• Keine Ergebnisse gefunden

6 Das methodische Vorgehen

6.3 Ablauf einer Inhaltsanalyse als Beispiel

FRÜH304 differenziert sieben Schritte beim Ablauf einer Inhaltsanalyse, wobei der letzte Schritt genau genommen nicht mehr direkt zur eigentlichen Analyse gehört, sondern bereits ausschließlich interpretativen beziehungsweise einordnenden Charakter besitzt. So beginnt die Anwendungsebene mit der Erstellung einer Nullhypothese, also einer übergeordneten Annahme, die den Rahmen der folgenden Untersuchung terminiert. MAYRINGS Ansatz verzichtet hingegen auf die Formulierung einer Nullhypothese. Er spricht stattdessen vom deduktiven Element der Festlegung von Selektionskriterien für die Kategorienbildung305, die

„mit theoretischen Erwägungen über Gegenstand und Ziel der Analyse begründet werden“306 müssen. Der Unterschied beider Ansätze scheint hier nur auf der Formulierungsebene verortbar zu sein. Inhaltlich sind beide Autoren zur Eingrenzung der Untersuchung nicht weit voneinander entfernt, wenn MAYRING auch offenbar auf die Formulierung einer einzelnen These verzichtet und stattdessen von Selektionskriterien spricht. Die folgende Inhaltsanalyse wird auf einer Nullhypothese aufbauen, um den Rahmen einzugrenzen. Dabei soll jedoch nicht zu strikt vorgegangen werden, um Bedeutungsdimensionen, die zwar vordergründig nicht zur Nullhypothese passen, sich aber trotzdem in die übergeordnete Themenstellung

‚Deutschland bei der Fußballweltmeisterschaft 1954‛ integrieren lassen, nicht von vornherein auszublenden. Betrachten wir die Nullhypothese also als eine Strukturierungsmöglichkeit ohne allzu feste Grenzen. MAYRINGS Selektionskriterien werden beispielsweise in Form von Leitfragen ebenfalls berücksichtigt.

Bei FRÜH folgt auf die Formulierung der Nullhypothese eine Erklärung der darin enthaltenen theoretischen Konstrukte und Bedeutungsdimensionen, was sich wiederum stark mit MAYRINGS Selektionskriterien deckt und spätestens hier die Differenz beider Ansätze weitestgehend nivelliert. An dieser Stelle werden laut FRÜH ebenso erste Indikatoren festgelegt, mit deren Hilfe die Nullhypothese überprüft werden soll. Als dritter Schritt wird ein System von Kategorien festgelegt, welches die Indikatoren im konkreten Textmaterial erfasst. Diese Kategorien können sowohl deduktiv, also vor dem Durchgang des Textmaterials anhand grundsätzlicher und durch Vorwissen geprägter Annahmen, als auch induktiv, also anhand konkret aus dem Text separierter Fundstellen, gebildet werden. Für die einzelnen Kategorien werden nun Beispiele genannt, um den Rahmen der möglichen Codierungen festzulegen und zu definieren. FRÜH spricht hierbei von Operationalisierung

304 Vgl. Früh 2004, 120-131

305 Vgl. Mayring 2002, 115f.

306 Mayring 2002, 116.

der Kategorien und Messvorschriften.307 MAYRING bezeichnet diesen Schritt als Sammlung von Ankerbeispielen.308 Dieser Begriff wird wegen seiner Einprägsamkeit im Folgenden verwendet. Darauf folgt die eigentliche Erhebung der Daten, sprich das Durchgehen des festgelegten Materials mithilfe der Kategorien. In Schritt sechs werden diese erhobenen Daten im Sinne der Inhaltsanalyse in erster Linie numerisch ausgewertet. Strukturen von Textmengen werden anhand von Aggregatdaten erfasst.309

Die Untersuchung muss sich auf strukturbildende Merkmale konzentrieren, sie muss Textelemente mit durchaus originären Bedeutungsnuancen unter einem übergeordneten Gesichtspunkt als äquivalent betrachten, und sie muss schließlich die erhobenen Informationen in eine standardisierte Modalität bzw.

ein einheitliches Format überführen, das Vergleiche qualitativ verschiedener Sachverhalte und die Anwendung statistischer Auswertungsoperationen erlaubt.310

Als abschließender Schritt, den FRÜH bereits außerhalb der eigentlichen Inhaltsanalyse verortet311, folgt die interpretative Einordnung der erhobenen Daten in größere Sinnzusammenhänge. MAYRING nennt diesen Schritt auch Explikation oder Kontextanalyse.312 Die dem Material inhärenten, regelgeleitet erhobenen Aussagen werden also gedeutet, Ursachen und Konsequenzen erwogen. Dem Forscher obliegt bei der Interpretation der Daten eine größtmögliche Freiheit. Schließlich interpretiert er Daten, die er in nachvollziehbarer Weise mithilfe der Inhaltsanalyse erhoben hat. „Sie sind hier im Detail belegt und somit kritisierbar.“313 Wer die Erkenntnisse nicht akzeptiert – solange diese nachvollziehbar und regelgeleitet entstanden sind – müsste eine eigene Interpretation vorlegen, oder am selben Material eine eigene Analyse durchführen. Vor allem aufgrund dieser interpretatorischen Freiheit liegt die Interpretation nicht mehr direkt innerhalb der eigentlichen Inhaltsanalyse, die zwar zum Beispiel bei der Kategorienbildung auf Festlegungen des Forschers angewiesen ist und während des Codierprozesses interpretative Differenzen zwischen einzelnen Codierern aufweisen kann, da diese individuell auf unterschiedliche Erfahrungen und unterschiedliches Wissen zurückgreifen, ansonsten aber im definitorisch vorgegebenen Rahmen bleibt. „Die sinnverstehende Interpretation der inhaltsanalytisch gewonnenen Datenstrukturen ist sicherlich der Zweck jeder Inhaltsanalyse, aber nicht mehr ihr Bestandteil.“314 Bei der vorliegenden Untersuchung wird jedoch bereits die numerische Auswertung der Inhaltsanalyse interpretative Aspekte aufweisen. Allein die

307 Vgl. Früh 2004, 122.

308 Vgl. Mayring 2008, 55.

309 Vgl. Früh 2004, 127.

310 Früh 2004, 127.

311 Vgl. Früh 2004, 131.

312 Vgl. Mayring 2008, 77.

313 Früh 2004, 131.

314 Früh 2004, 131.

notwendige Auswahl der vorgestellten Zahlen birgt schließlich interpretative Tendenzen.

Werden diese Zahlen dann untereinander verglichen, was für den Erkenntnisgewinn unerlässlich erscheint, ist die Ebene der Interpretation bereits nahezu vollständig erreicht. Für die vorliegende Arbeit soll also folgende Formel gelten: Die numerische Auswertung präsentiert die erhobenen Zahlen, vergleicht diese und stellt sie bereits in logische Sinnzusammenhänge. Die anschließende Interpretation wendet sich von der abstrakten Zahlenebene zurück zur inhaltlichen, qualitativen Ebene. Die erhobenen Zahlen dienen hier nur noch als richtungsweisende Instanz zur Auswahl und Präsentation relevanter Textstellen aus dem untersuchten Textmaterial.

7 Anwendung der theoretischen Vorüberlegungen zur Erstellung einer auf das Projekt bezogenen Inhaltsanalyse

7.1 Erstellung einer Nullhypothese

Das ‚Wunder von Bern‛ ist einer der Gründungsmythen der Bundesrepublik Deutschland.

Auch neuere Literatur zum Thema kehrt diesen Mythos des „Wir sind wieder wer!“ und der Geschichte von elf aufrichtigen Amateuren, die mit viel Kameradschaft sowie Intelligenz und Spitzfindigkeit ihres Trainers wie aus dem ‚Nichts‛ und aus Ruinen Fußballweltmeister 1954 wurden, in offensiver und zum Teil als unreflektiert zu bezeichnender Weise heraus, was darin gipfelt, dass gelegentlich der 4. Juli 1954 fast zum eigentlichen Geburtsdatum der Bundesrepublik überhöht wird.315

Aus eigenen Voruntersuchungen lässt sich jedoch der Schluss ziehen, dass der deutsche Weltmeistertitel bei der zweiten Nachkriegs-WM zumindest im Ausland zwar wohl als Überraschung im Bezug auf den Sieg im Endspiel gegen die als nahezu unschlagbar geltenden Ungarn, nicht aber als Wunder rezipiert wurde. Vielmehr waren die deutschen Nationalspieler auch im Ausland bekannt. Dementsprechend könnte der Weltmeistertitel als logische Parallelität zum Wiedererstarken der deutschen Wirtschaft betrachtet worden sein, was zu überprüfen sein wird. Der Mythos vom Wunder könnte dagegen beispielsweise mit einer integrativen, innerdeutschen Funktion behaftet sein. Auch dies wird zu überprüfen sein.

Die der eigentlichen Inhaltsanalyse den Rahmen gebende These, die mehrdimensional mehrere Bedeutungsebenen beinhaltet, lautet: Der Sieg der bundesrepublikanischen Nationalmannschaft bei der Fußballweltmeisterschaft 1954 in der Schweiz wird von Printmedien in England, Frankreich, Österreich und der Schweiz als höchstens überraschend, nicht aber als Wunder eingestuft und in den allgemeinen deutschen Wiederaufbau verortet, dabei jedoch mit Sorge vor erneutem übertriebenen deutschen Nationalstolz kritisch beleuchtet.

7.2 Erklärung der theoretischen Konstrukte und Bedeutungsdimensionen innerhalb der Nullhypothese

Die Endrunde der Fußballweltmeisterschaft 1954 wurde vom 16. Juni bis 4. Juli des Jahres unter 16 Mannschaften in der Schweiz ausgetragen. Spielorte waren Basel, Bern, Genf,

315 Vgl. beispielsweise Kilz 2005, 15f.

Lausanne, Lugano und Zürich. Im Endspiel am 4. Juli in Bern besiegte die bundesrepublikanische Mannschaft, also die von Trainer Sepp Herberger betreute Auswahl Westdeutschlands, bestehend aus den Spielern Anton Turek, Werner Kohlmeyer, Werner Liebrich, Josef Posipal, Horst Eckel, Karl Mai, Max Morlock, Fritz Walter, Helmut Rahn, Hans Schäfer und Ottmar Walter die Mannschaft Ungarns mit 3:2 und wurde damit erstmals Fußballweltmeister.

Als Printmedien aus den genannten Ländern werden The Daily Telegraph and Morning Post, The Manchester Guardian, The Observer, The Times, Daily Mail, Daily Worker (England), Le Figaro, Le Monde, Libération, L’Humanité Dimanche, L’Équipe (Frankreich), Salzburger Nachrichten, Die Presse, Wiener Zeitung (Österreich), Neue Zürcher Zeitung, Journal de Genève, Gazette de Lausanne und Basler Nachrichten (Schweiz) im Zeitraum von Mai bis einschließlich Juli 1954 auf Artikel mit den Themen Deutschland bei der Weltmeisterschaft und allgemeine Situation Deutschlands im Kontext der Weltmeisterschaft untersucht.

Das Konstrukt „überraschend“ kann hier nur in Abgrenzung zum Wunder definiert werden.

So bedeutet „überraschend“ in diesem Kontext, dass der WM-Titel Deutschlands nicht unbedingt erwartet werden konnte, vor allem mit Blick auf die als sehr stark eingeschätzten Konkurrenten aus Ungarn. Die Bezeichnung des Erfolges als Wunder würde diesen im Wortsinne dagegen nahezu übernatürlich überhöhen und damit auch unerklärbar werden lassen. Wird im Zusammenhang mit der Weltmeisterschaft 1954 jedoch vom deutschen Fußballwunder gesprochen, so ist der Begriff „Wunder“ hier effektiv als Steigerung des Begriffs „Überraschung“ zu definieren.

Der Wiederaufbau Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg wird zumeist mit dem Phänomen des deutschen Wirtschaftswunders gleichgesetzt. Gemeint sind damit die Jahre nach dem Krieg, in denen nicht nur die gröbsten Folgen des Krieges im Land beseitigt wurden, sondern die Bundesrepublik als geografischer Nachfolger des Kriegsaggressors Deutsches Reich auch international wieder als Akteur anerkannt wurde. Als Beginn des Wirtschaftswunders wird häufig der Jahreswechsel 1951/52 angesehen.

Als Angst vor neuerlichem deutschen Nationalstolz ist damit die Sorge im Ausland zu verstehen, welches die steigende Wirtschaftskraft Deutschlands ebenso wie sportliche Erfolge auf internationalem Parkett nur wenige Jahre nach Kriegsende noch unter den Eindrücken der Erfahrungen mit deutscher Geschichte in den Jahren 1914 bis 1918 sowie vor allem 1933 bis 1945 betrachtete.

7.3 Indikatoren zur Überprüfung der Nullhypothese

Die aufgestellte Nullhypothese enthält sowohl sportliche als auch wirtschaftliche, soziale, psychologische und politische Aspekte. Unter diesen Prämissen muss das Datenmaterial also durchgearbeitet werden. Der sportliche Aspekt der Analyse betrifft dabei in erster Linie die Rezeption der Leistungen und des Auftretens des deutschen Teams. Indikatoren zur Überprüfung der Nullhypothese wären an dieser Stelle Erwähnungen der Spielstärke der deutschen Nationalmannschaft auch im Vergleich zu den internationalen Konkurrenten.

Beispielsweise muss die Frage beantwortet werden, ob der deutsche Titelgewinn laut internationaler Medienwahrnehmung als verdient gekennzeichnet wird. Nicht nur die Mannschaft als Kollektiv, auch die Wahrnehmung der Qualität der Einzelspieler muss hierbei jedoch beachtet werden. Der Mythos vom Wunder gründet sich schließlich auch auf die angebliche Anonymität der deutschen Fußballer im internationalen Vergleich. Wenn bewiesen werden kann, dass einzelne Spieler auch vor Erringung des Titels bereits im internationalen Fußballgeschehen einen bekannten Namen hatten, wäre dies ein Anhaltspunkt für die fehlende Funktionstüchtigkeit des Wundermythos. Betrachten die untersuchten Zeitungen die Mannschaft jedoch vor allem als Kollektiv der Unbekannten, erhielte der Mythos vom Wunder an dieser Stelle eine Bekräftigung. Rein definitorisch betrachtet, kann an dieser Stelle außerdem bereits festgelegt werden, dass theoretisch bereits eine Nennung Deutschlands als Mitfavorit um den Weltmeistertitel den Mythos vom Wunder entkräftet.

Denn auch wenn ‚Wunder‛ – wie in diesem Fall beschrieben – als Steigerung der Überraschung definiert wurde, müsste ein (nachträglich?) derart mystifiziertes Phänomen wie das des deutschen WM-Erfolges außerhalb jeglicher Denkstrukturen gelegen haben. Die daraus zu folgernde Subhypothese lautet: Eine Überraschungsmannschaft kann im Vorfeld durchaus als Außenseiter im Kampf um den Titelgewinn gehandelt worden sein – wenn auch nicht mit den Prognosen, die anderen Teams zugesprochen wurden. Ein Wunder hingegen kann nicht erwartet und damit auch nicht einmal vorsichtig prognostiziert werden.

Desweiteren müssen Erwähnungen der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Situation Deutschlands im Kontext der Fußballweltmeisterschaft betrachtet werden. Werden sportlicher Erfolg und wirtschaftlicher Wiederaufbau kohärent beschrieben? Werden Wechselwirkungen beider Systeme festgestellt? Wie wird die innerdeutsche Rezeption des Weltmeistertitels beispielsweise in Form von Jubelfeiern und gesellschaftlichen Ereignissen im Anschluss an das gewonnene Endspiel wahrgenommen? Anzunehmen ist schließlich, dass der Sport beispielsweise durch Schaffung von kollektiven Erinnerungen identitätsstiftende Wirkung für

eine Nation erhalten und sogar – wenn auch meist nur temporär begrenzt – zu Nationbuildingprozessen beitragen kann.316 Insbesondere ein Staat in der Situation Deutschlands neun Jahre nach dem Kriegsende – auch als Stunde null bezeichnet – könnte sich dieser Phänomene ermächtigen und sie für ein wie auch immer geartetes inneres Einheitsgefühl nutzen. Fraglich ist nun, wie entsprechende Tendenzen im Ausland aufgenommen wurden.

Zusammenfassend gelten also sowohl die sportliche Rezeption der deutschen Mannschaft als auch die Wahrnehmung der Bundesrepublik als politischer, wirtschaftlicher und sozialer Akteur als Indikatoren für die Inhaltsanalyse. Die Fußballweltmeisterschaft bleibt dabei immer das ordnende Bindeglied.