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Die Problematik der dialektalen Binnengliederung

3.2 Geschichtlicher Überblick

3.3.5 Die Problematik der dialektalen Binnengliederung

In der bisherigen sprachgeographischen Forschung ist nicht nur das Problem der Abgrenzung des kampanischen Dialektgebietes nach außen, sondern auch die Frage der dialektalen Binnen-gliederung noch nicht geklärt worden. Die Feststellung, die bereits Pellegrini (1977, S. 31:

„εanca una suddivisione scientifica dei dialetti campani […]“) und ̌ut zehn sowie fünfzehn Jahre später Radtke (1988 und 1993, S. 445: „Eine solide Klassifikation der kampanisc̍en Mundarten steht aus […]“) trafen, ist also nac̍ wie vor aktuell. Die Schwierigkeit einer Klas-sifikation der kampanischen Dialekte ergibt sich insbesondere daraus, dass sich in der Region eine „komplexe[…], oftmals ̍eterǒene[…] Verteiluň von dialektalen ɒesonder̍eiten“

(Radtke 1993: 444) zeigt, was angesichts der zahlreichen sprachlich-kulturellen Einflüsse, die im Laufe der Geschichte auf das sprachliche Profil der Campania eingewirkt haben (vgl. Kap.

3.2), nicht verwundert.

Pellegrini (1977: 31) unterscheidet in der Campania (einschließlich des heute zum süd-lichen Latium gehörenden Gebietes) zwar vier Dialektgruppen – das laziale meridionale (IVa), das irpino (IVb), das napoletano (IVc) und das cilentano (IVd) – gibt jedoch weder sprachliche

Kriterien für diese Klassifikation noch entsprechende geographische Areale an.156 Andere Klas-sifikationen verzichten ganz auf eine Gliederung anhand bestimmter sprachlicher Merkmale und ̌reifen „aus ɒequemlic̍keit“ (De ɒlasi β00θμ 4η) auf ̌eǒrap̍isc̍e oder administrative Kriterien (Provinzgliederung) zurück.

Die Gesamtschau der geographischen Verbreitung verschiedener phonetisch-phonolo-gischer, morphologischer und lexikalischer Varianten (vgl. Kap. 3.3.4) weist auf eine Zweitei-lung des kampanischen Dialektgebietes hin, wobei ein Gebiet die heutigen Provinzen Neapel und Caserta sowie das westliche Sannio Beneventano umfasst (nach Radtke (1993: 447) die sprachlic̍ „ältere“ bzw. konservative Zone), während sich das zweite Gebiet über das östliche Sannio, die Irpinia und das Cilento erstreckt und sich im Osten bis nach Apulien und im Süden bis in die Basilicata hinein ausdehnt (ebd.μ sprac̍lic̍ „jüňere“ bzw. innovative Zone). Als Grenze zwischen beiden Gebieten kann nach Radtke (ebd.) die von Avolio (1989) postulierte

„δinie Salerno-δucera“ gesehen werden, ein Isoglossenbündel, das zehn (drei phonetisch-phonologische, vier morphologische und drei lexikalische) Isoglossen beinhaltet, die sich zwischen Salerno und Eboli auffächern (s. Karte 11-13):157

(1) Resultat von lat. CI: [t ] (westl.) vs. [t ] (östl.) in braccio und faccio, dagegen [t ] (westl.)

(4) Flexionssuffix zur Markierung der 1. und 3. Pers. Sg. des indicativo imperfetto: -evə (ve-nevə) (westl.) vs. -ìa (venìa) (östl.),

(5) Tempus in der Apodosis (am Beispiel der Formen für die 1. und 3. Pers. Sg.): Nachfolger des lat. Konjunktiv Plusquamperfekts auf -ESSE (congiuntivo imperfetto: facessə) bzw. der Konstruktion FACERE + HABEBAM (condizionale presente: farrìa/facciarìa) (westl.) vs.

Nachfolger des lat. Indikativ Plusquamperfekt auf -ERA (condizionale presente: facera)159 (östl.),160

156 Den einzigen (vagen) Hinweis auf die Lokalisierung der Dialektgebiete stellt die Position der Nummern der Dialektgruppen auf der zugehörigen Karte dar: IVa (laziale meridionale) findet sich in der Region Latium, zwi-schen Frosinone und Sora (bei Isola d. Liri), IVb (irpino) bei Atripalda (AV), IVc (napoletano) bei Neapel und IVd (cilentano) bei Laurito (SA).

157 Für ɑvolio stellt diese „δinie“ die westliche Grenze der lukanischen Dialekte dar (dementsprechend lautet der Titel des ɑufsatzes von 1λκλ „Il limite occidentale dei dialetti lucani nel quadro del gruppo «altomeridionale»:

considerazioni a proposito della linea Salerno-Lucera“).

158 ɑls „uňefä̍re“ nördlic̍e Grenze des Gebietes, in dem [tts] dominiert, nennt bereits Ro̍lfs (1λθθμ γκλ) die

„δinie“ (hier im Sinne der Luftlinie) zwischen Salerno und Lucera. Da die Ost-West-Verteilung der Varianten jedoch nicht einheitlich ist (s.o.) und die Lexeme unterschiedliche Isoglossenverläufe zeigen, ist (abgesehen von den grundsätzlichen methodischen Unzuläňlic̍keiten des Konzepts der „Isǒlosse“, vgl. Kap. 4.1.2) die An-nahme einer einzigen Isoglosse hier jedoch (besonders) fragwürdig. Die kartographische Darstellung Avolios (1989: 19) zeigt dementsprechend auch nicht eine Isoglosse [t ]/[t ] bzw. [t ]/[t ], sondern den Isoglossenver-lauf für jedes einzelne der berücksichtigten Lexeme (braccio, faccio, pazzo, zitto).

159 In der 1. Konjugation (Infinitivendung -à) lautet die Endung der 1. und 3. Pers. Sg. im condizionale presente -ara, vgl. Marano Festa (1928: 184).

160 Hierbei handelt es sich also eigentlich um die Kombination einer morphologischen Isoglosse (Flexionsendun-gen im condizionale presente) mit einer (morpho-)syntaktischen Isoglosse (consecutio temporum in hypotheti-schen Konstruktionen).

(6) maskuline Form des Personalpronomens der 3. Pers. Sg.: issə < lat. ĬPSU(ε) (westl.) vs.

iddə < lat. ĬδδU(ε) (östl.),161

(7) Form des Reflexivpronomens der 1. Pers. Pl.: cə < HINCE (westl.) vs. nə < INDE (östl.):

cə verimmə ‚ci vediamo‘ vs. nə verimə,

(8) ɒezeic̍nuň von ‚culla‘μ cònnələ (westl.) vs. naca (östl.),

(9) ɒezeic̍nuň von ‚civetta‘μ ciuciuvettələ (westl.) vs. cuccuvaia (östl.), (10) ɒezeic̍nuň von ‚domani‘μ rimanə (westl.) vs. craiə (< CRAS) (östl.).162

Vor allem die Isoglossen (1), (2) und (7) sind nach Radtke (1993: 447) „geeignet, für einen Teil Süditaliens eine Binnengliederung vorzulegen“, aus der sich für Kampanien die genannte Zweiteilung ableitet (ebd.). Die Isoglossen (6), (7) und (10) verschieben sich nach Avolio (1989: 11) in jüngerer Zeit Richtung Osten, d.h. es liegt eine Vergrößerung des Verbreitungsge-bietes der Formen isse ‚quello‘, cə‚ci‘ und rimane ‚domani‘ und ein entsprechender Rückgang der Varianten idde ‚quello‘, nə ‚ci‘ und craiə ‚domani‘ vor.163

Beim visuellen Vergleich der Isoglossenkarten wird das Problem deutlich, das sich beim Versuch einer Klassifikation der kampanischen Dialekte bzw. einer Gliederung des kampani-schen Dialektgebietes mittels der Isoglossenmethode eřibtμ „[δ]e isǒlosse […] non fornis -cono sempre indicazioni tali da poterle considerare dei veri e propri confini dialettali. I fasci si rivelano in realtà spesso come un miscuglio non ordinato di coincidenze del tutto casuali“

(Radtke 1997a: 31, ähnlich auch Maturi 2002: 244). Avolio selbst verweist zwar auf die Inkon-gruenzen im Verlauf der von ihm identifizierten Isoglossen, sieht darin jedoch ein grundsätzli-ches Merkmal von Isoglossenbündeln, wie es auch die Linien La Spezia-Rimini und Rom-An-cona aufweisenμ „Tuttavia, allo stesso modo delle importanti linee c̍e suddividono l’Italia pen -insulare in grandi gruppi dialettali (La Spezia-Rimini, Rom-Ancona) anche la Salerno-Lucera si presenta compatta, nelle sue varie isoglosse, solo in alcuni punti, mentre appare significativa-mente «sfilacciata» in altri“ (ɑvolio 1λκλμ 1). Ein solc̍er Veřleic̍ mit den ‚̌roßen‘ Isoglos-senbündeln La Spezia-Rimini und Rom-Ancona ist jedoch nicht unproblematisch, da bei der isoglossenbasierten Identifizierung von Dialektgrenzen164 fehlende Übereinstimmungen bzw.

nicht vorhandene Parallelitäten zwischen verschiedenen Isoglossenverläufen umso mehr ins Gewicht fallen, je kleiner das entsprechende Gebiet ist. Hinzu kommt, dass sowohl De Blasi (2006) als auch Radtke (1988, 1997a) in ihren Aussagen bezüglich der Vorkommen bestimmter Varianten bzw. der jeweiligen Isoglossenverläufe stark von Avolio (1989) abweichen. Ein an-schauliches Beispiel hierfür sind die Divergenzen zwischen den von Avolio (1989: 20) und Radtke (1997a: 73) gezeichneten Verläufen der Isoglosse [ll] vs. [dd]/[ɖɖ] (bzw. [r], s. Karte 14).

161 Die entsprechenden femininen Formen essə < ĬPSɑ(ε) und iddə < Ĭδδɑ(ε) zeǐen dieselbe geographische Verteilung (Radtke 1997a: 85).

162 In diesem Fall handelt es sich allerdings um eine Fehlinterpretation, da es sich nur bei crai um eine basilekta-le Variante ̍andeltμ „Domani ist eine Innovation, die ihren Ausgang von Neapel nimmt und die Küstenregion, die sic̍ frü̍er und sc̍neller italianisiert, betrifft“ (Radtke 1λλγμ 44κ). Die Variation zwisc̍en domani und crai zeugt also nicht von basilektalen Unterschieden, sondern von einem Dialektwandel, der mit der Integration von domani in die Dialekte der Küstenregion im 19. Jahrhundert seinen Anfang genommen hat. Dies bestätigt die Verteilung der Varianten, wie sie im AIS (Bd. II, Karte γ4ι) dokumentiert istμ „domani : crai ̌renzt […] die Golfregion von Neapel vom Hinterland ab“ (Radtke 1993: 448).

163 Die Isǒlosse (β) ist laut ɑvolio (1λκλμ 11) ebenfalls „in movimento“. ɑňaben zur Ric̍tung der Verschie-bung fehlen hier zwar, es ist jedoch anzunehmen, dass – analog zu den anderen Fällen – ebenfalls eine Ausdeh-nung der westlichen Variante [ll] nach Osten gemeint ist.

164 Vgl. Kap. 4.1.2.

Inkonsistenzen dieser Art können mit der geringen Interkomparabilität der Aufnahmen Avolios zusammenhängen (Radtke 1997a: 32),165 sind jedoch mit Sicherheit auch durch die – nicht nur in der Campania anzutreffende – Tatsache bedingt, dass die Verbreitungsgebiete ver-schiedener Varianten einer Variable einander häufig überlappen und/oder die Varianten in ei-nigen Fällen geographisch diskontinuierlich verteilt sind.166Eine ‚exakte‘ Teilung des kampa-nischen Dialektgebietes in Areale, in denen jeweils ausschließlich eine Variante verwendet wird, ist häufig nicht möglich. Die auf der Basis von Daten aus dem Atlante Linguistico della Campania (ALCam) erstellten Karten 15, 16, 17 und 18 zeigen Beispiele für die diskontinuier-liche Verteilung diatopischer Varianten aus dem phonetisch-phonologischen und dem lexikali-schen Bereich.

In allen Fällen ist die Festlegung von Isoglossenverläufen zur Bestimmung von Verbrei-tungsgebieten sprachlicher Merkmale keine valide Methode. Doch auch ohne Rückgriff auf das Konzept der Isoglosse würde eine Gliederung des kampanischen Dialektgebietes anhand weni-ger sprachlicher Merkmale aufgrund der Inkongruenzen zwischen den Verbreitungsgebieten der jeweiligen Varianten eines Merkmals zu erheblichen methodischen Schwierigkeiten führen.

Je nach Wahl des Merkmals entstünde ein unterschiedliches Bild der dialektalen Gliederung, sodass eine (subjektive) Gewichtung der Merkmale erforderlich würde, die unter Umständen ein sehr verzerrtes Abbild der tatsächlichen sprachlichen Verhältnisse erbringen könnte. Prob-leme dieser Art können zwar nie ganz vermieden werden, da keine Methode existiert, die es möglich macht, die gesamte sprachliche Realität in eine Analyse einzuschließen. Durch die Berücksichtigung einer größeren Anzahl sprachlicher Merkmale kann der subjektive Anteil der sprachgeographischen Analyse jedoch deutlich reduziert und damit eine höhere Reliabilität des Ergebnisses erreicht werden.

165 Avolio selbst (1989: 1) spricht von seinen Daten als „alcuni dati provvisori raccolti personalmente, da fonti orali […].“ In jedem Fall ist seine isǒlossenbasierte Einteiluň (zumindest in ɒezǔ auf das kampanisc̍e Dia-lektgebiet) insofern unzureichend, als teilweise nicht alle dialektalen Varianten einer Variable angegeben werden. So erscheinen etwa weder die im Norden und Osten der Region vorkommenden phonetischen Varianten [ʎʎ] und [ɟɟ] für /ll/ (z.B. [kaˈpiɟɟə] ‚capelli‘ in Calitri (ɑV), ALCam), noch die lexikalische Variante vòcola

‚culla‘, die vor allem in der Provinz Salerno (Cava dei Tirreni, Piano Vetrale u.a. (ɑδCam), v̌l. auc̍ Ro̍lfs 1988: 110) verbreitet ist.

166 Selbst in relativ kleinen Teilgebieten wie dem Sannio Beneventano zeǐt sic̍, dass „le varianti risultano dis-tribuite in modo discontinuo sul territorio, con una disposizione ‚a macc̍ia di leopardo‘ assolutamente incompa-tibile con il concetto stesso di isǒlossa“ (εaturi β00βμ β44).

Karte 11. Phonetische Isoglossen nach Avolio (1989: 19f., westliche Variante vs. östliche Variante(n)):

[t ] vs. [t ] in faccio (1, violett), [ll] vs. [dd]/[ɖɖ] bzw. [r] (2, grün) und [ɲɲ] vs. [n ] (3, gelb) (Hinter-grundkarte: d-maps.com).

Karte 12. Morphologische Isoglossen nach Avolio (1989: 20, westliche Variante(n) vs. östliche Vari-ante): Imp. -evə vs. -ìa (4, gelb), Cong. Imp. auf -essə oder Cond. auf -ìa vs. Cond. auf -era (5, grün), issə vs. iddə (6, violett), cə vs. nə (7, rosa) (Hintergrundkarte: d-maps.com).

Karte 13. Lexikalische Isoglossen nach Avolio (1989: 21, westliche Variante vs. östliche Variante):

cònnələ vs. naca ‚culla‘ (κ, ̌elb), ciuciuvettələ vs. cuccuvaia ‚civetta‘ (λ, ̌rün), rimanə vs. craiə‚do -mani‘ (10, violett) (Hinteřrundkarteμ d-maps.com).

Karte 14. Verlauf der Isoglosse [ll] (Westen) vs. [dd], [ɖɖ] (Osten) nach Avolio (1989: 29, grün) und nach Radtke (1997a: 73, rot) (Hintergrundkarte: d-maps.com).

Legende

1 = Ruviano 7 = Siano

2 = Squille 8 = Bagnoli Irpino 3 = Afragola 9 = Calitri 4 = Monte di Pròcida 10 = Molini 5 = Ercolano 11 = Apollosa 6 = Amalfi = Provinzgrenzen

Karte 15. Realisierungen von /d/ in pede ‚piede‘ im nördlichen Teil der Campania nach den Daten des ALCam (Hintergrundkarte: d-maps.com).

Legende

1 = Ruviano 9 = Amalfi

2 = San Marco Evangelista 10 = Pagani

3 = Afragola 11 = Nocera

4 = Monte di Pròcida 12 = Siano

5 = Pròcida 13 = Calitri

6 = Ercolano 14 = Oscata

ι = Sant’ɑnastasia 15 = Ariano Irpino 8 = Ottaviano = Provinzgrenzen

Karte 16. Realisierungen von /b/ in véve(re) ‚bere‘ im nördlichen Teil der Campania nach den Daten des ALCam (Hintergrundkarte: d-maps.com).

Legende

1 = Ruviano 7 = Teora

2 = San Marco Evangelista 8 = Calitri

3 = Afragola 9 = Carife

4 = Monte di Pròcida 10 = Ariano Irpino 5 = Torre del Greco 11 = Apollosa

6 = Amalfi = Provinzgrenzen

Karte 17. Bezeichnungen für ‚inciampare‘ im nördlic̍en Teil der Campania nac̍ den Daten des ɑδCam (Hintergrundkarte: d-maps.com).

Legende

1 = Ruviano 8 = Nocera

2 = San Marco Evangelista 9 = Amalfi

3 = Afragola 10 = Cava dei Tirreni

4 = Napoli 11 = Teora

5 = Monte di Pròcida 12 = Calitri

6 = Ercolano 13 = Oscata

ι = Sant’ɑnastasia 14 = Apollosa = Provinzgrenzen

Karte 18. Bezeichnungen für ‚rǎazza‘ im nördlic̍en Teil der Campania nac̍ den Daten des ɑδCam (Hintergrundkarte: d-maps.com).

3.3.6 Die diachronische Entwicklung I: Italianisierungstendenzen