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8 A LTERS - UND G ESCHLECHTSSELEKTIVITÄT DER B INNENWANDERUNG IN DEN

8.2 Europäischer Vergleich

Obst (2005) hat die Entwicklung der Geschlechterproportion bei jungen Erwachsenen für sämtliche Regionen der Europäischen Union (EU 25) untersucht. Analysiert wurde die Entwicklung der Geschlechterproportion von vier Geburtskohorten (1982-1986, 1977-1981, 1972-1976, 197-1971) im Untersuchungszeitraum von 1991 bis 2001. Dies ent-spricht gegen Ende des Untersuchungszeitraumes den Altersgruppen 15 bis 19 Jahre, 20 bis 24 Jahre, 25 bis 29 Jahre sowie 30 bis 34 Jahre. Zahlenmäßig erhebliche Wanderungs-bewegungen einer Geburtskohorte setzen in der Regel erst dann ein, wenn ihre Mitglieder das Ausbildungsalter – also mindestens das 16. Lebensjahr – erreicht haben. Die Analysen von Obst zeigen, dass die ostdeutschen Regionen im Jahr 1991 auch bei den zu diesem Zeitpunkt bereits potenziell wanderungsaktiven Geburtskohorten 1967-71 (1991 zwischen 20 und 24 Jahre alt) noch ein weitgehend ausgeglichenes Geschlechterverhältnis aufwie-sen. In keiner Region der neuen Bundesländer lag im Jahr 2001 das Verhältnis von Frauen

18 Die Klassifizierung NUTS 2 entspricht in Deutschland etwa den Regierungsbezirken.

zu Männern bei weniger als 94 zu 100. Der Männerüberschuss war zu diesem Zeitpunkt selbst in mehreren Regionen der alten Bundesländer größer.

Bis zum Jahr 2001 hat sich die Situation erheblich verändert. In den Geburtskohorten 1977-81 (2001 zwischen 20 und 24 Jahre alt) sowie 1972-76 (2001 zwischen 25 und 29 Jahre alt) weisen die acht Regionen der neuen Bundesländer (außer Berlin) den größten Männerüberschuss aller europäischer Regionen auf. In keiner der acht Regionen der neuen Bundesländer liegt das Verhältnis von Männern zu Frauen bei den 20 bis 24-Jährigen hö-her als 87:100. Eine unausgewogene Geschlechterproportion dieses Ausmaßes wurde im Jahr 1991 überhaupt nur von einer einzigen europäischen Region – einem ländlichen Ge-biet Griechenlands (Voreio Aigaio, 83:100) – erreicht. Damit hat sich in den neuen Bun-desländern in historisch kurzer Zeit ein Männerüberschuss bei den jungen Erwachsenen herausgebildet, der so großflächig in der Europäischen Union außergewöhnlich ist.

Tab. 8: Bevölkerungsentwicklung nach Geschlecht und Veränderung der Geschlechterproportion in den 20 zwischen 1991 und 2001 am stärksten von überproportionaler Abwanderung von Frauen betroffenen Regionen der Europäischen Union (EU25)

Geburtskohorte 1977-1981 Geburtskohorte 1972-1976 Geburtskohorte 1967-1971 Geburtskohorte 1977-1981 Geburtskohorte 1972-1976 Geburtskohorte 1967-1971 Geburtskohorte 1977-1981 Geburtskohorte 1972-1976 Geburtskohorte 1967-1971 Thüringen (D) -13,8 -20,2 -6,5 -4,9 -4,3 1,3 86,1 81,9 88,6 Datengrundlage: Obst 2005, eigene Darstellung; *Sortierung erfolgt aufsteigend nach der Geschlechterpro-portion der Geburtskohorte 1972-1976 (25 bis 29 Jahre) im Jahr 2001

In Tab. 8 ist die Entwicklung der männlichen und weiblichen Bevölkerung in den oben beschriebenen Altersgruppen zwischen 1991 und 2001 sowie die Geschlechterpro-portion im Jahr 2001 in jenen zwanzig europäischen Regionen dargestellt, in denen das Verhältnis von Frauen zu Männern in der Geburtskohorte 1972 bis 1976 am unausgewo-gensten war.

Sämtliche Regionen der neuen Bundesländer, mit Ausnahme von Berlin, führen hier die europäische Rangliste an. In den meisten Fällen hat sich die Geschlechterproportion

aufgrund genereller Abwanderung verändert. Betrachtet man sämtliche Geburtskohorten, so war fast immer ein (per Saldo) stärkerer Wegzug von Frauen gegenüber dem der Män-ner ursächlich für das Entstehen eines MänMän-nerüberschusses. Lediglich in der Geburtsko-horte 1967 bis 1971 hat es in zwei Regionen eine abweichende Entwicklung gegeben. In einer Region mit einer insgesamten Zunahme der Bevölkerung dieser Altersgruppe, in Brandenburg, hat sich die Geschlechterproportion dennoch verschlechtert – hier durch einen stärkeren Zuzug von Männern gegenüber Frauen. Eine weitere Region, Magdeburg, zeichnete sich durch eine leichte Abnahme der weiblichen bei gleichzeitiger Zunahme der männlichen Population aus.

In der Folge hat sich in sämtlichen Regionen der neuen Bundesländer (außer Berlin) ein erheblicher Männerüberschuss herausgebildet. In der Geburtskohorte 1972-1976 (25- bis 29-Jährige) errechnete Obst im Jahr 2001 für sämtliche neun ostdeutschen Regionen Geschlechterproportionen zwischen 81,9 (Thüringen) und 88,2 (Leipzig). Damit haben diese neuen ostdeutschen Regionen auch die unausgewogenste Geschlechterproportion und damit die größten Männerüberschüsse der europäischen Regionen in dieser Altersgruppe – lediglich Övre Norrland (Schweden) schiebt sich noch vor Leipzig auf Rang 9 der unaus-gewogensten Geschlechterproportionen. Ähnliche Werte wie Ostdeutschland erreichen zumeist nur Regionen im Norden Finnlands und Schwedens.

Obst (2005) legt dar, dass in vielen Regionen Europas eine hohe Mobilität der Alters-gruppen zwischen 18 und 25 Jahren, den Ausbildungs- und Arbeitsplatzwanderern, Nor-malität ist. Bei den 20- bis 24-Jährigen verzeichnen 2001 mehrere urbane Regionen wie etwa Utrecht, London, Bruxelles-Capitale, Hamburg oder East Wales mit Cardiff einen deutlichen Frauenüberschuss – vermutlich weil die dortigen Ausbildungsangebote vor allem für Frauen attraktiv sind. Die Entwicklung der Geschlechterproportionen über die einzelnen Alterskohorten hinweg kann man somit auch als Indikator für geschlechtsselek-tive, aber temporäre Ausbildungswanderungen interpretieren, die sich in fortgeschrittenem Lebensalter durch Rückzüge wieder normalisieren. So deutet die Veränderung der Ge-schlechterproportionen auf der finnischen Insel-Provinz Åland über die Geburtskohorten darauf hin, dass junge Frauen zunächst überproportional Åland verlassen, später aber, im Alter von 30 bis 34 Jahren wieder zurückkehren, weil sie in dem für die Insel bedeutenden Tourismus- und Dienstleistungssektor beschäftigt werden können. In fast allen Regionen ist der Männerüberschuss bei den 30- bis 34-jährigen deshalb geringer als in jüngeren Alterskohorten. Dies trifft auch auf die ostdeutschen Regionen zu. Dennoch bleibt die Geschlechterproportion auch in der ältesten untersuchten Altersgruppe, den zum

Untersu-chungszeitpunkt 30- bis 34-Jährigen, in sämtlichen ostdeutschen Regionen außergewöhn-lich niedrig. Dies zeigt, dass im Osten Deutschlands nicht nur die Abwanderung junger Frauen dauerhaft über jener der gleichaltrigen Männer liegt, sondern dass die Unausgewo-genheit der Geschlechterproportion auch durch Rückzüge nach einem möglichen Ausbil-dungsabschluss nicht wieder ausgeglichen wird.

Im Gegensatz zu den Regionen mit Frauendefizit existieren in Europa kaum Regionen mit einem ähnlich ausgeprägten Frauenüberschuss. Das Verhältnis von Frauen zu Männern übersteigt bei den 25- bis 29-Jährigen lediglich in zwei Regionen Europas den Wert von 110 zu 100.19 In Deutschland hat im Jahr 2001 der Regierungsbezirk Darmstadt (mit dem Rhein-Main-Gebiet) mit nur 100,3 zu 100 bei den 25- bis 29-Jährigen den höchsten Frau-enanteil. Dies deutet darauf hin, dass die Veränderung der Geschlechterproportion sich nicht durch die Präferenz der Frauen für bestimmte Regionen in den alten Bundesländern herausgebildet hat, sondern durch eine dauerhafte Vermeidung von Regionen im Osten Deutschlands.

Eine eigene Querschnittsanalyse (Abb. 7) von jüngeren Eurostat-Daten zur Geschlechter-proportion in den europäischen Regionen im Jahr 2004 gelangt zwar für nicht-deutsche europäische Regionen zu teilweise abweichenden Ergebnissen, bestätigt aber im Wesentli-chen die Resultate von Obst für die neuen Bundesländer. Unter den europäisWesentli-chen Regionen bei denen die Geschlechterproportion in der Altersgruppe der 20- bis 29-Jährigen unter 89 Frauen je 100 Männer liegt, sind auch anhand der EUROSTAT-Daten des Jahres 2004 alle ostdeutschen Regionen außer Berlin und Leipzig zu finden. Leipzig liegt dabei mit einem Geschlechterverhältnis von 91 zu 100 noch immer am unteren Rand der europäischen Regionen, lediglich Berlin hat ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis. In unserer Ana-lyse befinden sich unter den Regionen mit besonders unausgewogener Geschlechterpropor-tion allerdings mehr griechische Regionen als bei Obst. Der Ursache dieses abweichenden Ergebnisses kann an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden. Gerade für griechi-sche Regionen dürfte sich hier auch die Frage der Datenqualität stellen, da für Griechen-land die Zahlenangaben zwischen den einzelnen Jahren sehr stark schwanken.

19 In einem Fall handelt es sich um die selbe griechische Region, die im Jahr 1991 durch den europaweit niedrigsten Frauenanteil auffiel, was Zweifel an der Glaubwürdigkeit dieser Daten aufkommen lässt. Al-lerdings kommt auch eine stark männlich dominierte Zuwanderung, etwa aus dem krisengeschüttelten Albanien und Ex-Jugoslawien als Ursache für eine so deutliche Veränderung der Geschlechterproportion in Betracht.

Betrachtet man sämtliche europäischen Regionen, die im Jahr 2004 in der Altersgrup-pe der 20- bis 29-Jährigen eine besonders unausgewogene Geschlechterproportion von weniger als 89 Frauen je 100 Männer aufwiesen, so waren die betroffenen ostdeutschen Regionen mit insgesamt etwa 12,5 Millionen Einwohnern mit weitem Abstand die bevöl-kerungsreichsten. Fazit dieser europäische Analyse ist: Bezüglich geschlechtsselektiver Migrationen muss es in den neuen Bundesländern besondere strukturelle Bedingungen geben, die eine derart überproportionale Abwanderung junger Frauen in einem so großen und dicht besiedelten Gebiet auslösen.

unter 0,89 0,89 bis unter 0,94 0,94 bis unter 0,99 0,99 und mehr

Abb. 7: Geschlechterproportion in europäischen Regionen, 2004 (Frauen/ Männer, 20 bis 29 Jahre) Quelle: Eurostat; eigene Berechnungen, eigene Grafik

Nirgendwo in der Europäischen Union ist ein so bevölkerungsreiches Territorium wie die neuen Bundeslän-der von einer unausgewogenen Geschlechterproportion von weniger als 89 Frauen je 100 Männer im Alter von 20 bis 29 Jahren betroffen. Zwar wurden 2004 im Norden Finnlands und Schwedens sowie im Süden und Osten Griechenlands ähnliche Werte erreicht, allerdings sind diese Regionen dünn besiedelt und zeich-nen sich durch besondere Strukturschwäche aus.