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Fazit: Kritik des Stehens, Kritik des Gehens

Tūrangawaewae: „Ein Ort zum Stehen“ – Selbst- Selbst-positionierungen und Kritik im digitalen Zeitalter

6 Fazit: Kritik des Stehens, Kritik des Gehens

Die Frage nach dem Selbst ist auch:

„[…] eine Praxis andauernder Selbstbefragung, die die Art des Selbstverhätnisses nach Maß-gabe moralischer Vorschriften und damit den ethischen Selbstbezug des Individuums regelt.

Über Praktiken der Selbstvergewisserung, Geständnispraktiken nach dem Muster der Beichte stellt sich Selbsttransparenz her“ (Bublitz 2003: 23).

Durch Selbstbefragung setze sich das Individuum so in Bezug zu sich selbst.

Dieser Selbstbezug kann auch über Praktiken des Sich-Vergewisserns stattfin-den und ist gleichzeitig an ethische und moralische Standards gebunstattfin-den. Im vorangegangenen Teil wurde argumentiert, dass sich diese Selbstverhältnisse in den drei angeführten Beispielen an unterschiedlichen Praktiken zeigen.

Hierbei wurden die Bezüge zu den zuvor beschriebenen theoretischen Grund-annahmen deutlich. In der Ambivalenz der Rolle der Kritik, in Verbindung mit der Annahme des perpetuierten Moments, lassen sich so einige Schlussfolge-rungen ziehen, die ich an dieser Stelle darlegen möchte.

Kritisches Positionieren scheint in einer ambivalenten Rolle gefangen zu sein. Kritik wird durch die digitale Transformation aus zweierlei Gründen er-schwert. Zum einen kann ein kritisches Positionieren (ob zu sich selbst oder zu anderen) dann schwierig werden, wenn dieser Moment perpetuiert, d.h. vere-wigt wird. Die Sorge, etwas Falsches zu teilen, drohende Zensur und nicht transparente Konsequenzen usw. können so dazu führen, dass eine freie Arti-kulation verhindert werden kann (vgl. Hayes 2007; Thorson 2014; Kwon et al.

2015). Dies ist vor allem deswegen demokratiepolitisch bedenklich, weil nicht nur in sozialwissenschaftlicher Forschung, sondern auch im Grundgesetz, d.h.

im Gesetz zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht, die Notwendigkeit zum freien Ausdruck als Voraussetzung für die Persönlichkeitsentfaltung gesehen wird (BVerfG 15.12.1983 – Az. 1 BvR 209/83). Dessen Einschränkung gilt es somit zu verhindern - besonders in dem Moment, in dem die Daten von Akt-euren wie Facebook gespeichert und kuratiert werden und das Individuum nur noch beschränkte Kontrolle über die eigenen Daten besitzt (vgl. Hogan 2010).

Die Wichtigkeit des Rechtes auf Vergessenwerden, „the right to be forgotten“

(Mantelero 2013; Burkell 2016), wird hierbei deutlich.

Gleichzeitig scheint es so, dass durch die ständige Transformation und die Menge an Daten, die in digital-administrativen Strukturen gespeichert werden, ein einzelnes Datum schnell an Relevanz verlieren kann. So ist ein einzelnes Selfie neben einer Reihe an Selfies aus derselben Situation, bei denen die Un-terschiede marginal sind, nicht so bedeutend. Auch in Zusammenhang mit po-litischer Berichterstattung lässt sich feststellen, dass durch „communicative capitalism“ und dem Prinzip der „fantasy of abundance“ Nachrichten irrele-vant werden, indem sie nur noch Teil eines zirkulierenden Prozesses sind, der keine Antwort und Reaktion mehr erfordert (Dean 2008). Losgelöst vom Kon-text passiert das Folgende mit der Nachricht:

„Its particular content is irrelevant. Who sent it is irrelevant. Who receives it is irrelevant.

That it need be responded to is irrelevant. The only thing that is relevant is circulation, the addition to the pool“ (Dean 2008: 26)

Dies kann besonders in aktuellen politischen Kontexten beobachtet werden, wie am Beispiel Donald Trumps deutlich wird. Durch den Überfluss an Infor-mationen, die Beschleunigung von wechselnden Verhältnissen und politi-schem Geschehen auf globaler Ebene und ständig neuen Technologien, wird das ambivalente Verhältnis zum Artikulieren reifiziert. Die Artikulation an sich läuft Gefahr irrelevant zu werden und somit den Akt der Artikulation zu verhindern.

Die Rolle der Kritik scheint unter diesen Konditionen in derselben Ambi-valenz gefangen zu sein: zwischen der Sorge etwas Falsches zu äußern, auf unterschiedliche Meinungen zu treffen, und der Angst davor, den Standort nicht mehr wechseln zu können (um den Bezug zu Tūrangawaewae noch ein-mal deutlich zu machen) und dem Bewusstsein der möglichen Nutzlosigkeit von Kritik an sich, bedingt durch die Metapher des Fluiden, des ewig sich Ver-ändernden und Bewegten, das den Inhalt der Kritik irrelevant werden lassen kann.

Die Folgenden Umgangsformen, um dieser Ambivalenz entgegenzutreten, wurden in der Diskussion deutlich:

1. Selbstzensur: Empirische Studien haben verdeutlicht, dass eine Umgangs-form in der Selbstzensur liegt. So gaben Befragte an, Meinungen (zum Bei-spiel politischer Art) aufgrund möglicher Reaktionen und der Angst vor Konsequenzen in sozialen Netzwerken nicht zu teilen und sich selbst zu zen-sieren (vgl. Thorson 2014; Kwon et al. 2015). Somit laufen sie weder Gefahr sich auf etwas festzulegen, noch dass dieses Festlegen irrelevant wird.

2. Anonymisierung: Im Beispiel der Anti-Selfies ist der Rückbezug zur Person nicht möglich. Dadurch kann in unterschiedlichen Graden eine freie Artiku-lation gefördert werden. Die Gefahr des Ausgrenzens und Isolierens, die in der Theorie der Schweigespirale eine Rolle spielt, wird somit umgangen.

3. Kontrolle über die eigenen Daten: Das Recht auf Vergessenwerden in der Datenschutzgrundverordnung stellt ein Beispiel dafür dar, wie dem Indivi-duum Kontrolle über die eigenen Daten zugesprochen werden soll. Wie in den Critical Code Studies deutlich wird, ist Kontrolle über die eigenen Da-ten jedoch nicht nur an juristische Bedingungen gebunden, sondern vor al-lem auch daran, wie digitale Architekturen Praxen im Umgang mit diesen Daten hervorbringen (vgl. Cox 2012; Jörissen/ Verständig 2017). Das Ge-fühl der Kontrolle über die eigenen Daten kann somit auch das freie Äußern von Kritik und Partizipation beeinflussen.

Digitale Strukturen erfordern ein Zusammenspiel von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren. Dabei ist die Frage nach der Architektur dieser Struk-turen besonders deshalb wichtig, weil damit Aspekte von Kontrolle über die eigenen Daten sowie Möglichkeiten der Anonymisierung so gestaltet werden können, dass freies sich Ausdrücken und kritisches Äußern erleichtert wird.

Eine Reflexion dieser Bedingungen ist wichtig, um Räume zu schaffen, in de-nen Individuen der Akt eines (kritischen) Positionierens und Relationierens er-möglicht wird. Dies geschieht auf drei Ebenen: zum einen auf der individuellen Ebene des Selbst (verdeutlicht durch das Anti-Selfie Projekt und einer Refle-xion darüber, inwiefern und unter welchen Bedingungen eine Person gewillt

ist, unterschiedliche Arten an Informationen zu teilen). Zum zweiten wird deutlich, dass Privatheit und digitale Strukturen auch auf sozialer Ebene rele-vant sind. Schlussendlich ist eine Diskussion auf struktureller Ebene nötig, nämlich in Bezug auf juristische Rahmen und digitale Architekturen (Jöris-sen/Verständig 2017). Das Ziel dabei wäre, dass menschliche und nicht-menschliche Akteure zusammen digitale Praxen schaffen, bei denen ein gleichzeitiges Bedürfnis nach Bewegung sowie einem festen Standort im me-taphorischen Sinne möglich werden/sind. So können inhaltliche Debatten, Kri-tik und Selbstbezug bestmöglich erlaubt werden und es wird ein Raum geschaffen, in dem das Individuum, im Sinne des Tūrangawaewae, befähigt wird.

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