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11 M ÖGLICHE U RSACHEN DES GESCHLECHTSSPEZIFISCHEN B ILDUNGS -

11.2 Feminisierung des Bildungswesens

Dieses Argument schließt an die vorangegangene Kritik der fehlenden männlichen Rollen-vorbilder in der Familie an. Im Bildungssystem (West-) Deutschlands ist seit Jahrzehnten eine „Feminisierung“ zu beobachten. 48 Der Anteil weiblichen Lehrpersonals hat sich per-manent erhöht. Besonders hoch ist er an Grundschulen, also dort, wo die grundlegenden Lernkompetenzen angeeignet und richtungweisende Schulempfehlungen für den weiteren Bildungsweg der Kinder gegeben werden. Waren im Jahr 1960 noch lediglich 46 Prozent – und damit weniger als die Hälfte – des Lehrpersonals an Grundschulen weiblich, lag der Anteil 1990 bereits bei 67 Prozent. Durch die deutsche Wiedervereinigung – in den neuen Bundesländern ist der Grundschullehrerberuf noch stärker weiblich dominiert – erhöhte sich dieser Durchschnittswert nochmals deutlich. Gegenwärtig sind 86 Prozent aller an deutschen Grundschulen lehrenden Personen weiblich (Cornelißen 2005: 42).

48 In der DDR war der Beruf des Grundschullehrers (bzw. des „Unterstufenlehrers“) aus den in Kapitel 9 erläuterten Gründen stets stark weiblich dominiert.

0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100

1960 1970 1980 1990 2004

Anteil Lehrerinnen (Prozent) Insgesamt

Grundschulen

Abb. 29: Anteil Lehrerinnen am Lehrpersonal an allgemein bildenden Schulen in Deutschland in Prozent, 1960- 2004

Quelle: Cornelißen 2005: 47, eigene Darstellung

Da Lehrerinnen durch ihre zahlenmäßige Überlegenheit die Schulkultur prägten, sei es denkbar, dass sie Verhaltensweisen belohnen, die vor allem Mädchen im Laufe ihrer So-zialisation einüben. Im Gegensatz dazu könne typisch männliches Verhalten bei Lehrerin-nen eher Skepsis hervorrufen und als störend bewertet werden. Auch sei zu erwarten, das tatsächlich störendes Verhalten im Unterricht, das von Jungen häufiger als von Mädchen gezeigt wird, von Lehrerinnen negativer eingeschätzt wird als von Lehrern, wenn sie die eigene geschlechtsspezifische Sozialisation als Maßstab heranziehen. Jungen würden so häufiger als Mädchen zurechtgewiesen, während Mädchen die Unterstützung der Lehrerin-nen erhielten: „Dahinter steht das Stereotyp, Mädchen müssten vor Jungen beschützt wer-den, weil Jungen aggressiv und nicht schüchtern sind.“ (Budde/ Faulstich-Wieland 2004:

6). Auch würde der Unterricht, so die Kritiker der Feminisierung des Bildungswesens, häufig in einem „weiblichen Stil“ geführt, der männlichen Jugendlichen mitunter nicht gerecht wird. So weist z.B. Gudrun Spitta darauf hin, dass Jungen bereits ab der 3. Klasse im Deutschunterricht häufiger Geschichten schreiben, in denen ein Held Bedrohungen durch Feinde ausgesetzt ist und diese besiegt. Von Lehrkräften würden solche Geschichten jedoch oftmals als gewalttätig interpretiert und tendenziell schlechter bewertet (Spitta 1996: 23).

Der Einfluss der Verhaltenseinschätzung auf die Leistungsbewertung ist um so wahr-scheinlicher, da Grundschullehrer auch nach eigener Einschätzung nicht vorrangig die kognitive Leistungsfähigkeit ihrer Schüler zur Notenfindung heranziehen. Bei einer

Befra-gung von Grundschullehrern (Schumacher 2002) gaben lediglich 15 Prozent der Befragten an, in erster Linie die kognitiven Fähigkeiten ihrer Schüler zu bewerten49 (Schumacher 2002: 261). 94 Prozent der befragten Grundschullehrer gaben hingegen an50, gute Um-gangsformen und das positive Sozialverhalten von Schülern in die Beurteilung von Schü-lerleistungen einzubeziehen. Weil Mädchen von dem überwiegend weiblichen Personal als angepasster und kooperativer, zudem als sprachlich gewandter wahrgenommen würden, so Kritiker der Feminisierung des Bildungswesens, erhielten sie häufig bessere Noten und letztlich auch günstigere Schulempfehlungen als Jungen.

Verschiedene pädagogische Studien der vergangenen Jahre untermauern die Vermu-tung, dass geschlechtsspezifische Zuschreibungen seitens der Eltern und Lehrer und insbe-sondere eine hohe Bewertung sprachlicher Kompetenzen zum schlechteren schulischen Abschneiden von Jungen beitragen. So kommt die Studie QuaSUM (Qualitätsuntersuchung an Schulen zum Unterricht in Mathematik) für das Land Brandenburg zu dem Ergebnis, dass in der 9. Jahrgangsstufe (alle Schulformen zusammengenommen) bezüglich der kog-nitiven Lernvoraussetzungen, gemessen mit Hilfe eines Tests zum schlussfolgernden Den-ken (Culture Fair Intelligence Test – CFT 20) 51, keine Geschlechterunterschiede festzustel-len sind (Lehmann et al. 2001: 72). An Gymnasien wurde jedoch für Jungen ein höherer, an Realschulen eine geringerer Durchschnittswert dieser so genannten flüssigen Grundin-telligenz gegenüber den Mädchen festgestellt – Resultat einer Überrepräsentanz von Mäd-chen (auch solcher mit geringerer kognitiver Leistungsfähigkeit) an den Gymnasien und einer Unterrepräsentanz an den Realschulen Brandenburgs. Die Zuweisung der Schüler zu den einzelnen Schulformen erfolgte also offenbar nicht ausschließlich anhand der nonver-balen kognitiven Fähigkeiten:

„Offenbar ist also die ungleiche Verteilung der beiden Geschlechter auf die Schulfor-men und Kursniveaus auch von anderen Merkmalen als den nichtverbalen kognitiven Fä-higkeiten bestimmt. Die beobachteten schulformspezifischen Differenzen kommen dann so zustande, dass für die Jungen im Hinblick auf die gemessene Intelligenz die „Schwelle“ für den Übergang in eine anspruchsvollere Schulform oder ein anspruchsvolleres Kursniveau höher liegt. Will man nicht eine Benachteiligung der Jungen unterstellen, so müssen um-gekehrt die Mädchen Fähigkeiten und Verhaltensweisen aufweisen, die von den

49 Summe der Antworten „ganz genau zutreffend“ und „eher ja“

50 Summe der Antworten „ganz genau zutreffend“ und „eher ja“

51 Der Test CFT 20 erfasst mit dem schlussfolgernden Denken allgemeine kognitive Lernvoraussetzungen. Er besteht aus sprachfreien, in zeichnerischer Form dargestellten Einzelaufgaben im Multiple-Choice-Format. Seine Gestaltung macht diesen standardisierten Test vom Grad der Beherrschung der deutschen Sprache sowie von fachgebundenem Wissen und Können weitgehend unabhängig und gestattet die Beur-teilung von Diskrepanzen zwischen fachgebundenen Leistungen eines Schülers und dessen kognitiven Fähigkeiten.

ten besonders geschätzt werden und die vielleicht auch in manchen Fällen kompensierend eingesetzt werden können.“ (Lehmann et al. 2001: 72).

Nicht nur bei den Schulempfehlungen, auch bei der Notenvergabe im Unterricht wur-de wur-der Einfluss wur-des Geschlechts wur-des Schülers in wur-der Studie QuaSUM nachgewiesen. Da-nach erhalten Jungen im Fach Mathematik bei gleicher mathematischer Testleistung signi-fikant schlechtere Noten als Mädchen. Regressionsanalytisch nahm die Variable Ge-schlecht auf die Benotung der Arbeit in einer Stärke Einfluss, die (gemessen am Beta-Wert) einem Viertel des Gewichts der mathematischen Testleistung selbst entsprach:

„Die Jungen müssen vor allem im oberen Bereich höhere Testleistungen als die Mäd-chen erbringen, um die gleiche sehr gute oder gute Note zu erhalten. Selbst im „befriedi-genden“ Bereich sind noch deutliche Vorteile für die Mädchen zu erkennen.“ (Lehmann et al. 2001: 120).

Das Ergebnis dieser Untersuchung für das Land Brandenburg deckt sich dabei mit je-nen der LAU-Untersuchung, die im Land Hamburg einige Jahre zuvor für das Fach Deutsch gemacht wurde (Lehmann et al. 1996). Auch hier ergab sich, dass das weibliche Geschlecht – unabhängig von der tatsächlichen Leistung im standardisierten Deutsch-Test – regressionsanalytisch einen signifikant positiven Effekt auf die erzielte Deutschnote hat.

Schließlich wurde in der gleichen Untersuchung auch unmittelbar der Einfluss des Ge-schlechts auf die Vergabe von Gymnasialempfehlungen nachgewiesen. Demnach ist der durchschnittliche gruppenspezifische Leistungsstandard52, bei welchem Mädchen am Ende der 4. Jahrgangsstufe eine Gymnasialempfehlung erhalten, signifikant niedriger als bei Jungen.

Diefenbach und Klein (2002) haben den Zusammenhang zwischen der Bildungsbetei-ligung von Mädchen und Jungen mit dem Anteil weiblichen Lehrpersonals an Grundschu-len mit Hilfe von Aggregatdaten von Bundesländern statistisch untersucht. Sie konstatier-ten, dass Mädchen in allen Bundesländern häufiger die Hochschulreife als Jungen errei-chen und gleichfalls in sämtlierrei-chen Bundesländern mehr Jungen als Mäderrei-chen lediglich einen Hauptschulabschluss erreichen oder ohne Hauptschulabschluss bleiben (d.h. sie sind Schulabbrecher oder Sonderschulabgänger). Die größten Geschlechterdifferenzen weisen die neuen Bundesländer auf (vgl. Abschnitt 10.7.) Jungen haben, wie Dieffenbach und

52 Die Schulleistungen wurde mit einem standardisierten Test, dem so genannten KS Ham gemessen. Bei diesem Test benötigte ein Schüler in Hamburg im Durchschnitt 77,6 Punkte, um eine Gymnasialempfeh-lung zu erhalten. Während dieser Wert, der einem Schüler die Türen des Gymnasiums öffnet, für Mäd-chen bei 76 Punkten lag, mussten Jungen im Durchschnitt 80 Punkte erreiMäd-chen, um eine Gymnasialemp-fehlung zu erhalten.

Klein feststellen, in den neuen Bundesländern nicht nur gegenüber den Mädchen, sondern auch gegenüber den Jungen der alten Bundesländern schlechtere Schulabschlüsse.

Zur Erklärung dieses Bildungsgefälles überprüften Diefenbach und Klein (2002: 948) zwei Einflussfaktoren. Zum einen ist dies die zahlenmäßige Dominanz von Frauen im Grundschullehrerberuf und zum anderen die regionale Arbeitslosenquote. Hier wird argu-mentiert, dass in Zeiten (oder Regionen) mit wirtschaftlich schwierigen Bedingungen mög-licherweise Jungen früher als Mädchen ihre Schulkarriere beenden müssten, um durch Erwerbsarbeit zum Familieneinkommen beizutragen bzw. durch das rasche Erlernen eines Ausbildungsberufs in einem als relativ krisensicher eingeschätzten Gewerbe Fuß zu fassen.

Diefenbach und Klein (2002) konnten den statistischen Zusammenhang zwischen ei-ner Überrepräsentation von Jungen ohne Hauptschulabschluss bzw. die Unterrepräsentati-on vUnterrepräsentati-on Jungen mit Hochschulreife mit dem Anteil männlicher Grundschullehrer (in Voll-zeit) an allen Grundschullehrern sowie der Arbeitslosenquote auf der Ebene von Bundes-ländern belegen. Ihr Ergebnis: Je geringer der Anteil männlicher Grundschullehrer und je höher die Arbeitslosenquote, um so größer war die Benachteiligung von Jungen gegenüber den Mädchen im allgemein bildenden Schulsystem. Die interessanten Ergebnisse von Dief-fenbach und Klein bleiben jedoch zum Teil unbefriedigend. Zum einen ist unklar, warum sich eine regional hohe Arbeitslosenquote negativ auf den Bildungserfolg der Jungen, nicht aber den der Mädchen auswirken sollte. Zumindest für Länder mit geringem Entwick-lungsstand wird argumentiert, dass unter sozial schwierigen Bedingungen gerade die Bil-dung der Mädchen zurückgestellt wird. Zum Zweiten stellt eine statistische Analyse (Kor-relation) auf der Ebene von Bundesländern unter Einbeziehung relativ weniger Indikato-ren, wie von Dieffenbach und Klein vorgenommen, eine sehr angreifbare Grundlage für die genannten Hypothesen dar. Es stellt sich die Frage, ob nicht auch andere, in der Analy-se nicht berücksichtigte Faktoren für die Entstehung des Bildungsgefälles verantwortlich sein können.

Insgesamt existieren bisher nur Hypothesen, jedoch keine wissenschaftlich belastba-ren Belege, ob und in welcher Weise das schlechtere schulische Abschneiden von Jungen mit der Feminisierung des Bildungswesens in Zusammenhang steht.