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Epistemologische Grundlagen: die numerische Taxonomie

4.3 Die Salzburger Dialektometrie

4.3.2 Epistemologische Grundlagen: die numerische Taxonomie

Die Salzburger Dialektometrie versteht sich als Anwendung der Prinzipien der numerischen Taxonomie bzw. Taxometrie (engl. numerical taxonomy bzw. taxometrics) 244 auf die Sprach-geographie. Diese geht in ihrer modernen Form auf die US-amerikanischen Biologen P. H. A.

Sneath und R. R. Sokal (1963)245 zurück und steht als quantitatives Klassifikationsverfahren der qualitativen, essentialistisch ausgerichteten Typologie246 gegenüber. Während es sich bei letzterer um ein konzeptuell-deduktives (top-down) Klassifikationsverfahren handelt, arbeitet die numerische Taxonomie induktiv (bottom-up), d.h. auf der Basis real beobachtbarer Objekte

242 Zu nennen sind hier u.a. der Atlas Linguistique de la France (ALF, vgl. u.a. Goebl 1984, 1993a), der Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz (AIS, vgl. u.a. Goebl 1984, 2007), der Atlas Lingüístico de la Penín-sula Ibérica (ALPI, vgl. Goebl 2013a), der Atlas Lingüístic del Domini Català (ALDC, vgl. Goebl 2013b), der Computer Developed Linguistic Atlas of England (CLAE, vgl. Goebl 1997a, b), der Sprachatlas der Deutschen Schweiz (SDS, v̌l. Goebl/Sc̍errer/Smečka β01γ) sowie der am Fachbereich Romanistik der Universität Salz-burg selbst erstellte Atlant linguistich dl ladin dolomitich y di dialec vejins (ALD I, vgl. u.a. Bauer 2004, 2005, 2009). In einer Erweiterung des ursprünglichen Forschungskonzepts wurden daneben auch metasprachliche Daten zur subjektiv empfundenen dialektalen Ähnlichkeit dialektometrisch ausgewertet und das Ergebnis mit jenem der dialektometrischen Analyse objektiver Sprachdaten verglichen (vgl. Goebl 1993b, 1995, 2002, 2006b).

243 Vgl. dazu Goebl (1993c: 277f.) und Bauer (2009: 85f.).

244 Synonym dazu werden u.a. die Termini numerische Klassifikation/numerical classification (z.B. Vogel 1975, Sneath/Sokal 1973) und automatische Klassifikation (z.B. Bock 1974) verwendet. Unter dem Begriff

‚Klassifikation‘ kann sowohl der Prozess der Klassenbildung als auch als das Ergebnis dieses Prozesses verstanden werden. Stehen die verwendeten numerischen Klassifikationstechniken im Vordergrund, wird der Terminus numerische Taxonomie teilweise auch mit dem Begriff der Clusteranalyse (cluster analysis) gleichgesetzt (Bauer 2009: 7).

245 Die der taxometrischen Klassifikation zugrunde liegenden Prinzipien (vgl. Sneath/Sokal 1973: 5) finden sich in ihren Grundzügen bereits bei dem französischen Botaniker Michel Adanson (1727-1806), der ̍äufǐ als „Va-ter“ der numerisc̍en Taxonomie aňese̍en wird (v̌l. Sneat̍ 1λθ4). Die moderne numerisc̍e Taxonomie, de-ren Entwicklung in den 1950er Jahde-ren begann und die von der fortschreitenden (Weiter-)Entwicklung elektroni-scher Rechenanlagen profitieren konnte (vgl. Vogel 1975: 19), geht jedoch über die Ideen Adansons hinaus:

„[T]o ̍ave to rely on ɑdanson’s views for a validation of modern numerical p̍enetics seems as irrelevant as to rely on εendel’s writiňs for a validation of t̍e findiňs of t̍e molecular ̌eneticists“ (Sneat̍/Sokal 1λιγμ β4).

246 Die klassische Typologie geht mit Aristoteles davon aus, dass sicheres Wissen von den Dingen nur über die Kenntnis ihres Wesens bzw. ihrer Essenz gewonnen werden kann. Die Klassifikation von Objekten geschieht hier auf der Basis der logischen Division, die die Definition der Essenz eines Objektes, die Bestimmung seines Genus, d.h. desjenigen Teils der Definition, in dem diese mit den Definitionen anderer Objekte übereinstimmt und der Differentia, d.h. des Teils der Definition, der für andere Objekte nicht gilt, umfasst (vgl. Cain 1958:

145). Einer der bekanntesten Anwendungsfälle der klassischen Typologie sind die Klassifikationen des schwedi-schen Botanikers Carl von Linné (1707-1778), in denen er die bis heute verwendete wissenschaftliche Nomen-klatur in der Botanik und der Zoologie einführte. Die Merkmale, die der Klassifikation im Bereich der Sprachen-typolǒie zǔrunde ̌elět werden, sind ̍äufǐ morp̍olǒisc̍er σatur (Untersc̍eiduň zwisc̍en „flektieren-den“, „ǎ̌lutinieren„flektieren-den“, „isolieren„flektieren-den“, „introflektierenden“ und „polysynt̍etisc̍en“ Sprac̍en). Das Haupt-problem einer auf dem Prinzip der logischen Division beruhenden Sprachentypologie besteht darin, dass sich die Klassifikation hier auf wenǐe εerkmale besc̍ränkt, „von denen […] nic̍t einmal gezeigt werden kann, dass sie tatsäc̍lic̍ wesentlic̍ sind […]“ (Altmann/Lehfeldt 1973: 22).

und gehört damit zu den empirischen Wissenschaften (vgl. Sneath/Sokal 1973: 5).247 Im Ge-gensatz zur klassischen Typologie – bei der alle einer Klasse angehörenden Objekte alle Merk-male besitzen, durch die die Klasse definiert ist – werden in der numerischen Taxonomie diejenigen Objekte oder Gegenstände zu einer Klasse zusammengefasst, die eine große Anzahl gemeinsamer Merkmale aufweisen oder bei denen viele Merkmale ähnlich ausgeprägt sind (vgl.

Altmann/Lehfeldt 1973: 27).248 Ziel der numerisc̍en Taxonomie ist es mit̍in, „eine εeňe von n Objekten, die durch m Merkmale charakterisiert sind, so in disjunkte Teilmengen, die Klassen genannt werden, zu zerlegen, daß die eine Klasse bildenden Objekte einander hinsichtlich aller m Merkmale in einem bestimmten Sinne mö̌lic̍st ä̍nlic̍ sind“ (Vǒel 1λιημ 347).249 Die zugrunde liěende ɑnna̍me ist dabei, dass „im zu klassifizierenden Datensatz ein System von Ähnlichkeiten existiert, das durch geeignete Verfahren erkannt werden kann“

(ebd.).

Die numerische Klassifikation liefert den übrigen empirischen Wissenschaften – und damit auch der Dialektometrie – das met̍odisc̍e „Handwerkszeǔ“, „um aus einer vorgege-benen Objekt- und Merkmalskonstellation abstrakte Integrate, eben Typen, abzuleiten“ (Goebl 1984a: 13). Die das Verfahren konstituierenden Etappen sind

a) (kontrollierte) Datenreduktion (und damit –verdichtung), b) Mustererkennung,

c) Klassenbildung und

d) Gewinnung und Überprüfung von Hypothesen und Theorien (ebd.). 250

247 „[δ]es sciences expérimentales sont très loin de pouvoir connaʤtre parfaitement l’essence des c̍oses qu’elles étudient. Elles ne peuvent pas en effet parvenir à une notion proprement distincte de cette essence, elles n’en ont jamais qu’une notion confuse ou purement descriptive, et ne la connaissent pour ainsi dire qu’à l’aveǔle, ̌râce à des sǐnes indirects“ (Maritain 1987: 200). Wissenschaftsgeschichtlich geht der Gegensatz zwischen der essenti-alistisch-deduktiven und der empirisch-induktiven Forschungsperspektive zurück bis zum mittelalterlic̍en „Uni-versalienstreit” zwisc̍en ɑn̍äňern des Platonismus („das Allgemeine existiert unabhängig vom Menschen:

universale ante rem“, Goebl 1λκ4μ 1γf.) und des σominalismus („das ɑlľemeine existiert nur als ɑbstraktion des mensc̍lic̍en Geistesμ universale post rem“, ebd.).

248 In dieser Beschreibung wird – wie auch in anderen Beiträgen zur numerischen Taxonomie – der Terminus

‚εerkmal‘ in ambiger Weise verwendet, d.h. er bezeichnet sowohl die Kategorien, im Hinblick auf welche die Objekte klassifiziert werden, als auch die Ausprägungen, die die verschiedenen Objekte im Hinblick auf eine Kategorie aufweisen. In der vorliegenden Arbeit werden beiden Bedeutungen terminologisch unterschieden (s.u.).

249 Dieses Prinzip wird auc̍ als „σatürlic̍keit“ der Klassen und eine solche Klassen generierende Klassifikation als „natürlic̍e Klassifikation“ bezeic̍net. Die Idee der ɒilduň „natürlic̍er Klassen“ (natural system), die be-reits die typologische Arbeit Linnés kennzeichnete (vgl. Cain 1958: 154ff.), wurde in der taxonomischen Forschung insbesondere von Gilmour (1937 u.a.) diskutiert. Einen Überblick geben Sneath/Sokal (1973: 18ff.).

250 Wie jede andere Klassifikationsmethode beinhaltet auch eine numerische Klassifikation ein subjektives Ele-mentμ „Sie wird im Hinblick auf ein vor̍er festgesetztes Forschungsziel von einem Wissenschaftler konstruiert, wobei dessen t̍eoretisc̍er Standpunkt und Erudition aussc̍lǎ̌ebend sind“ (ɑltmann/Lehfeldt 1973: 50). Die Tatsache, dass Klassifikationen immer in Abhängigkeit von der zugrunde liegenden Theorie bzw. im Hinblick auf ein bestimmtes Forschungsziel durchgeführt werden, hat den elementaren Umstand zur Folge, dass (auch bei gleicher Zielsetzung) unterschiedliche Klassifikationsverfahren zu unterschiedlichen Resultaten führen können.

Dies bedeutet wiederum, dass „jedes Klassifikationsergebnis nur im Hinblick auf den Zweck oder das Ziel, das damit erreicht werden soll, beurteilt und verstanden werden kann“ (Vǒel 1λιημ 1η)μ „‚Ric̍tǐe‘ oder ‚falsc̍e‘

Klassifikationsergebnisse gibt es (in der Regel) nicht, sondern nur mehr oder weniger ‚brauc̍bare‘“ (ebd.). Will man eine möglichst allgemeine Klassifikation erstellen, so muss sie so gestaltet sein, dass sie eine möglichst große Anzahl an Merkmalen berücksichtigt und die generierten Klassen ein Maximum an Information über die klassifizierten Objekte enthalten (Sneath/Sokal 1973: 5).

In der Dialektometrie handelt es sich bei den zu klassifizierenden Elementen bzw. Objekten um die Messpunkte eines Sprachatlasses (bzw. im abstrakteren Sinn um die jeweiligen lokalen Dia-lekte) und bei den Merkmalen bzw. Eigenschaften um die sprachlichen Kategorien bzw. Phä-nomene, im Hinblick auf welche die Messpunkte klassifiziert werden, während die an den jeweiligen Messpunkten notierten sprachlichen (d.h. phonetischen, lexikalischen, morphologi-schen oder (morpho-)syntaktimorphologi-schen) Realisierungsformen die Merkmalsausprägungen darstel-len. Ziel der dialektometrischen Analyse ist es, durch die Synthese einer möglichst großen Menge sprachlicher Einzeldaten die Beziehungen – d.h. die gesamtsprachlichen (bzw. phoneti-schen, lexikaliphoneti-schen, morphologischen und/oder (morpho-) syntaktischen) Ähnlichkeitsverhält-nisse – zwischen den Messpunkten eines Sprachatlasses bzw. den jeweiligen Dialekten heraus-zuarbeiten und durc̍ deren Visualisieruň „zur Freilegung bzw. Entdeckung höherrangiger (i.e.

sprachtypologisch relevanter) quantitativer Raummuster zu ̌elaňen […]“ (Goebl β00ιμ 1λ4).

Möglich wird dies dadurch, dass Sprachatlasdaten durch ihren matrizenartigen Aufbau (n Mess-punkte x p Atlaskarten) Massendaten darstellen und damit Tiefenstrukturen enthalten, die mit-tels numerisch-taxonomischer Verfahren an die Oberfläche gebracht werden können (Goebl 2011: 23). Die einzelnen Schritte der dialektometrischen Verfahrenskette, wie sie sich in der S-DM etabliert hat (s. Abb. 6) werden in den folgenden Kapiteln erläutert.

Abbildung 6. Flussdiagramm der dialektometrischen Verfahrenskette (Goebl 2007: 197).