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Der ENIAC als Raum zur Entfaltung individueller Freiheit

Im Dokument Digitalisierung – Subjekt – Bildung (Seite 141-145)

Über den Widerstand zu coding publics

3 Der ENIAC als Raum zur Entfaltung individueller Freiheit

Die Rechnerinstallation war ihrer Zeit um Längen voraus und weist neben der mächtigen Installation eine weitere Besonderheit auf, denn die Schaltungen wurden damals von Frauen administriert. Es handelte sich dabei um eine spe-zifische Arbeit, die einiges an Vorwissen und Expertise erforderte. Nach Ab-bate (2015: 101) unterschied sich die Arbeit sogar in zweifacher Hinsicht von der Fabrikarbeit in der Kriegszeit. Zunächst gab es ein historisches Vorbild für die Beteiligung von Frauen in der Datenverarbeitung:

„In der wissenschaftlichen Welt waren menschliche ‚Computer‘ seit Jahrhunderten beschäf-tigt worden, um mit der Hand die Werte für mathematische Tabellen zu berechnen. […]

Bereits 1773 wurde Mary Edwards, ein weiblicher ‚Computer‘ von der britischen Regierung beauftragt, astronomische Tabellen für das nautische Jahrbuch zu berechnen. […] Während der Depression der 1930er nahm die US-Regierung ein Großprojekt über mathematische Ta-bellen in Angriff, um arbeitslosen Wissenschaftlern dadurch Arbeit zu verschaffen. Die tech-nische Leitung des Projekts hatte die Mathematikerin Gertrude Blanch, welche die Gruppe auch noch während des Zweiten Weltkriegs leitete, da sie verschiedene Kriegsprojekte rech-nerisch unterstütze.“ (ebd.)

Der zweite Unterschied sei nach Abbate in der beruflichen Eignung festzuma-chen, denn entgegen den meisten Einstellungen in Fabriken wurden „Frauen für die Computerarbeit auf Basis ihrer speziellen Fähigkeiten ausgewählt“

(ebd.). Es waren meist bestens ausgebildete Mathematikerinnen, die sich frei-willig für diese Arbeiten meldeten und dann einer speziellen Ausbildung auf die Projektarbeit am ENIAC vorbereitet wurden. Aufgrund der Geschlechter-diskriminierung standen Frauen mit mathematischer Ausbildung in den 1940ern nur begrenzte Karriereoptionen offen, weshalb sie schnell die Mög-lichkeit ergriffen, sich diesem Berufsbild zuzuwenden. Das Wissen über die Hardware sowie deren Anwendung ermöglichte den Programmiererinnen die effiziente Bedienung und die präzise Identifikation von Störungen (vgl. ebd.:

103). Die spezifische Expertise und die Freiheit, das Wissen über die Zusam-menhänge einzusetzen, ermöglichte den Frauen zum erzielten Ergebnis, der erfolgreichen Entwicklung von Programmen und Berechnung der Probleme zu gelangen. Bedeutend waren vor allem Improvisation, Neuanordnung der Auf-bauten und kreative Problemlösung, die im militärischen Kontext angesiedelt waren und wissenschaftliche Fragestellungen adressierten.

Wenn es den ENIAC nicht gegeben hätte, dann hätte die Entwicklung des Computers wohl eine andere Richtung eingeschlagen, wie Haigh et al. (2016:

4) anerkennend in ihrer historischen Betrachtung der Computerentwicklung festhalten. Denn der ENIAC erfüllte nach einigen Weiterentwicklungen im Jahr 1948 auch die Merkmale eines stored-program computers.5 Dabei handelt es sich um ein Prinzip, bei dem Daten und Programm im selben Speicher lie-gen. Dieses wird mit einem der Väter der Informatik, John von Neumann, in Verbindung gebracht, da so gut wie alle modernen Rechner in ihrer Architektur auf von Neumanns Konzeption beruhen (vgl. von Neumann 1993).

Doch abseits der technologischen Entwicklungen rund um die Konzeption und den Aufbau eines solchen universalen Rechners sind diese Entwicklungen historische Zeugnisse, die weitaus mehr als nur einen technologischen Fort-schritt beschreiben, indem Berufsfelder und Machtstrukturen in den Blick ge-nommen werden können.

Der Arbeitsalltag der Programmierinnen war mit dem Gang in den Rech-nerraum verbunden, in dem aufgrund der Architektur nicht selten erhöhte Tem-peraturen herrschten. Dennoch war es für die Mitarbeitenden an diesem militärischen Forschungsprogramm eine gewisse Freiheit, sich der Tätigkeit zuzuwenden, da sie der eigenen Karriere zuträglich war, denn es handelte sich um ein elitäres Team von sechs Frauen, die ausgewählt wurden, um am ENIAC

5 Ursprünglich musste der ENIAC für jedes Programm neu verkabelt werden. Dieser Aufwand war, wie bereits beschrieben, enorm und beschreibt gleichzeitig den architektonischen Schwachpunkt des ENIAC. Der Zuse Z3 konnte hingegen seine Befehle von einem Loch-streifen einlesen. Mit der Anpassung zu einem Computer mit Befehlsspeicher wurde später der Zeitaufwand für die Verkabelung eingespart, jedoch verringerte sich die Rechenleistung des ENIAC signifikant. Der Umbau stellte insgesamt trotz alledem einen Zeitgewinn bei der Berechnung unterschiedlicher Programme dar.

zu arbeiten. Dazu gehörte allerdings eine recht zeitintensive Konfigurations-phase der Vorbereitung, die entgegen der arithmetischen und logischen Prob-lemlösung weniger fordernd war und damit den Anschein verstärkte, dass die Bearbeitung eine eher niedere Arbeit der Maschinenpflege darstellte (vgl. Ab-bate 2015: 103). Gleichwohl hält Gürer (2002: 117) fest, dass gerade die Prob-lemlösung und das Zusammenspiel von Hard- und Software ein hohes Maß an intellektueller Leistungsfähigkeit abforderten und außerdem eine körperliche Beanspruchung darstellten. Ganz gleich, wie diese Ambivalenz in der Beurtei-lung der Arbeitsqualität ausgelegt wird, sind die nötigen mathematischen Vor-kenntnisse in diesem und damals auch anderen ähnlichen Projekten unterschätzt worden (vgl. Abbate 2012: 24).

Es ist diese Hingabe, die eine gewisse Faszinationskraft auf alle beteiligten Programmiererinnen ausstrahlte, wie Fritz (1996) und Abbate (2015) sehr deutlich einholen. So hebt Abbate beispielsweise unter Einsicht von Archiv-dokumenten die persönlichen Eindrücke der Beteiligten hervor, wenn sie auf die „spannende Erfahrung“ hinweist, die Jean Jennings, eine der Pionierinnen und Teil des sechsköpfigen Teams der Programmiererinnen dieser Zeit, aus-führlich beschreibt (Abbate 2015: 103). Die Mathematikerinnen sprachen über nichts Anderes mehr, so Jennings (vgl. ebd.). Die Begeisterung für die Arbeit mit dem ENIAC entstand insbesondere aus dem erwachsenden Möglichkeits-raum zur eigenen Entfaltung der erworbenen Fachkenntnisse und dem Be-schreiten eines bisher unbekannten Feldes, dem der Programmierung eines elektronischen digitalen Rechners.

„It was something new! I mean, I didn’t know what it was, but I knew that it was boring sitting there and pounding the calculator, and [ENIAC] was something new. And I always believed that I could do anything as well as anybody else, if I were on an even footing.”

(Interview Jean Jennings durchgeführt von Janet Abatte aus dem Jahr 2001 zitiert nach Ab-bate 2012: 24)

Die hohe Faszinationskraft, die mit der Lösung von Problemen, also der Kon-figuration von Hard- und gewissermaßen Software in einem abgeschlossenen Raum einhergeht, kann als die individuelle Freiheit gelesen werden, die sich trotz der gesellschaftlichen Strukturen auftat und so dazu beigetragen hat, dass die Mathematikerinnen eine selbstbewusste und stolze Haltung entwickeln konnten. Eine solche Haltung wird in einem weiteren Interviewauszug mit Jen-nings deutlich:

„Occasionally, the six of us programmers all got together to discuss how we thought the machine worked. If this sounds haphazard, it was. The biggest advantage of learning the ENIAC from the diagrams was that we began to understand what it could and what it could not do. As a result we could diagnose troubles almost down to the individual vacuum tube.

Since we knew both the application and the machine, we learned to diagnose troubles as well as, if not better than, the engineer.” (Fritz 1996: 20)

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der ENIAC zu der Zeit, in der die Programmiererinnen angeworben und ausgebildet wurden, noch nicht fertig war, sondern nur als Konzept existierte und auch keine Dokumentationen oder Handbücher über die Bedingung des Rechners erstellt wurden. Die Pro-grammiererinnen mussten die Maschine genau kennen und die Wirkweise stu-dieren, um Schwachstellen der Architektur im Betrieb identifizieren zu können. Das Wissen über diese Zusammenhänge hat dazu geführt, die berufli-chen Grenzen zu erweitern und an neue Perspektiven über die Arbeit an diesem Rechneraufbau zu gelangen. Dies brachte auch die Herausbildung von spezifi-schen Kompetenzen mit sich.

Die unter anderem aus den Umständen des zweiten Weltkriegs heraus ent-standene Rolle der Frauen am ENIAC verdeutlicht zeithistorisch einige we-sentliche Entwicklungen und zeigt in ganz besonderer Weise auf, dass Computer schon damals nicht nur maschinelle Systeme, sondern auch stets eingebettet in soziale Praktiken waren. Es sind die Programmiererinnen des ENIAC, die nicht zuletzt zur Entwicklung der heutigen Computerarchitektur beigetragen haben. Vor dem Hintergrund der mangelnden weiblichen Vorbil-der in Vorbil-der IT-Branche (vgl. Beede et al. 2011) ist eine solch historische Rück-besinnung von gesteigerter Bedeutung, denn die Vorbilder sind da und haben – ganz in der Tradition von Ada Lovelace – einen beachtlichen Beitrag zur Entwicklung des Computings geleistet, die eine lange Zeit weitgehend unbe-merkt blieb. Die frühe Vorannahme, dass das Programmieren eine einfache und monotone bzw. routinebehaftete Angelegenheit sei, wurde mit der Ge-schichte des ENIAC widerlegt. Das Programmieren dieser Maschine erforderte ein umfassendes und tiefgreifendes Verständnis der Programme und ihrer An-wendung sowie der zu Grunde liegenden Hardware (Gürer 2002: 119).

Die hier dargestellten Aspekte machen zweierlei deutlich: Zum einen er-forderte die Arbeit mit den Widerständen in Form der Elektronenröhren spezi-fische Problemlösungsstrategien, die von den Programmiererinnen immer wieder neu entwickelt werden mussten. Zum anderen haben die am ENIAC-Projekt beteiligten Frauen die Computerentwicklung entscheidend mitgeprägt, die damit eine emanzipatorische Dimension beherbergt. Erst viele Jahre später wurde die Leistung des Teams in der wissenschaftlichen Community durch Auszeichnungen, teilweise posthum, gewürdigt.

Im Dokument Digitalisierung – Subjekt – Bildung (Seite 141-145)