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Zur Entstehung sprachlicher Raummuster

Die Ausdehnung von Dialektgebieten und insbesondere ihre Grenzen zueinander werden in der Sprachgeographie häufig mit Bezug auf Korrelationen zwischen diesen und außersprachlichen Grenzverläufen unterschiedlichster Art zu erklären versucht (vgl. u.a. Tappolet 1905, Morf 1911, Rosenqvist 1919, Haag 1930):

[I]l doit exister plusieurs causes qui ont empêché les idiomes de se confondre. Peut-être les limites de diocèse fournissent-elles une explication satisfaisante pour beaucoup de ré̌ions et les frontières politiques pour d’autres μ quoi qu’il en soit, il y a des cas […], où ce sont les considérations d’ordre topǒrap̍ique et économique qui nous aident en première ligne à éclaircir la question. (Rosenqvist 1919: 117)

Allen so gearteten Erklärungsansätzen zugrunde liegt die Auffassung, dass es sich bei Dialekt- und Sprac̍̌renzen um „Grenzen historischer Kommunikationsräume“ (Putsc̍ke 1λκβμ β44) handelt, die durch geographische, historisch-politische, ethnographische328 oder – insbesondere in kleinräumigen Arealen – konfessionelle bzw. kirchlich-administrative Grenzen geformt wor-den sind.329 Die entsprechenden Hypothesen und die damit verbundenen Datierungen der Dia-lektareale werden ̌rundsätzlic̍ umso e̍er akzeptiert, je ̌rößer die ɑnza̍l der „dialektalen Isolinien“ und je läňer die „Koinzidenzstrecke“ (ebd.) mit der entsprec̍enden außersprac̍li-chen Grenze ist. Zudem ist die Anzahl der im jeweiligen Kontext beigebrachten sprachhistori-schen Belege von Relevanz (vgl. ebd.). Die Adäquatheit des bei der Erklärung sprachlicher Grenzen durch außersprachliche Grenzen implizit zugrunde gelegten strengen Kausalitätsprin-zips wird hingegen im Allgemeinen nicht hinterfragt. Da aber sprachliche Phänomene nicht allein von außersprac̍lic̍en bestimmt werden, sondern „soziale P̍änomene neben i̍nen“

(Weinhold 1985: 253) sind, ist auf wissensc̍aftlic̍er Ebene eine „simple Gleic̍setzuň

sprac̍lic̍er, ökonomisc̍er, volkskundlic̍er und anderer ɑreale“ (ebd.μ 1κ0) in aller Rěel nicht möglich. Aufgrund der Überschneidungen zwischen den den menschlichen Lebensraum strukturierenden „Kräftěruppen“ (nac̍ Wirt̍ (1λθλ) wirtsc̍aftlic̍e, soziale330 und staatliche Kräfte) kann jedoc̍ „eine nic̍t idealtypisc̍ konstruierte, sondern empirisch vorgefundene

328 Um eine Grenze als et̍nǒrap̍isc̍ bediňt zu c̍arakterisieren, bedarf es des σac̍weises, „daß eine läňere auffallende Dialektgrenze, die weder durch natürliche noch politisch-kulturelle Schranken irgend wie [sic] er-klärbar ist, mit einer sicher belegten Stammesgrenze wirklic̍ zusammenfällt“ (Tappolet 1λ0ημ 41γ). Da ̍isto-risch-politische Gliederungen jedoch häufǐ „alte Stammešrenzen“ (ebd.) fortfü̍ren, kann die Rolle des et̍no-graphischen Aspekts nicht immer abschließend geklärt werden.

329 Doch manifestiert sich nicht jede Verkehrsgrenze zwingend in einer Dialektgrenze oder einer Grenze zwi-schen verschiedenen Sprachräumen. Als Beispiele für Fälle, in denen geographische Verkehrsgrenzen keine Grenzen zwischen Sprachräumen darstellen, führt Tappolet (1905: 386f.) das Mont Blanc-Massiv an, das die sprachlich ähnlichen Gebiete des Aostatals und des Savoyen geographisch (und politisch) voneinander trennt, den Alpengipfel Monte Rosa, der zwischen den in Italien liegenden deutschsprachigen Walsergemeinden und i̍rem sc̍weizerdeutsc̍en „εutterland“ liět, sowie den εonte Viso als ̌eǒrap̍isc̍e und politische Grenze zwischen der okzitanischsprachigen Provence und den okzitanischsprachigen Gemeinden in der italienischen Region Piemont.

330 Unter „sozialen Kräften“ verste̍t Wirt̍ (1λθλμ 1ι0) „P̍änomene wie Gewo̍n̍eit, Tradition, σeǐuň zur ɒe̍arruň, Sozialprestǐe, εode, σac̍a̍muň, Gruppennorm, social control und ä̍nlic̍e“, die „als meist un-geschriebene Verhaltensnormen und Wertsysteme Gültǐkeit ̍aben“ und „̌leic̍sam unbeabsic̍tǐt räumlic̍

differenzierend“ wirken. Gěenüber den anderen beiden Kräftěruppen sind die sozialen Kräfte deutlic̍ sc̍we-rer fassbarμ „Soziolǒie und Sozialpsyc̍olǒie ̍aben bis̍er noc̍ kein System sozialer Kräfte aufgestellt, wel-ches sich ohne Bruch und erhebliche Korrekturen in eine allgemeine kulturgeographische Kräftelehre einbringen ließe“ (ebd.).

räumliche Gliederung nach zwei der drei Kräftegruppen […] nic̍t o̍ne ɑussǎewert auc̍ für die dritte sein“ (Wein̍old 1λκημ 1κ0).

Goebl (1984: 160) weist darauf hin, dass nicht nur in der Physik, sondern auch in den Sozial- und Geowissenschaften längst eine Abwendung von einem kausalen hin zu einem sta-tistisch-probabilistischen Gesetzesbegriff zu beobachten ist, welcher durchaus auch in der Sprachgeographie, d.h. zur Beschreibung von Korrelationen zwischen sprachlichen und histo-risc̍en Raumstrukturen nutzbar ̌emac̍t werden könnteμ „Ein derartǐes statistisches Gesetz könnte […] etwa besǎen, daß man erwarten kann, daß sic̍ in x von y Fällen ̍istorische Raum-strukturen in liňuistisc̍en abbilden“ (ebd.).331

Abseits der Aufdeckung der sprachexternen Faktoren, die Struktur und Umfang konkre-ter Dialektgebiete bzw. den Verlauf der entsprechenden Dialektgrenzen bedingen, stellt sich die Frage nach möglichen allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der räumlichen Verbreitung sprach-licher Phänomene, deren Verteilung den anzutreffenden sprachlichen Raumstrukturen zu-grunde liegt. Das älteste dazu entwickelte Modell ist wohl die Wellentheorie332, nach der

„sprac̍lic̍e Ersc̍einuňen von einem ɑušaňspunkte aus sic̍ in teils beschränkterer, teils weiterer Ausdehnung wellenförmig über die benachbarten Gebiete ausbreiten“ (Huber 1909:

107).333Die Isǒlosse ist somit als „le bord extrême d’une inondation qui se répand, et qui peut aussi refluer“ zu interpretieren (De Saussure 1995: 282, vgl. auch Porzig 1950: 251, der von Isoglossen als „Wellenriňen“ spric̍t).334

Das grundsätzliche epistemologische Problem des Wellenmodells besteht darin, dass es

„als Überwinduň von Distanz sc̍ematisiert, was in Wa̍r̍eit soziale Interaktion zwisc̍en Mensc̍en ist“ (Wein̍old 1λκημ 1θλ). Dadurc̍, dass es eine ̌leic̍mäßǐe Verteiluň der ɒe-völkerung über den Raum sowie die Abwesenheit von physiogeographischen und humangeo-graphischen Barrieren jělic̍er ɑrt voraussetzt, kann es einer „sozialpsyc̍olǒisc̍en Raum-vorstelluň“ (ebd.μ 1κ1), wie sie der Human- und damit auch der Sprachgeographie zugrunde

331 Goebl (1984: 159) beschreibt sprachgeographische Messpunktnetze – und damit die entsprechenden dialekta-len Netze – als „Sc̍altuňsnetzwerke“, deren „innere Verbinduňsleitungen in bestimmter Weise geschaltet sind“, wobei „eine bestimmte εeňe Sc̍alter an bestimmten Verzweǐuňsstellen in den Positionen ‚aus‘

und/oder ‚ein‘ vor[liěen].“ Den Einstelluňen der „Sc̍alter“ liěen kommunikative Tätǐkeiten zǔrunde, die die Verbindungen zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt entweder schaffen bzw. verstärken oder aber un-terbrechen. Die Geschichte eines dialektalen Netzes entspricht damit der ɑbfoľe solc̍er „ɑktivieruňen“ bzw.

„Deaktivieruňen“, sodass die zu einem bestimmten Zeitpunkt vorliěenden Versc̍altuňen auf „markante“ ̍is-torische Konstellationen zurückbezogen werden können (ebd.: 160).

332 Bekannt wurde die Wellentheorie vor allem durch den Indogermanisten J. Schmidt (1872). Hinweise auf das Prinzip der wellenförmigen Ausbreitung sprachlicher Innovationen finden sich jedoch bereits einige Jahre zuvor bei Sc̍uc̍ardt (1κθκ, IIIμ γ4, Hervor̍ebuň S.H.)μ „Denken wir uns die Sprac̍e in ihrer Einheit als ein Gewäs-ser mit glattem Spiegel; in Bewegung gesetzt wird dasselbe dadurch, dass an verschiedenen Stellen desselben sich Wellencentra bilden, deren Systeme, je nach der Intensivität der treibenden Kraft von grösserem oder gerin-gerem Umfaňe, sic̍ durc̍kreuzen.“

333 Eine weiter entwickelte Form der Wellentheorie ist die aus der Botanik (Willis 1922) übernommene – und die Basis für M. Bartolis (1925, 1945) Arealnormen bildende – Age-and-Area-Hypothese, die auf der Annahme be-ruht, alle geographischen Diffusionsprozesse verliefen grundsätzlich mit gleicher Geschwindigkeit. Im Falle sprachlicher Innovationen bedeutet dies: Je größer die räumliche Verbreitung eines sprachlichen Phänomens ist, desto älter ist dieses. Demnach werden ältere sprachliche Merkmale häufig in isolierten (Inseln) oder randständi-gen Gebieten konserviert, während zentrale Gebiete meist jüngere Merkmale aufweisen. Zu einer kritischen Prü-fung der Age-and-Area-Hypothese vgl. Hodgen (1942).

334 In der sprachtypologischen Forschung steht das Wellenmodell bis heute in Konkurrenz zur Stammbaumtheo-rie (Sc̍leic̍er 1κθγ). Dass beide Erkläruňsmodelle und damit auc̍ die zǔe̍örǐen εet̍ap̍ern der „Welle“

und des „Stammbaums“ einander jedoc̍ keineswěs aussc̍ließen, sondern vielmehr verschiedene Betrachtungs-perspektiven auf ein und denselben Ausschnitt aus der sprachlichen Realität und damit komplementäre

sprachgeographische und -typologische Heuristika darstellen, zeigt Goebl (1983a).

liegt,335 nicht gerecht werden. Bereits Sapir (1916: 26f.) weist darauf hin, dass es sich bei der kontinuierlichen Diffusion kultureller (und damit eben auch sprachlicher) Elemente um einen idealtypischen Prozess handelt, der durch verschiedene Faktoren „̌estört“ werden kann. So können geographische oder soziokulturelle Barrieren dazu führen, dass der Diffusionsprozess nic̍t in allen Ric̍tuňen mit ̌leic̍er Gesc̍windǐkeit verläuft, sodass das „kulturelle Zent -rum“ (d.̍. der τrt, in dem das kulturelle Element zuerst aufgetreten ist) weit entfernt vom ak-tuellen geographischen Diffusionszentrum oder sogar in der Peripherie des Verbreitungsgebie-tes der Innovation liegen kann. Darüber hinaus können Bevölkerungsbewegungen bzw. die da-mit einhergehenden Relokalisierungen der kulturellen Elemente zu einer „Versc̍leieruň“ der ursprünglichen Diffusionsmuster führen. Schließlich kann die historisch älteste Form eines kul-turellen Elements in ihrem Zentrum erheblichen Veränderungen unterlegen gewesen sein, so-dass sic̍ die „typisc̍e“ Form nic̍t me̍r dort, sondern in einem anderen, eventuell weit ent-fernten Ort findet. Bei der geographischen Diffusion kultureller Merkmale sind nach Sapir ei-nerseits die infrastrukturelle Vernetzung und andererseits die (mit dieser in Zusammenhang stehende) Intensität der sozialen Interaktion zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen maßgeblich:

[I]t makes all the difference whether the tribes observed to have a certain feature in common lie along a well established trade route or not; further, whether or not they are in the habit of meeting periodically, or at least frequently, for exchange of goods and participation in common activities (ceremonies, amusements). (Sapir 1916: 35)

In eine ähnliche Richtung gehen die Ausführungen Dauzats (1944), der zur räumlichen Ver-breituň sprac̍lic̍er Innovationen bemerkt, dass diese oft nic̍t kontinuierlic̍, sondern „par sauts brusques“ (ebd.μ 1ι4) verläuft und dass ̌rößere Siedlungszentren als Knotenpunkte der sozialen Interaktion eine besondere Rolle im Diffusionsprozess spielen:336

Les courants linguistiques ne circulent pas au hasard et ne sont pas seulement sub-ordonnés aux conditions géographiques : ils obéissent à l’impulsion des centres so-ciaux et des ̌rands foyers de civilisation […]. D’une façon ̌énérale, c̍aque centre social est un foyer d’irradiation. […] δes métropoles constituent de puissants foyers d’expansion liňuistique, qui rayonnent sur un territoire très vaste, jusqu’aux confins de leur influence sociale […] par l’intermédiaire des centres secondaires et des petits centres […]. (Dauzat 1944: 191f.)337

335 Die „Räume, mit denen es die Geǒrap̍ie des εensc̍en zu tun ̍at (etwa der vořestellte, ‚perzipierte‘

Raum, in dem wir erleben und planen), [sind] nicht euklidisch. Sie sind vielfach weder isotrop (sondern haben bevorzugte und weniger bevorzugte Richtungen), noch kontinuierlich (sondern sind durch schwer und leicht pas-sierbare Stellen strukturiert), noc̍ ̍omǒen (es ̌ibt vielme̍r Stellen, die me̍r, und andere, die wenǐer ‚wert‘

sind)“ (Hard 1λιγμ 1κγ).

336 Ein ä̍nlic̍er Hinweis findet sic̍ bereits bei Tappolet (1λ0ημ γκι)μ „Gěenüber den natürlichen Verkehrshin-dernissen werden im Allgemeinen die verkehrsfördernden Momente zu wenig berücksichtigt. Vor allem sind zu nennen die politischen oder wirtschaftlichen Centren, wie Hauptstädte oder Marktflecken, die auf die Umgegend ausgleichend wirken; dann die Straßen- und neuerdiňs die Eisenba̍n.“

337 Bei Dauzat gilt dieses Modell der räumlichen Diffusion in uneingeschränkter Form jedoch nur für lexikali-sche Innovationen; auf phonetilexikali-scher Ebene stellen sich die Verhältnisse für ihn wesentlich komplexer dar, wie es die Beobachtung des archaischen Charakters einiger nordfranzösischer Stadtmundarten mit innovativerem länd-lichem Umfeld zeigt (vgl. Dauzat 1944: 193). Dauzat schlussfolgert, dass Bildung und Entwicklung lexikalischer und phonetischer Verbreituňšebiete „nic̍t denselben Gesetzen zu ̌e̍orc̍en sc̍einen“ (ebd.μ 1λ4). Die Frage nach möglichen Unterschieden in den Regularitäten der räumlichen Verteilung von Merkmalen auf den unter-schiedlichen sprachlichen Ebenen ist in der Sprachgeographie bisher nicht allgemeingültig beantwortet worden.

Überlegungen dieser Art führten in der Sprachgeographie zur Übernahme des Modells der Hierarchie der Diffusionszentren (hierarchy/cascade model of diffusion) aus der Human- bzw.

Sozialgeographie.338 Im Kontext der Analyse der räumlichen Diffusion sozialer Innovationen war dort insbesondere die Arbeit T. Hägerstrands (1952, 1965, 1967, 1968) maßgeblich, der zunächst empirisch nachwies, dass die Diffusion technischer und sozialer Innovationen nicht ungeordnet, sondern nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten verläuft:

ɑ closer analysis s̍ows t̍at t̍e spread aloň t̍e initial frontier is led t̍roǔ̍ t̍e urban hierarchy. The point of introduction in a new country is its primate city;

sometimes some other metropolis. Then centers next in rank follow. Soon, however, this order is broken up and replaced by one where the neighborhood effect339

dominates over the pure size succession. (Hägerstrand 1965: 40)

In einer mathematisch-statistischen Simulation der räumlichen Diffusion (Monte Carlo-Simu-lationsmodell) zeigte sich, dass auch unter Annahme einer gleichmäßigen geographischen Ver-teilung der Bevölkerung über ein bestimmtes Gebiet der Diffusionsprozess dieses nicht etwa gleichmäßig überzieht, sondern – ähnlich wie in der empirischen Studie – von bestimmten Zen-tren ausgeht (vgl. Hägerstrand 1968: 375). Unter Verzicht auf die Annahme einer homogenen Bevölkerungsdichte und bei Berücksichtǐuň der ɑuswirkuňen ̌eǒrap̍isc̍er „Grenzen“

(barriers) zwischen Siedlungen (z.B. dichte Wälder, Moore oder große Seen) auf die Konfiguration der sozialen Netzwerke ergaben sich in der Simulation schließlich Diffusions-strukturen, die den empirisch beobachteten sehr ähnlich waren (vgl. ebd.: 377). Die Signifikanz des neighbourhood effect zeǐt, „t̍at t̍e links between individuals in circles of acquaintances and friendship play a remarkably important role for directing information and influence“ (Hä-gerstrand 1965: 28); gleichzeitig ist der Einfluss der Massenmedien – als Instantiierungen ortsunabhängiger Informations- und Kommunikationsübertragung – nicht zu überschätzen (vgl. Hägerstrand 1968: 370). Die Diffusionsmuster soziokultureller oder technischer Innovationen sind somit in erster Linie durch die Intensität der sozialen Interaktion bzw. die Konfiguration der sozialen Kontakte zwischen den beteiligten Individuen bedingt, bei der unter anderem geographische Faktoren eine wichtige Rolle spielen.

In der Sprachgeographie finden sich analoge Beobachtungen zur Diffusion sprachlicher Innovationen. So stellt Trudgill (1974: 221) fest, dass sich ein und dieselbe Innovation von

Im Kontext dialektometrischer Untersuchungen konnte jedoch bereits festgestellt werden, dass die Arbeitskarten mit den höchsten Taxatbesätzen (d.h. der höchsten Anzahl unterschiedlicher Typen) stets lexikalischer Natur sind, während der taxatorische Ertrag im Bereich der Phonetik meist deutlich geringer ist, was sich auf die prin-zipiell unendliche Variabilität des Lexikons bzw. die durch die geschlossene Klasse der basalen Einheiten vorge-gebene variationelle Beschränktheit des phonetischen Bereichs zurückführen lässt (vgl. Goebl/Smečka 2014:

447). Während die räumliche Diffusion phonetischer Merkmale also maßgeblich von strukturellen Faktoren ab-hängt und die Typenvielfalt damit von diesen beschränkt wird, scheinen der Diffusion von Lexemen und damit der lexikalischen Vielfalt von sprachstruktureller Seite aus keine Grenzen gesetzt zu sein, sodass die hierfür maßgeblichen Faktoren im außersprachlichen Bereich liegen und mögliche ‚Gesetze‘ dort gesucht werden müs-sen.

338 Die dem hierarchy model of diffusion zugrunde liegende Idee der räumlichen Organisation der menschlichen ɒesiedeluň (Europas) nac̍ „zentralen τrten“, die jeweils den ökonomischen und infrastrukturellen Mittelpunkt eines Gebietes darstellen und hierarchisch angeordnet sind, stammt von W. Christaller (1968 [1933], 1950).

339 ɑls „neǐ̍bor̍ood effect“ bezeic̍net Hä̌erstrand (1λθημ βκ) das P̍änomen, „t̍at a new adoption is more likely to occur in the vicinity of existing adoptions than further out from t̍em.“ Dem entspricht auf allgemeiner Ebene genau die der S-DM zugrunde liegende Annahme, dass „mit in der geographischen Nachbarschaft ange-siedelten Menschen grundsätzlich intensiver und damit anders kommuniziert [wird] als mit weiter entfernt leben-den Mitmenschen (Goebl 2005a: 68f., vgl. Kap. 4.3.1).

i̍rem „Kern“ aus fallweise nic̍t nur auf dem „̍ierarc̍isc̍en“ Wě, d.̍. von ̌rößeren zu klei -neren Stadtzentren „spriňend“, sondern auch in geographischer Kontinuität – und damit ent-sprechend dem Nachbarschaftseffekt, also über die sozialen Beziehungen der Sprecher in ihrem geographischen Umfeld – verbreitet (vgl. auch Chambers/Trudgill 1998: 175). Aus einem hu-mangeographischen Gravity Model, das die Interaktion zwischen zwei Siedlungszentren als Funktion der Faktoren ‚̌eǒrap̍isc̍e Distanz‘ und ‚Siedluňšröße‘ darstellt, entwickelt Trudgill (1974: 233f.) einen Algorithmus, anhand dessen sich die Stärke des sprachlichen Ein-flusses eines städtischen Zentrums auf ein anderes ermitteln lässt. Auch hier ist die Frequenz bzw. die Intensität der Interaktion (bzw. des Kontaktes) zwischen Sprechern aus verschiedenen Orten von zentraler Bedeutung:

[T]he gravity model assumes that all influence weakens with increasing distance. It seems most likely that this weakening of influence is not due to psychological or social factors so much as the frequency of contact among speakers of the two cities.

T̍e assumption underlyiň t̍is is ɒloomfield’s principle of density (1λγγμ 4ιθ) t̍at people automatically and inevitably influence eac̍ ot̍er’s laňuǎe eac̍ time t̍ey speak to each other. (Labov 2003: 15, Hervorhebung S.H.)

Die räumliche Distanz ist zwar ein wichtiger, jedoch nicht der einzige Faktor, der bei der In-tensität der sozialen bzw. sprachlichen Interaktion eine Rolle spielt: So können sich enge so-ziale Bindungen trotz großer geographischer Entfernung in einem hohen Maß an sprachlicher Interaktion zwischen den Beteiligten widerspiegeln, soziale Barrieren jedoch auch auf kürzeste Distanz große kommunikative Hindernisse darstellen (Weinhold 1985: 172). Aufgrund der Plu-ralität der Funktionen von ‚Sprac̍e‘ ist die Diffusion sprac̍lic̍er Innovationen ̌ěenüber je-ner anderer soziokultureller Neuerungen jedoch von eije-ner erhöhten Komplexität: Zum Einen ist sie eine „ɒěleitersc̍einuň der Diffusion neuer Gěenstände und neuer außersprachlicher Ver̍altensweisen“ (ebd.μ β04), zum ɑnderen „über die bloße [sic] informierende, die Symbol-funktion, hinaus selbst soziales Verhalten und unterliegt, wie jedes andere, der Bewertung und entsprec̍ender εotivation, diese zu beeinflussen“ (ebd.). Dementsprechend merkt Trudgill (1974: 241) an, dass ein adäquates Modell der Verbreitung sprachlicher Innovationen weiteren, insbesondere soziolinguistischen Faktoren (Spracheinstellungen, Prestige, soziale Markierung sprachlicher Merkmale etc.) Rechnung tragen muss.

Für die Ausbreitung sprachlicher Innovationen im Raum ist festzuhalten, dass diese we-der ausschließlich eine Funktion we-der räumlichen Distanz ist, noch gänzlich unabhängig von dieser verläuft. Die für die Diffusionsstrukturen bzw. –räume maßgeblichen Faktoren sind jene, die die soziale bzw. sprachliche Interaktion zwischen in verschiedenen Orten angesiedelten Sprec̍ern bestimmen. Dabei sind „die bis̍er von der Sprac̍̌eǒrap̍ie ̌enutzten Faktoren (politisch-administrative, kirchliche, sonstige kulturelle Grenzen) nur die am leichtesten fass-baren, aber vielleicht nicht einmal die wic̍tǐsten“ (Wein̍old 1λκημ βηη).

158

5 Empirische Untersuchung 5.1 Forschungsziele

[A] dialectologist is obliged to state explicitly what he wants to find and how he wants to find it –t̍en ̍e is entitled to use t̍e most appropriate met̍od […] to ac̍ieve t̍e desired result. Or, to put it pointedly: method determines the result.

(Schneider 1988: 196)

Die vorliegende Untersuchung soll einen Beitrag zum Verständnis der Entwicklung der sprach-lichen – genauer: der diatopischen – Variation in der Region Kampanien leisten, mit dem die bisherigen Forschungsergebnisse auf quantitativer Basis überprüft und ergänzt werden. Wäh-rend im aktuellen wissenschaftlichen Fokus insbesondere die Dokumentation der Variations-dynamik im Kontinuum zwischen Dialekt und Standarditalienisch anhand ausgewählter Phä-nomene und Orte steht, beschränkt sich die hier unternommene Analyse auf die Variation auf dialektaler Ebene, berücksichtigt jedoch eine größere Anzahl an Variationsphänomenen und umfasst die gesamte Region. Sie versteht sich somit als makroanalytisches Komplement der vorliegenden mikroanalytischen Untersuchungen.

Die Studie dient der Bearbeitung einiger im Bereich der Analyse der diatopischen Va-riation in der Campania bestehender Forschungsdesiderata (vgl. Kap. 3.3.5 - 3.3.7). Erstes Ziel der empirischen Untersuchung ist eine isoglossenunabhängige Analyse der basilektalen Glie-derung der Campania auf der Basis einer statistisch relevanten, in den 1960er Jahren erhobenen Datenmenge, bei der die sprachlichen Ebenen der Phonetik/Phonologie und des Lexikons be-rücksichtigt werden. Hierbei wird ein sprachgeographisches Verfahren verwendet, mit dem Ähnlichkeitsverhältnisse zwischen Dialekten und damit die sprachlichen Raummuster bzw.

Ordnungsstrukturen eines Gebietes sichtbar gemacht werden können. Als in der epistemologi-schen Tradition der klassiepistemologi-schen romaniepistemologi-schen Sprachgeographie stehende Methodik eignet sich die Salzburger Dialektometrie (S-DM, vgl. Kap. 4.3) im gegebenen (romanistischen) For-schungskontext besser als in anderen Kontexten entwickelte Verfahren. Zudem liegt mit dem Softwarepaket VDM eine EDV-technische Implementierung des Salzburger Verfahrens vor, die nicht nur die automatische Berechnung der sprachlichen Ähnlichkeitswerte ermöglicht, son-dern durch die Integration verschiedener Heuristika auch verschiedene Möglichkeiten zur Vi-sualisierung der Ergebnisse bereitstellt. Neben dem Gesamtkorpus können hier auch einzelne

Ordnungsstrukturen eines Gebietes sichtbar gemacht werden können. Als in der epistemologi-schen Tradition der klassiepistemologi-schen romaniepistemologi-schen Sprachgeographie stehende Methodik eignet sich die Salzburger Dialektometrie (S-DM, vgl. Kap. 4.3) im gegebenen (romanistischen) For-schungskontext besser als in anderen Kontexten entwickelte Verfahren. Zudem liegt mit dem Softwarepaket VDM eine EDV-technische Implementierung des Salzburger Verfahrens vor, die nicht nur die automatische Berechnung der sprachlichen Ähnlichkeitswerte ermöglicht, son-dern durch die Integration verschiedener Heuristika auch verschiedene Möglichkeiten zur Vi-sualisierung der Ergebnisse bereitstellt. Neben dem Gesamtkorpus können hier auch einzelne