.

Das normative Element wird bei „Prinzip Hoffnung“ am deutlichs-ten, wenn von einer gerechteren (Komparativ!) Welt die Rede ist.

Während in anderen Ethik-Konzeptionen, die stärker an Praktischer Philosophie orientiert sind, hier wohl „Glück“ thematisiert würde (und in religiösen Sinn-Konzeptionen „Gottgefälligkeit“ und

130 Edelstein u. a. (2001a), S. 92.

131 Ebenda, S. 85.

seits“), ist hier das visionäre Element auf gesellschaftliche Verhält-nisse bezogen und auf den Wunsch, dass das gelebte Leben ein „ei-genes“ sein möge.

Bei dem normativen Element wird auch deutlich, dass die Basiskon-struktionen in didaktischer Absicht entworfen wurden, also auch auf dem Hintergrund eines emanzipatorischen Bildungsbegriffs. „Erzie-hung kann es sich in dieser Situation zur Aufgabe machen, mit den Schülern neu und oft dramatisch subjektive Sinnentwürfe zu entfal-ten und so, gleichsam als geistiger Gegenentwurf, gegen den gesell-schaftlichen Strom zu rudern.“132

In den anderen Themenkreisen äußert sich die Bildungsabsicht bzw.

das Erkenntnisinteresse durch die Betonung von Funktionen und Fä-higkeiten, für die die Konstruktion von sinnvollen Lebenszielen Auswirkungen hat. Man könnte sie auch als Forderung nach und För-derung von entsprechenden Kompetenzen interpretieren.

Auffällig ist, dass in den Themenkreisen zumindest explizit zwei Elemente nicht enthalten sind, die in anderen Ethikkonzeptionen eine erhebliche Rolle spielen, nämlich die Erfahrung von Zeit und die Be-gegnung mit Natur.

Trotz einigem Klärungsbedarf erscheint mir die Konstruktion von

„L“ produktiv, gerade weil sie nicht einfach die Tradition der Frage-stellung aus der Philosophie als Bezugswissenschaft fortschreibt. Sie eröffnet verschiedene Dimensionen, in die das „sinnvolle Leben“

sich auffächert. Sie hat Ähnlichkeiten mit dem, was für die Didaktik des Lebenskundeunterrichts als Themenerschließung mithilfe von Sinnfragen vorgeschlagen wird.133

132 Ebenda, S. 94.

133 Vgl. hierzu ausführlicher in Kapitel 8.2.

3.4 Vergleichende Erörterung der Auswahl aus den