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Entwicklungslinien der Digitalisierung, bzw. des Netzes

Im Dokument Digitalisierung – Subjekt – Bildung (Seite 195-200)

familienorientiert, ortsunabhängig und #freilernend

4 Entwicklungslinien der Digitalisierung, bzw. des Netzes

Turner (2006) beschreibt eine Entwicklungslinie des Web ab der Bewegung der Gegenkultur in den USA der 1960er Jahre bis hin zur New Economy. In dieser werden Ideen und Akteursnetzwerke des Libertären grundgelegt. Darin findet sich der Wunsch nach weniger Staat und Bürokratie sowie nach Indivi-dualisierung und Privatisierung. Sie findet Aufwind im Prozess der Ökonomi-sierung des Webs ab Mitte der 90er Jahre.

Auch die hier als zweite Entwicklungslinie beschriebene Form (die im Text zwar nur holzschnittartig von der ersten getrennt wird, tatsächlich aber andere

Praktiken und Qualitäten aufweist), die kollaborative Entwicklung der techni-schen Infrastruktur des Netzes, bzw. der offenen Protokolle, findet zunächst weitgehend außerhalb staatlicher Regulierung statt. Diese zweite Entwick-lungslinie zeichnet sich durch die Suche nach neuen Formen demokratischer Praxis aus.19 Beide Entwicklungslinien sind nicht deterministisch zu verstehen, sondern sind historische Entwicklungen, die anders hätten verlaufen können und kontingent sind. Auch lassen sich weitere identifizieren.

Zur ersten Entwicklungslinie: Fred Turner zeichnet in seiner Arbeit „From Counterculture to Cyberculture“ (2006) das Entstehen eines digitalen Utopis-mus nach, der bereits im Aufkommen einer Gegenkultur in den USA der 60er Jahre gründet. Ermächtigender Individualismus, individuelle Freiheit, Selbst-bestimmung, Freiheit vom Staat, kollaborative Netzwerke von Peers, flache Organisationen, spirituelle Gemeinschaften auf dem Lande, Hippietum und Authentizität wurden, ausgehend vom Free Speech Movement, zum Gegen-entwurf zu zentralisierter Autorität und Kontrolle des Industriezeitalters sowie zur Technokratie des kalten Krieges und des Vietnam Krieges, die in Bürokra-tie und Großrechnern gesehen wurde. In dieser Utopie sollten Staaten dahin-schmelzen und parteienbasierte Politik einer natürlichen Agora im digitalen Raum weichen. Im Cyberspace wollte man eine demokratischere Praxis ent-werfen als sie in jedwedem Nationalstaat existiert. In den 90er Jahren wurde diese Utopie verknüpft mit den aufkommenden Computern, die von Individuen genutzt werden konnten,20 mit Computernetzen und schließlich mit dem öf-fentlichen World Wide Web. Man könne sich unter Peers Nachrichten zusen-den, Informationen von allen Bibliotheken der Welt abrufen, jeder könne seine eigene Meinung publizieren (Turner 2006). Die neuen Technologien sollten helfen, die zentralistische Bürokratie des industriellen Zeitalters und die Rati-onalisierung des sozialen Lebens zu korrodieren und Individuen zu befreien.

Um diese sozio-technische Vision zum Erfolg zu bringen brachte Stewart Brand unterschiedlichste Akteure und Netzwerke in der Whole Earth Group zusammen: ehemalige Hippies, Vertreter der gegenkulturellen Bewegung, Ge-schäftsleute, Finanzanalysten, rechte Politiker, Entrepreneure und Künstler so-wie Repräsentanten der Telekommunikationsindustrie (Turner 2006).21 Mit dem ökonomischen und sozialen Erfolg des Netzes wurde auch seine transfor-mative Kraft evident, die sich in dem realisierte, was als New Economy be-zeichnet wurde:

19 Während des Schreibens des Beitrags erfahre ich über einen Beteiligten an der Netzwent-wicklung, dass kommerzielle Interessen den demokratischen Prozess ein Stück weit unter-laufen haben.

20 Der erste Macintosh wird bei seiner Einführung 1984 von Apple als Gefährte und Rebell angepriesen.

21 Shoshana Zuboff beschrieb bereits auch die Möglichkeit, das Individuum stärker in Organi-sationen zu einzubinden und zu überwachen (vgl. Turner 2006).

„According to a raft of politicians and pundits, the rapid integration of computing and tele-communications technologies into international economic life, coupled with dramatic rounds of corporate layoffs and restructuring, had given rise to a new economic era. Individuals could no longer count on the support of their employers; they would instead have to become entrepreneurs, moving flexibly from place to place, sliding in and out of collaborative teams, building their knowledge bases and skill sets in a process of constant self-education. The proper role of government in this new environment, many argued, was to pull back, to de-regulate the technology industries that were ostensibly leading the transformations, and, while they were at it, business in general. Proponents of this view included telecommunica-tions executives, high-tech stock analysts, and right-wing politicians.“ (Turner 2006: 7) Auch in Deutschland fällt die frühe Nutzung des Internet in den 90er Jahren mit der Einführung neuer Konzepte von Arbeit und Arbeitsorganisation zu-sammen, z.B. die kontinuierlichen Verbesserungsprozesse (KVP), die Forde-rung nach FlexibilisieForde-rung der Arbeitsmodelle und -zeiten, Eigenverantwortung, das zielorientierte Führen – trotz zeitbasierter Arbeits-verträge. Telearbeit, Telekooperation und die Virtualisierung von Organisati-onen versprechen sowohl mehr individuelle Freiheit, stellen zunehmend aber auch Belastungen, neue Verantwortlichkeiten und Risiken für Arbeitneh-mer°nnen dar: etwa die Entgrenzung von Arbeit und Freizeit, die stetige Wei-terbildung als Erfordernis, Outsourcing oder Schließung des eigenen Arbeitsbereichs trotz hoher individueller Leistung, erwartete Flexibilität und Mobilität, schwindende Zugehörigkeit und so weiter. Beschäftigte arbeiten zu-nehmend agil und eigenständig. Neben Freiheiten stellt dies auch Zumutungen dar.

Der soziale Erfolg des Netzes bestand auch darin, Angebote für Gruppen zu machen, die nicht technikaffin waren. Zum Geschäftsmodell wurden im Laufe der Entwicklung nicht länger der Zugang zum Netz, sondern die Daten, die bei der Nutzung automatisch generiert werden (Möller, im Erscheinen). In dieser Entwicklung wurden Daten zur Sache an sich, zur Realität und Res-source (Allert/Richter 2018). Aus dem Gegenentwurf zu Bürokratie und Tech-nokratie entstand im Prozess des ökonomischen Erfolgs und in den neuen Akteursnetzwerken auch die New Economy mit neuen Anforderungen an Menschen (Turner 2006), das Libertäre, heute in Form der sogenannten Platt-form- bzw. Internetökonomie und des digitalen Datenkapitalismus. Aus der individuellen Freiheit, der Ermächtigung des Individuums entwickelte sich auch ein forcierter Individualismus. Nach Turner ist dies nicht die Verkehrung einer gegenkulturellen und gemeinschaftsorientierten Bewegung in ihr Gegen-teil, denn Transnationalität, Deregulierung, Ökonomisierung, Individualisie-rung und PrivatisieIndividualisie-rung sind früh grundgelegt. Im Folgenden nimmt der Beitrag unter der Formulierung New Economy Bezug auf diese Entwicklungs-linie und Form der Digitalisierung.

Im digitalen Nomadentum wird das Verlassen jedweden Staates und das Einlassen auf digitale Ökonomie in Form des Daten- und Plattformkapitalis-mus zum Lebensmodell von Individuen. Das Libertäre wird als Lebensstil in-dividualisiert und als kulturelle Praktik bereits wieder vergemeinschaftet.

Individuen erachten Ansprüche, Logiken und Umgangsweisen, die Plattform-konzerne formulieren, auch für das eigene unternehmerische Selbst als legitim.

In den Äußerungen digitaler Nomaden wird explizit das Verlassen der Gesell-schaft, des Systems hervorgehoben, während privat organisierte, temporäre Ge-meinschaften aufgesucht, über Facebookgruppen koordiniert und über Instagram vernetzt werden. Es gibt Coachings zu familienorientiertem Busi-ness (in dem Online-Selbstständigkeit und Kinderbetreuung vereinbar sind), es existieren Podcasts zum Thema staatenfrei und die letztendliche Begründung eigener Entscheidungen wird oft und explizit in den Bedürfnissen der eigenen Familie (nicht der nachwachsenden Generation) und im authentischen Selbst, bzw. im Individuum verortet. Das Individuum kann in dieser Denkweise seine Bedürfnisse wahrnehmen, wenn es seinen wahren Kern freilegt, indem es sich befreit von gesellschaftlichen Erwartungen und Glaubenssätzen. Der Argu-mentation liegt damit auch ein bestimmtes, essentialistisches Identitätsver-ständnis zugrunde. Wird Individualisierung jedoch als sozio-kultureller Prozess gefasst, so lässt sich die hier zunächst skizzierte Form der Digitalisie-rung auch als eine Form der SubjektivieDigitalisie-rung begreifen: Individuen und Inter-netökonomie sind als sozio-techno-ökonomische Konstellationen konstitutiv miteinander verwoben.

Im digitalen Utopismus wird Technologie explizit als eine verändernde Kraft diskutiert (technology as a force) um eine ideale Gesellschaft, qualitativ neue soziale Beziehungen und die Ermächtigung des Individuums herbeizu-führen (Turner 2006). Das Technikverständnis digitaler Nomaden lässt sich demgegenüber als naturalistisch bezeichnen. Technologien erscheinen als ver-fügbare, funktionale und transparente Infrastruktur. Diese Form der Digitali-sierung, die Plattformökonomie, erscheint als einzige Entwicklungslinie und als zwangsläufig. Auf Instagram postet ein digitaler Nomade: Ich werde oft gefragt, ob man mit den bekannten digitalen Geschäftsmodellen noch Erfolg haben kann, oder ob es schon zu spät ist, und ich antworte dann, dass das erst der Anfang ist und dass wir in Zukunft alle so arbeiten werden. Individualis-mus ist demzufolge nicht auf wenige Individuen begrenzt. Die Geschäftsmo-delle sind vermittelbar und erlernbar. Sie werden in Coachings Schritt für Schritt erklärt. Der Schlüssel zum Erfolg wird im Mindset und im Hinterfragen der Glaubenssätze der Gesellschaft, der Eltern und Schule gesehen. Das Mindset der stetigen und verinnerlichten Selbstoptimierung ist unternehme-risch und individualistisch. Es besteht darin, sein eigenes Selbst als Unterneh-mung zu begreifen und diese UnternehUnterneh-mung kontinuierlich zu optimieren, zur

besten Version seiner Selbst zu werden. Die Plattformen erlauben, Visionen zu artikulieren und spielen eine Rolle in der Identitätsgenese. Die Strukturen, Me-chanismen und Netzwerkeffekte der Plattformen werden konstitutiv.

Die zweite Entwicklungslinie, die hier skizziert werden soll, ist charakteri-siert durch das Fortbestehen der Vision demokratischer, kollektiver und eman-zipativer Praxis. Sie wird in vielfältigen Initiativen erprobt. Sie ist nicht hegemonial, ihre Praktiken sind idiosynkratisch und lokal. Prominente Bei-spiele sind die Entwicklung offener Protokolle der Netzinfrastruktur, die Open Source Entwicklung des Betriebssystems Linux sowie das kollaborative Schreiben der Wikipedia. Sie zeichnen sich durch Formen der kollektiven Ar-beit aus, deren Organisation gemeinschaftlich entworfen und gesteuert wird.

Die Kollaboration erbringt Produkte, die gemeinsamen Anliegen und Erfor-dernissen gerecht werden. Was keinen Konsens findet, wird nicht (weiter-)ent-wickelt. Auch technofeministische Ansätze zeichnen sich durch das Anliegen der Selbstermächtigung aus:

„Anliegen, in denen sich der Wunsch nach Werden, nach Beziehungen und Austausch, nach Ko-Existenz und Für/Sorge, nach Aufmerksamkeit und Teilhabe, Liebe und Empathie ent-äußern. Anliegen, die Feminist_innen und Ökolog_innen schon immer untersuchungs- und theoriewürdig fanden. (...) Bedürfnisse nach Commoning und Teilen, Präsenz, Affekt und Immersion mit den anderen als neue Werte artikuliert worden sind – und dies vor der Folie von technischer Innovation und Wirtschaftswachstum, wo Werte der Sorge und Gefühle lä-cherlich gemacht und feminisiert werden.“ (Volkart 2018: 169)

Fürsorge soll über die eigene Person und enge familiäre Beziehungen hinaus gehen. Die Aktivitäten sind explizit politisch und zielen auf Veränderung. Sey-mour verbindet dies mit queer values: „queer values – caring not (just) about the individual, the family or one’s descendants, but about the Other species and person to whom one has no immediate relations may be the most effective ecological values“ (2013: 27). Kollektive als Träger von Kapazitäten und Kompetenzen entwerfen qualitativ neue Praxen wie die des Collective Re-sistance (z.B. Syrian Archive, Forensic Architecture, VFRAME)22, des Coun-ter Narrative, des crowdbasierten investigativen Journalismus23, der Citizen Science und Multistakeholder-Modelle der Mitbestimmung. Sie stehen für die produktive Zusammenarbeit großer Gruppen und medial vermittelter epistemi-scher Formen. Sie basieren auf Handeln und Lernen als kollektivem Prozess, auf Commoning als sozialer Form und Commoners als Subjektivierungsform (vgl. Bryant et al. 2005). Ein Anliegen, das viele teilen, wird zum Momentum und Katalysator für gemeinsame Handlungen und (Micro)Beteiligungen (Gil-bert 2013). Kollektive Handlungskompetenz, many to many Kommunikation, artefaktbasierte Kollaboration und die gemeinsame Generierung und Pflege 22 Vgl. die Seiten https://syrianarchive.org, https://forensic-architecture.org, https://vframe.io.

23 Vgl. https://www.bellingcat.com/.

von Wissen sind zentrale Bestimmungsstücke crowdbasierter Konzepte (Rei-chelt et al. 2019). Bereits die technische Entwicklung des offenen Netzes wurde durch eine Organisationsweise in sehr großen Gruppen und Netzwerken strukturiert (Kleinwächter 2004). Rough Consensus und Request for Com-ments wurde als produktiver und praktischer Gegenentwurf zu Bürokratie ver-standen: In quasi herrschaftsfreier Kollaboration sollten neue Ideen und Lösungsansätze entstehen, die in frühen Stadien implementiert wurden. Tim Berners-Lee, Erfinder des Web, hält 1999 die Prinzipien des Webs fest, die Dezentralisierung sichern sollen, u.a. offene Protokolle, die Netzstruktur, die hierarchischen Strukturen vorzuziehen ist, die moralische Verantwortung der Informatiker (männliche Form im Original) und, dass Computer genutzt wer-den können, um im Hintergrund Aufgaben zu erledigen, damit Gruppen besser zusammenarbeiten können. (Berners-Lee 1999) Heute wirbt Tim Berners-Lee für die Re-Demokratisierung und Dezentralisierung des Webs, entwickelt An-sätze in einem Projekt Namens Solid,24 das Nutzer°nnen die Kontrolle über ihre Daten zurückgibt und dezentrale Strukturen stärkt.

Zwischen diesen beiden Entwicklungslinien bestehen wechselseitige Be-züge. Sie voneinander zu trennen und zu beschreiben soll erlauben, blinde Fle-cken in der Debatte um digitale Bildung und Digitalisierung aufzuzeigen:

Erstens handelt es sich um sozio-techno-ökonomische Konstellationen. Ob-wohl Digitalisierung per se als gesellschaftliche Transformation bezeichnet wird, ist diese Transformation keine unidirektionale und einheitliche. Während die erste Entwicklungslinie innerhalb der Logik ökonomischer Optimierung bleibt, bestehende Regeln genutzt, ausgenutzt und damit stabilisiert werden, werden in der zweiten die Regeln im kollaborativen Arbeiten gemeinsam ent-worfen und Alterativen in großen Gruppen erprobt. Für die erste Entwick-lungslinie stehen Plattform- und Datenmonopole, für die zweite offene Protokolle und Dezentralisierung. Dem Individualismus, bei dem Lösungen und Ziele in der eigenen Person und Familie verortet werden, steht das Konzept des Caring im Technofeminismus gegenüber.

Was unter Digitalisierung verstanden wird, wird in Modellen digitaler Bil-dung und in Medienkompetenzmodellen kaum konkretisiert. Deutlich wird, dass die Verbreitung des Web mit der Entwicklung der New Economy, der Veränderung von Arbeit, verbunden ist. Belastungen und erforderliche Kom-petenzen lassen sich nicht aus den Technologien ableiten, sondern stehen in Zusammenhang mit den Entwicklungen der Arbeitswelt und sozialen Prozes-sen. Die New Economy zielt zunehmend auf die Eigenverantwortung des In-dividuums. Das Individuum ist nicht Ausgangspunkt, sondern Effekt dieser Entwicklung. In der zweiten Entwicklungslinie ist das Kollektiv die zentrale Kategorie.

24 Vgl. https://solid.inrupt.com.

Im Dokument Digitalisierung – Subjekt – Bildung (Seite 195-200)