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2.1 Tularämie

2.1.6 Epidemiologie/Epizootiologie

Nach ELLIS et al. (2002) sind die Möglichkeiten für die Ausbreitung der Tularämie vielfältig. Über infizierte Nagetiere oder Zugvögel bzw. deren Ektoparasiten kann der Erreger eingeschleppt werden. ALIBEK (1999) berichtet unter anderem von militärischen Forschungsprogrammen, in denen F. tularensis zur Herstellung bakteriologischer Waffen während der Zeit des so genannten „kalten Krieges“

Verwendung fand. Es gibt Mutmaßungen, dass bei experimentellen Arbeiten F. tularensis subsp. tularensis freigesetzt wurde und sich im Ökosystem ausgebreitet hat.

Die Voraussetzungen für das Vorkommen der Tularämie aus geomedizinischer Sicht sind optimale Lebensbedingungen für die Reservoirtiere Hasenartige und Nagetiere (Lagomorpha und Rodentia). Steppenartige Landschaften mit niedriger Bodenbedeckung bei gleichzeitigen günstigen klimatischen Bedingungen (z.B.

Jahresniederschläge unter 450 mm) bieten gute Voraussetzungen für die Vermehrung von Feldhasen und Nagetieren (SCHMIDT 1947, JUSATZ 1961, HOFER

1997, HÖFLECHNER-PÖLTL 1999). Man könnte daher annehmen, dass die regenreichen Gebiete Westeuropas von größeren Tularämie-Epidemien verschont bleiben werden. Diese Ansicht bedarf nach LEMBKE (1969) einer gewissen Einschränkung. Seinen Beobachtungen zufolge kommt den klimatischen und geographischen Faktoren nur eine geringere Bedeutung zu. Das bedeutende norddeutsche Endemiegebiet um die Halbinsel Eiderstedt mit seinen sumpfigen Marschwiesen und dem ausgesprochen feucht-maritimem Klima scheint die Aussagen von Lembke zu belegen.

Nur wenige andere Bakterien haben ein so breites Wirtsspektrum wie F. tularensis, das nahezu alle untersuchten Säugetierspezies einschließlich Haus- und Nutztiere umfasst (ELLIS et al. 2002). So konnte der Erreger bisher in über 250 verschiedenen Tierarten, darunter Säugetiere, Vögel, Fische, Amphibien und Arthropoden

die wahrscheinlichsten Infektionsquellen bzw. Ansteckungsquellen dar. HOFSTETTER

(2005) nennt als Erregerreservoir verschiedene kleine, wildlebende Säugetiere wie Hasen, Kaninchen, Mäuse, Ratten, Eichhörnchen. JUSATZ (1940) zählt zu den Reservoirtieren in Osteuropa die Schermäuse, in Nordeuropa die Lemminge und in Mittel- und Südeuropa Hasen, Wildkaninchen und eventuell auch Bisamratten. Die Übertragung erfolgt horizontal zwischen den Reservoirtieren. Auch Ektoparasiten (Arthropoden), vor allem Zecken, spielen als Vektoren eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung des Naturherdes (HUBALEK et al. 1998, GURYCOVA et al. 2001).

HUBÁLEK et al. (1997) diagnostizierten in Tschechien, der Slowakei und Österreich bei 2,3 % der von ihnen untersuchten Zecken F. tularensis. Zecken nehmen beim Saugakt von infizierten Wirtstieren die Francisellen auf, können diese lange Zeit beherbergen und sogar transovariell an die nächste Generation weitergeben (HUBÁLEK et al. 1997, HÖFLECHNER-PÖLTL 1999). Die Zecken beherbergen den Erreger zwar, erkranken selbst aber nicht (STEINECK 2000).

ISING & V. SPROCKHOFF (1978) unterscheiden je nach Empfänglichkeit bzw.

Empfindlichkeit verschiedener Tierarten gegenüber F. tularensis drei epidemiologische Gruppen:

1. Tiere mit sehr hoher Empfänglichkeit, die schon durch geringe Keimzahlen infiziert werden können. Bei ihnen kommt es zu einem akut-septikämischen Verlauf mit Todesfolge. Zu dieser Gruppe gehören auch heimische Tierarten, wie z.B. der Feldhase, die Feld-, die Wald- und die Schermaus.

2. Die Tierarten der zweiten Gruppe, z.B. die Wanderratte oder das Eichhörnchen, sind hoch empfänglich, aber wenig empfindlich. Auch sie werden durch niedrige Keimdosen infiziert, sterben aber nur nach Aufnahme hoher Keimzahlen virulenter Stämme. Sie scheiden die Keime über lange Zeit aus und tragen so zur Aufrechterhaltung von Endemien bei.

3. Zur dritten Gruppe gehören Tierarten mit geringer Empfänglichkeit, die kaum erkranken, wie z.B. der Fuchs, der sich durch das Fressen von erkrankten Mäusen und Hasen infizieren kann. Auch Haus- und Nutztiere wie z.B. Pferd und Rind gehören in diese Gruppe ebenso wie verschiedene Vogelarten.

KERSCHAGL (1965) sieht für Jagdhunde keine Infektionsgefahr bei Kontakt mit infizierten Wildtieren. Nach HARMS & HÖRTER (1953), GRATZL (1960) und SONGER &

POST (2005) dagegen muss aber bei Jagdhunden, die Kontakt zu infizierten Tieren hatten, mit einer Infektion und Erkrankung durch F. tularensis gerechnet werden. Sie können außerdem den Erreger mechanisch übertragen, indem sie nach Kontakt z.B.

mit infizierten Hasen oder Wasser den Erreger aus Fang oder Fell schütteln (SONGER

& POST 2005).

Ein jahreszeitlich gehäuftes Vorkommen der Tularämie-Infektionen beschreiben BOSSI et al. (2004) in den Sommermonaten (Juni bis September). In dieser Zeit ist die Übertragung durch Arthropoden (Zecken, Bremsen, Mücken) die Regel.

HÖFLECHNER-PÖLTL (1999) dagegen sieht in unseren Breitengraden einen deutlichen Schwerpunkt der Tularämie-Erkrankungen im Spätherbst und Winter: Nach einer Massenvermehrung der Feldmäuse im Herbst kommt es zu Übertragungen des Infektionserregers auf den Hasen, sodass während der Jagdsaison ab Oktober nach diesem Autor für den Menschen eine erhöhte Infektionsgefahr besteht. KNOTHE et al.

(1959) vermuten, dass die Seuche zuerst unter Mäusen ausbricht und dann auf Feldhasen übertragen wird. BSTEH (1937) stellt als epidemiologische Besonderheit heraus, dass der Tularämie-Epidemie bei Feldhasen von 1936/37 in Österreich eine Feldmausplage vorausging. Im November 1941 traten in Russland im Rostower Gebiet 8.500 Fälle von Tularämie beim Menschen auf, die im Januar 1942 auf 14.000 Erkrankungen anstiegen (SCHMIDT 1947). Auch hier ging der Epidemie eine durchschnittlich alle zehn Jahre rhythmisch wiederkehrende herbstliche Massenvermehrung der Mäuse voraus. Im Herbst 1948/49 sowie 1959/60 infizierten sich Beschäftigte von Zuckerfabriken in Russland bzw. in Niederösterreich. In beiden Fällen kam es im angefangenen Herbst zu einer Massenvermehrung bei Feldmäusen. Die Rübenmieten waren von höchsten Populationsdichten von Mäusen besiedelt. Bei der Rübenwäsche kam es zur Bildung eines hochinfektiösen Aerosols (PUNTIGAM 1960), das von den Beschäftigten eingeatmet wurde.

Von Infektionen durch Inhalation erregerhaltigen Staubes, z.B. bei Erntearbeiten mit Stroh, Heu oder Getreide, kontaminiert mit Sekreten und Exkreten oder Kadaver infizierter Hasen oder Nagetiere berichtete HOFER (1997). In den östlichen

Bundesländern Österreichs kam es in der ersten Hälfte der 1990er Jahre zu einem solchen Krankheitsgeschehen, nachdem dort gehäuft Tularämie-Fälle bei Feldhasen vorgekommen waren (HOFER 1997). Ebenso ein Infektionsgeschehen, an dem mehrere tausend Menschen erkrankten, wurde in den Jahren 1966/67 in Schweden beobachtet (ELLIS et al. 2002). BELL (1981) berichtet von einer Entwicklung hochansteckender Stäube nach Umsetzen und Verladen von Heu, in dem sich nach einem massenhaften Sterben von Nagetieren die Kadaver befanden.

SPLETTSTÖßER & KOPF (2008) geben als weitere Infektionsquelle Oberflächengewässer an. REINTJES et al. (2002) berichten von einem Ausbruch der Tularämie im Kosovo in den Jahren 1999/2000, bei dem 327 Personen an einer Infektion mit F. tularensis nach dem Verzehr von kontaminiertem Wasser erkrankten.

SCHMIDT (1947) zog die Kontamination von Gewässern durch Kot und Urin infizierter Wasserratten in Betracht. Weiter beschrieb der Autor die Anschauung russischer Forscher, nach denen die Infektion leicht von der Wasserratte auf die Feldmaus übertritt, da beide Nagerarten in den Schilfgebieten an den Ufern von Gewässern gemeinsam vorkommen. In den Jahren 1926 - 1928 traten im Südosten Russlands einige hundert Fälle von Tularämie bei der Uferbevölkerung großer russischer Flüsse nach dem Fang von Wanderratten auf, dem dortigen Reservoir des Tularämie-Erregers. BERDAL (1996) sieht das vermehrte Auftreten der Tularämie in der Nähe von Gewässern in Zusammenhang mit der Fähigkeit der Francisellen, sich im Inneren von Amöben zu vermehren. ELLIS (2002) berichtet ebenfalls, dass freilebende Amöben in Oberflächengewässern ein mögliches Reservoir der Francisellen darstellen können.

Als weitere Ansteckungsquellen neben dem Feldhasen sind kleine Nager und Ektoparasiten zu nennen (SPLETTSTÖßER & KOPF 2008). HIRSCH et al. (2001) beschrieben zwei Fälle aus Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen, die eine typische epidemiologische Anamnese der Erkrankung demonstrieren. Die Patienten haben sich offenbar beim Aufenthalt in Naturherden der Tularämie durch engen Kontakt mit natürlichen Reservoiren wie Hasen oder blutsaugenden Insekten, die als Vektoren dienten, infiziert. Epidemiologisch besonders interessant ist ein Fall eines 18 Monate alten Kindes aus Freiburg, das durch den Stich einer Mücke infiziert

wurde (SPLETTSTÖßER & KOPF 2008). Dieser Übertragungsweg war bisher nur aus Skandinavien berichtet worden und stellt möglicherweise auch für Deutschland ein potentielles Risiko für größere Bevölkerungsgruppen dar. Auch WEBER (2004) berichtet von einer möglichen Übertragung durch Bisse bzw. Stiche blutsaugender Insekten nach Urlaubsaufenthalten in Mecklenburg-Vorpommern oder Ungarn.

Die Übertragung erfolgt auch auf andere Tiere wie z.B. Ratten, Biber, Waschbären, Lemminge sowie Huftiere. Hier sind unter anderem Rehe und Wildschweine zu nennen. Dass auch Vögel am Infektionsgeschehen beteiligt sind, zeigt eine Erkrankung an Tularämie nach dem Biss einer Eule (SCHMIDT 1947).

Unerkannt bleibende Verseuchungen von Nagetierpopulationen, die sich auf weitere Gebiete ausdehnen, stellen ein hohes Infektionsrisiko für Menschen dar, da Nagetiere die Hauptverbreitungsquelle der Tularämie sind. Aus ihnen heraus kann dann die Seuche als Epidemie auf den Menschen übergreifen. Eine Ausbreitung der Tularämie in Europa korreliert daher weitgehend mit der Entwicklung und Verbreitung der Nagetiere. So bringen russische Fachleute eine auffällige Nagetierwanderung in den 1940er Jahren von Osten nach Westen in Zusammenhang mit der Ausbreitung der Tularämie in die gleiche Richtung (SCHMIDT 1947). Auch JUSATZ (1961) berichtete von einer Ausbreitung der Tularämie nach Westen.

In Deutschland tritt die Tularämie eher selten auf. Studien belegen jedoch, dass eine Seroprävalenz von bis zu 2 % beim Menschen vorliegt und die Fallzahlen unterschätzt werden (PORSCHZCÜRÜMEZ et al. 2004). Wie bei allen Seuchen wechseln auch bei der Tularämie Seuchenzüge mit Zeiten ab, in denen die Krankheit scheinbar erloschen ist. Das trifft aber sicher nicht zu. Einzelne Krankheitsfälle werden bedingt durch die unspezifischen Krankheitssymptome beim Menschen häufig falsch diagnostiziert (KERSCHAGL 1965).

Auch in Niedersachsen traten sporadisch Tularämie-Infektionen auf. Bei einem 1950 im Kreis Helmstedt tot aufgefundenen Hasen und 1953 bei einem Hasen aus dem Kreis Gifhorn wurde Tularämie diagnostiziert (HARMS & HÖRTER 1953). JUSATZ (1961) berichtet zeitgleich von Erkrankungsfällen beim Menschen - 1950 im Kreis Helmstedt und 1953 in Gifhorn -, bei denen jeweils ein Hase die Infektionsquelle darstellte. Er berichtet außerdem von einer Person, die sich 1958 im Regierungsbezirk Hildesheim

infizierte. 1965 wurden weitere vier Fälle von Tularämie beim Menschen in Niedersachsen gemeldet (LEMBKE 1969). SPLETTSTÖßER et al. (2007) beschreiben einen Tularämie-Ausbruch bei einer Gruppe von 62 Callitrix-Affen (Callithrix jacchus) im Göttinger Primatenzentrum. Von den halb-freilebenden Affen verstarben fünf der Tiere im Herbst 2004 an Tularämie. In diesem Primatenzentrum wurden nachfolgend über einen Zeitraum von zwei Jahren 18 Tularämie-Infektionen bei Langschwanzmakaken (Javaneraffen) (Macaca fascicularis) festgestellt (MÄTZ -RENSING et al. 2007).