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10 Interpretation

10.2 Die Rezeption der sportlichen Aspekte des WM-Turniers

10.2.1 Vor dem Turnier

10.2.2.1 England aus englischer Sicht

Wie bereits beschrieben waren die Erwartungen der untersuchten englischen Medien an die eigene Mannschaft durch die negativen Testergebnisse vor dem Turnier nicht besonders hoch.

Als aufschlussreich zeigten sich in diesem Zusammenhang beispielsweise die Versuche des Daily Telegraph, bevorzugte Spieler in die Auswahl zu schreiben.606

Nach dem 4:4 nach Verlängerung im ersten Turnierspiel ist die Times jedoch überwiegend zufrieden mit dem Auftritt des Teams. England wird infolgedessen als die bessere Mannschaft dargestellt, die den Sieg „weggeworfen“ hätte. Dementsprechend ist auch die Überschrift des Spielberichts gestaltet: „England throw victory away – A draw with Belgium in World Cup after dominating play“607. Äußerst wohlwollend erkennt die Zeitung darüber hinaus an, dass die englische Auswahl bereits aus den blamablen Testspielauftritten gelernt habe, ja, sich sogar am Spiel der noch wenige Wochen zuvor in Budapest so brillant aufspielenden Ungarn orientiert habe.

And let it be said, too, that during that central hour when England strode to a 3-1 lead their football wore an elegance not seen from them for two or three seasons. Most impressive of all was the use of the swift through-pass that clearly was an echo of the Hungarian pattern. But for some really brilliant saves from Gernaey, the Belgian goalkeeper, it would have been all over a long time before that quivering finish.608

Insbesondere zwei Spieler wurden positiv hervorgehoben. Neben Halbstürmer Taylor ist dies der schon zu diesem Zeitpunkt als Legende geltende und vor der WM vehement geforderte Stanley Matthews. Für ihn gehen dem Blatt die Superlative kaum aus. Er wird als „entertainer supreme“ und als „magician“609 bezeichnet und am Ende sogar in den Rang eines

‚Fußballheiligen‛ gehoben. „On the programme his name appeared as St. Matthews. He was certainly a football saint this evening, the man who softened up Belgium to a point of defeat.“610

Der einzige Kritikpunkt am englischen Spiel geht einher mit der zuvor festgestellten unerwarteten spielerischen Eleganz des Teams. So wird bemängelt, dass nach der 3:1-Führung nicht auf eine defensivere Spielweise umgestellt worden sei.

606 Vgl. The Daily Telegraph and Morning Post, 31. Mai 1954, 4.

607 The Times, 18. Juni 1954, 9.

608 The Times, 18. Juni 1954, 9.

609 The Times, 18. Juni 1954, 9.

610 The Times, 18. Juni 1954, 9.

Looking back on it all at this moment, […], England’s mistake lay in trying to overplay their hand with too much artistry at the time of their domination. Happy as it was for an Englishman to see some culture at last, their first duty lay in ramming home their advantage. But finally, as in other days, the through-pass was forgotten and we fell into the trap laid by a retreating defence that blankets cross-through-passing.611

Der Lernprozess wird also wohlwollend zur Kenntnis genommen, aber durch den Verweis „as in other days“ noch nicht als abgeschlossen erklärt.

Weiterhin ist die Tendenz zu unverhohlener Kritik an einzelnen Spielern zu erkennen. Hier wird der Mittelläufer Owens genannt, der es nicht vermocht habe, den „altmodisch“

agierenden belgischen Mittelstürmer Coppens aus dem Spiel zu nehmen.612

Die ausführlichen Spielberichte im Manchester Guardian, Daily Worker und im Daily Telegraph zeigen keine signifikanten Unterschiede zur Sichtweise der Times.613

Vor dem entscheidenden zweiten Gruppenspiel der Engländer gegen die Auswahl des Gastgebers aus der Schweiz zeigt sich vor allem der Daily Telegraph extrem pessimistisch.

Dem eigenen Team werden demnach trotz des allgemein recht positiv aufgenommenen Auftritts gegen Belgien kaum Chancen eingeräumt, das Viertelfinale zu erreichen.

„Switzerland are strong favorites to knock England out. They start Sunday’s match with two formidable advantages: they play before their own jubilant countrymen and are full of confidence after their surprise triumph over Italy.“614 Darüber hinaus kritisiert das Blatt die englische Defensive. Die Daily Mail hat dieselben Mängel im Spiel der Engländer erkannt.

„Something must be done about the English defence.“615 Dagegen verbreitet der Daily Worker Optimismus. England müsste eigentlich gewinnen, und eine Wette auf einen entsprechenden Ausgang beschreibt das Blatt als sicher.616

Trotz des darauf folgenden 2:0-Sieges gegen die Schweizer wird die Kritik fortgesetzt. Als Grund dafür wird sowohl die Leistung der Engländer angeführt als auch die als äußerst schwach eingeschätzte Darbietung der Gastgeber. So formuliert die Times, das nach dieser Leistung der Schweiz der vorangegangene Sieg gegen Italien nicht zu erklären wäre.617 The Manchester Guardian beschreibt die Eidgenossen sogar als „vastly inferior“618.

Die Kritik am eigenen Team fällt ähnlich rigoros aus. The Times äußert beispielsweise das vernichtende Urteil, dass England eine drittklassige Auswahl habe, die sich in die Runde der

611 The Times, 18. Juni 1954, 9.

612 Vgl. The Times, 18. Juni 1954, 9.

613 Vgl. The Manchester Guardian, 18. Juni 1954, 11; Vgl. The Daily Telegraph and Morning Post, 18. 6. 1954, 4. Die zugehörige Ausgabe der Daily Mail vom 18. Juni 1954 fehlte im Archiv der Zeitungsabteilung der Staatsbibliothek Berlin und konnte dementsprechend nicht ausgewertet werden.

614 The Daily Telegraph and Morning Post, 19. Juni 1954, 3.

615 Daily Mail, 19. Juni 1954, 7.

616 Vgl. Daily Worker, 19. Juni 1954, 4.

617 Vgl. The Times, 21. Juni 1954, 2.

618 The Manchester Guardian, 21. Juni 1954, 8.

letzten acht verirrt habe.619 Direkt werden die Mängel des Teams genannt und Aufgaben für die Zukunft gestellt:

Yet, if the right lessons are now learnt from the real maestros among the nations – and one expects a wonderful final between Hungary or Uruguay or Brasil, if the draw allows it – the journey here will have been worth it. British footballers have a four-point programme to master if they are to survive.

They must be athletes, 100 per cent fit; they must become gymnasts; they must make the ball a slave, answering every command; and they must start thinking intelligently ahead of the pass.620

Mit anderen Worten fordert die Zeitung eine völlige Überarbeitung des englischen Fußballs, was sie im Abschlusssatz des Spielberichts formuliert: „British football, in a world sense, must be born anew.“621 Beachtenswert ist, dass diese Einschätzung nach einem Sieg des englischen Teams geschieht, welches dadurch den Sprung ins Viertelfinale schaffte. Das Turnier ist für die Engländer also noch nicht beendet, auch wenn anhand dieser Aussagen ein entsprechender Eindruck entstehen könnte. Die Daily Mail sieht eine wenig beeindruckende Leistung der eigenen Mannschaft – vor allem im Vergleich mit den „torhungrigen“ Ungarn und Uruguayern. Allerdings habe nach Verletzungen von Lofthouse und Matthews auch der Angriff vollständig umgestellt werden müssen. Dass ausgerechnet die beiden Spieler, die für die beiden Verletzten auf dem Feld standen, die zwei Tore für England erzielten, bezeichnet das Blatt als besondere Pointe.622 Der Daily Worker verzichtet erstaunlicherweise auf einen Spielbericht, jedenfalls konnte in den zur Verfügung stehenden Ausgaben keiner gefunden werden.

Der Manchester Guardian flüchtet sich bei einem Rückblick einige Tage nach dem Spiel sogar in Ironie. „That Wright, England’s captain, went whooping round the field after the final whistle to shake hands with every England player who took part was merely symbolic of the rare pleasure it gives an England captain nowadays to be on the winning side abroad.”623 Einzig positiv wird die Verbesserung der zuvor gescholtenen Defensive aufgenommen. Die wirklichen Tests würden zwar noch kommen, die gezeigte Vorstellung würde allerdings ermutigend wirken, meint der Manchester Guardian.624 Die Times verweist nicht ohne Triumph auf einen Spielerwechsel in der Defensive. Wright wurde als neuer Mittelläufer für Owens aufgeboten, was die Zeitung im Vorfeld gefordert hatte. „[H]ere one noticed the

619 Vgl. The Times, 21. Juni 1954, 2.

620 The Times, 21. Juni 1954, 2.

621 The Times, 21. Juni 1954, 2.

622 Vgl. Daily Mail, 21. Juni 1954, 7.

623 The Manchester Guardian, 26. Juni 1954, 6.

624 Vgl. The Manchester Guardian, 21. Juni 1954, 8.

dominating influence of Wright, who played his first game for England as a centre-half. The position has been beckoning to him for a long time […].”625

Der Kritik entsprechend fallen auch die Prognosen für das anstehende Viertelfinale gegen Titelverteidiger Uruguay aus. Der Daily Telegraph gibt eine klare Voraussage ab und erwartet Ungarn, Uruguay und Österreich im Halbfinale.626 Wirkliche Chancen auf ein Weiterkommen werden den Engländern nicht eingeräumt: „England have a host of supporters, but a win for our players is, I feel, wishful thinking.“627 Ähnlich formuliert der Daily Worker: „[…] our hopes of beating them cannot be considered bright.“628 Dass seine Prognose positiver ausfällt, unterstreicht der Autor der Daily Mail sehr deutlich. Er sei wohl die einzige Person in der Schweiz, die England Chancen einräumt.629 „I feel they can win if they attack from the start, against a rather littery defence – and put the ball into the net when chances are offered.”630 Der Korrespondent des Manchester Guardian wagt im Vorfeld des Spiels England-Uruguay sogar einen Ausflug in das Mannschaftsquartier des Titelverteidigers und beobachtet dort beeindruckt ein Training der Südamerikaner. Dabei zeigt er sich äußerst erstaunt über die Intensität und die Methoden in der Trainingseinheit und vergleicht diese mit englischen Verhältnissen:

No matter whether the ball was bouncing or was rolling, it had to be kicked first time. He varied his throwing from each side of the goals, so as to make the players use either foot: and there was not a single one-footed player on the field. Nothing new in this is there? Bloomer was teaching the art of letting fly at goal as soon as a chance came fifty years ago. The only difference is that these Uruguayans by steady persistence, have approached Bloomer’s standard. British players lag behind.631

Dieses Erstaunen, mit dem der englische Journalist das Training der Uruguayer begutachtet, rührt wohl in erster Linie daher, dass Training noch bis zum Ende der 1950er Jahre im englischen Fußball nur eine untergeordnete Rolle spielte. So herrschte die Meinung vor, dass durch den Verzicht auf systematisches Balltraining die Lust der Spieler auf den Ball erst richtig geweckt werde, was sich dann im Spiel positiv auswirken würde. Zu dieser Zeit kann also von einem geregelten Training aus heutiger Sicht bei den Engländern nicht gesprochen werden.632 Dementsprechend ist es nicht verwunderlich, dass der Korrespondent der Daily Mail ähnlich erstaunt vom uruguayischen Training berichtet, dabei aber den Fokus darauf

625 The Times, 21. Juni 1954, 2.

626 Vgl. The Daily Telegraph and Morning Post, 26. Juni 1954, 4.

627 The Daily Telegraph and Morning Post, 26. Juni 1954, 4.

628 Daily Worker, 26. Juni 1954, 4.

629 Vgl. Daily Mail, 26. Juni 1954, 7.

630 Daily Mail, 26. Juni 1954, 7.

631 The Manchester Guardian, 26. Juni 1954, 6.

632 Vgl. Bausenwein 1995, 463ff.

legt, dass die Spieler auch während der Übungseinheit ständig in Bewegung seien.633 Die Änderung dieser Praxis zum Ende des Jahrzehnts liegt sicherlich auch in den Beobachtungen, die englische Experten bei dieser WM machten, begründet.

Etwas versöhnt werden die englischen Sportjournalisten dann mit der Vorstellung des englischen Nationalteams bei der Niederlage im Viertelfinale. Alle bearbeiteten Zeitungen sind sich einig, dass die Mannschaft sich mit einer würdigen Leistung aus dem Turnier verabschiedet habe. Die Times bringt dies auch in ihrer Titelzeile des Spielberichts zum Ausdruck: „England’s football pride regained“634, lautet die positive Erkenntnis trotz des Ausscheidens.

Das Blatt verschließt dabei weiterhin nicht die Augen vor den technischen Schwächen des eigenen Teams. Vor allem die Courage und der Einsatz, mit dem Englands Fußballer im Spiel agierten, werden dagegen über alle Maßen gelobt. Wiederum fehlt ebenso wenig der Verweis auf die Beliebtheit, die der englische Fußball außerhalb der eigenen Grenzen nach Meinung der englischen Journalisten weiterhin auf sich ziehe:

But they departed defiantly with all flags flying and all their guns firing, to show at last that there is no degeneracy of spirit deep down in British football. Courage and temperament are precious qualities we possess beyond others, and if there are many matters of a technical and artistic nature that need attention in our game, at least one felt proud on this occasion to hear an international crowd on a foreign field roar for an English victory as no crowd has yet roared at Wembley.635

Ähnlich klingende Passagen finden sich an mehreren weiteren Stellen des Artikels.

In die gleiche Kerbe schlägt auch der Manchester Guardian: „The Englishmen fought with a detestation beyond praise. They soon had the Swiss yodelling for them.”636 Die Zeitung lobt darüber hinaus die starke, ausschließlich auf die Defensive beschränkte Arbeit des Mittelläufers Wright, sieht darin allerdings auch ein eventuelles Problem für die Zukunft.

Can England go on using what her continental critics with such surprising unanimity call stereotyped, conservative, primitive methods against opponents whose tactical ingenuity has evolved a system which enables them to attack with five forwards in line and a roving centre-halfback, who is ever ready either to hover on the fringe of en attack or get back and form part of a solid defensive phalanx on whatever flank an attack may develop?637

Es besteht also das Bewusstsein der englischen Beobachter, dass der englische Fußball nicht mehr zeitgemäß sein könnte. Wenigstens seien nach Meinung der Daily Mail die ersten

633 Vgl. Daily Mail, 23. Juni 1954, 6.

634 The Times, 28. Juni 1954, 12.

635 The Times, 28. Juni 1954, 12.

636 The Manchester Guardian, 28. Juni 1954, 12.

637 The Manchester Guardian, 28. Juni 1954, 12.

Schritte dagegen bereits getan. England habe aus den vorhergegangenen Wochen viel gelernt, ist sich die Zeitung sicher. „England are taking worthwhile steps to prepare for the future.“638 Auch der Daily Telegraph bewertet die englische Leistung äußerst positiv, übt aber Kritik am Unparteiischen der Partie:

Unfortunately, the Englishmen were once more victims of unsound refereeing. Mr. E. Steiner, the Austrian in charge, allowed the Uruguayans to exploit the petty tricks of the trade barred in league football years ago. Mr. Steiner’s failure to see what was going on cost England the vital third goal.639

Das Blatt hat diese Sichtweise unter den bearbeiteten Zeitungen exklusiv, einzig die Daily Mail spricht von einigen zweifelhaften Entscheidungen des Schiedsrichters, geht jedoch nicht näher darauf ein640, auch die Intention entsprechender Aussagen lässt sich relativ leicht nachvollziehen. Durch das Herausstellen der vermeintlichen Fairness der englischen Spieler hätten diese dementsprechend gegen unfair spielende Gegner gar keine Chance haben können.

Es entsteht also in diesem Fall der Eindruck von schlechten englischen Verlierern.

Der Daily Worker schließt sich dem Lob für die englische Mannschaft nur sehr vorsichtig an.

Mut und Courage seien einfach zu wenig, um ein Team wie Uruguay zu schlagen. Zwar habe England vorbildlich gekämpft, aber „I nearly weep to think of the lack of football science“641. Die Mannschaft habe unmethodisch gespielt, kritisiert die Zeitung. Oberstes Ziel im englischen Fußball sei es, den Gegner am Torerfolg zu hindern. Überall sonst werde vor allem Wert darauf gelegt, ein Tor mehr als der Gegner zu schießen.642 Die Ausführungen enden mit einem schonungslosen Fazit, das auch die Fußballjournalisten anderer englischer Zeitung in die Kritik einbezieht: „Yet it seems we will never learn. Forgetting all the harsh things they have written, all the inquests and recriminations, some football writers have lauded England’s performance against Uruguay as if it were a victory. This is misleading.”643