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10 Interpretation

10.2 Die Rezeption der sportlichen Aspekte des WM-Turniers

10.2.1 Vor dem Turnier

10.2.2.5 Die deutsche Nationalmannschaft

10.2.2.5.1 Die Vorrunde

Eines der bisherigen Ergebnisse dieser Untersuchung war besonders überraschend. So konnte festgestellt werden, dass der gerade in Deutschland immer noch so beständig aufrechterhaltene Mythos von der Nationalmannschaft, die aus dem Nichts kam und trotzdem den Weltmeistertitel errang, wenigstens mit Blick auf viele der untersuchten Medien nicht vollständig zu halten ist. Zumindest in einigen Expertenkreisen war das Ansehen der deutschen Auswahl unter Bundestrainer Sepp Herberger relativ hoch. Gleichzeitig musste aber auch konstatiert werden, dass sich die untersuchten englischen Medien praktisch nicht für das deutsche Team interessierten. Die Frage ist nun, wie sich diese Wertschätzung von französischer Seite, die zugleich in Teilen der untersuchten österreichischen und schweizerischen Presse nachgewiesen werden konnte, und die gleichzeitig im Vorfeld des Turniers festgestellte Ignoranz der deutschen Nationalmannschaft von englischer und – mit

761 Journal de Genève, 26. Juni 1954, 10.

762 Vgl. Journal de Genève, 26. Juni 1954, 10.

763 Vgl. Journal de Genève, 28. Juni 1954, 8.

Blick auf Wiener Zeitung und Presse – Wiener Seite während der WM aus sportlicher Sicht entwickelt.

Es überrascht dementsprechend zunächst wenig, dass sämtliche untersuchten englischen Zeitungen dem Auftaktspiel der Deutschen gegen die Türkei praktisch kein Interesse entgegenbringen. So taucht der Ausgang des Aufeinandertreffens nur in knappen Ergebnislisten auf. Ausführliche Spielberichte gibt es nicht. Nur der Daily Telegraph erhebt Jupp Posipal im Zusammenhang mit dem Aufeinandertreffen zu „Germany’s star“764. Genauso verhält es sich mit den innerhalb dieser Untersuchung bearbeiteten französischen Zeitungen mit Ausnahme von L’Équipe. Vor dem Spiel verdeutlicht die Sporttageszeitung ihren Lesern, dass, wer die Deutschen kenne, sicher sein könne, dass sie sich maßstabsmäßig auf die Partie vorbereiten würden. In den vergangenen beiden Jahren habe die Mannschaft vor allem im Angriff – herausgehoben werden Morlock und die Walter-Brüder – eine positive Entwicklung durchlebt. In diesem Spiel entscheide sich, ob die deutsche Mannschaft einen Platz unter den großen Teams der Weltmeisterschaft einnehmen könne.765 Das spätere Szenario mit dem Relegationsspiel zwischen Deutschland und der Türkei sieht die Zeitung bereits voraus. „Victorieux aujourd’hui à Berne, les Allemands a égalité de points avec les Turcs, joueraient alors la qualification en un troisième match.“766 Einen Sieg der Türken gegen Südkorea betrachtet die Zeitung bei dieser Prognose als sicher.

Die drei zuvor aus der Mannschaft herausgehobenen Stürmer um Kapitän Fritz Walter werden nach der Partie bereits im Titel des Spielberichts von L’Équipe lobend erwähnt. Die favorisierten Deutschen hätten einen leichten Sieg errungen, ist die Zeitung sicher. Negativ fallen der Zeitung die auf dem Platz ausgeübte brutale Autorität („l’autorité brutale“767) von Verteidiger Laband, die fehlende Präzision der gesamten Abwehr sowie die Schwächen von Torwart Toni Turek auf. Die Stürmer dürfen sich hingegen über Superlative freuen. Die herausragende Fähigkeit der Außenstürmer Klodt und Schäfer sei die Schnelligkeit, Ottmar Walter habe brilliert, zusammen mit den unermüdlichen und talentierten Spielern Morlock und Fritz Walter bilde er ein unvergleichliches zentrales Dreieck („l’incomparable triplette centrale“).768 Vor allem wegen dieses Trios könnten sich die Deutschen Hoffnungen auf ein Weiterkommen machen. Auf die Verteidigung müsse aber aufgepasst werden.769

764 Daily Telegraph and Morning Post, 18. Juni 1954, 4.

765 Vgl. L’Équipe, 17. Juni 1954, 8.

766 L’Équipe, 17. Juni 1954, 8.

767 L’Équipe, 18. Juni 1954, 8.

768 Vgl. L’Équipe, 18. Juni 1954, 8.

769 Vgl. L’Équipe, 18. Juni 1954, 8.

Die Wiener Zeitung bestätigt ihre Fokussierung auf Österreich rund um das Spiel Deutschland-Türkei und veröffentlicht zunächst von Spielen ohne Beteiligung der Österreicher nur die Ergebnisse.770 Die Presse erlaubt sich dagegen einen sehr kurzen, nur vier Sätze umfassenden Ausblick auf das erste Deutschlandspiel. Die besseren Chancen auf den Sieg habe Deutschland, „zumal die Elf in den letzten Monaten einen deutlichen Formanstieg erkennen ließ“771. Ähnlich kurz fällt der Spielbericht zwei Tage später aus. Nach der Pause seien „Herbergers Schützlinge“772 in Fahrt gekommen. Der Angriff habe sich besonders stark präsentiert.773 Zwei immer wiederkehrende Kennzeichen der Berichterstattung über die deutsche Mannschaft sind hier erneut ablesbar. Herausgestrichen werden die Person des Trainers, hier anhand der Formulierung „Herbergers Schützlinge“, sowie die Offensivabteilung der Deutschen. Nach dem Sieg der deutschen Mannschaft erwägen auch die Salzburger Nachrichten, dass ein zweites Spiel zwischen Deutschland und der Türkei möglich sei. Deutschlands Spieler, deren Routine sich erst nach der Halbzeit durchgesetzt habe, hätten kämpfen müssen. Die Abwehr wird insbesondere kritisiert.

Trotzdem habe sich der Favorit durchgesetzt.774

Die Spielberichte in NZZ und Basler Nachrichten fallen sehr nüchtern aus und orientieren sich fast ausschließlich an der Wiedergabe des Spielgeschehens. Die Basler Nachrichten loben zumindest das nach einer gewissen Spieldauer einsetzende Teamwork der Deutschen.775 Die NZZ charakterisiert die Angriffe der Mannschaft als systematisch vorgetragen. Deutschland habe sich prinzipiell taktisch und technisch besser durchzusetzen vermocht, was aber durch den großen Einsatz der Türken wettgemacht worden sei. So sei ein abwechslungsreiches Spiel entstanden.776 Der Ausblick der Gazette de Lausanne auf das Spiel fällt ein wenig inhaltsreicher aus. Die Mannschaft von der anderen Rheinseite („d’outre-Rhin“777 – ein häufig in französischsprachigen Zeitungen auftretendes Synonym für Deutschland) profitiere von ihrer Ausgeglichenheit und verschleiere ihre Ambitionen für das Turnier nicht. Diese Ambitionen seien auch legitim, stellt das Blatt fest und unterstreicht damit ein weiteres Mal, wie hoch die deutsche Mannschaft von Experten gehandelt wurde.778 Das Spielgeschehen wird dann in wenigen Sätzen abgehandelt. Deutschland habe die Türken problemlos dominiert und die starken Eindrücke, die die Zeitung vorher von der Mannschaft

770 Vgl. Wiener Zeitung, 19. Juni 1954, 5.

771 Die Presse, 17. Juni 1954, 12.

772 Die Presse, 19. Juni 1954, 8.

773 Vgl. Die Presse, 19. Juni 1954, 8.

774 Vgl. Salzburger Nachrichten, 18. Juni 1954, 3.

775 Vgl. Basler Nachrichten, 19. Juni 1954 (Frühausgabe), 3.

776 Vgl. NZZ, 19. Juni 1954, Blatt 8.

777 Gazette de Lausanne, 17. Juni 1954, 6.

778 Vgl. Gazette de Lausanne, 17. Juni 1954, 6.

gewonnen habe, bestätigt.779 Der Sieg sei verdient gewesen, wenn die Deutschen zu Beginn auch Mühe gehabt hätten.780 Das Journal de Genève gibt eine detailliertere Wiedergabe des Spielgeschehens, verzichtet aber überwiegend auf analysierende Betrachtungen. Ausnahme:

Das Spiel habe die siegreiche Mannschaft aus Deutschland noch weiter wachsen lassen, das Team zeige bereits ein furchterregendes Auftreten („figure d’épouvantail“), was in diesem Fall die enorme Stärke der Deutschen unterstreichen soll.781 Schon nach einem Turnierspiel hatte die deutsche Nationalmannschaft offenbar bei einigen der untersuchten Zeitungen großen Eindruck hinterlassen, der sich jedoch noch nicht in längeren Analysen niederschlug.

Die meisten Berichte zum deutschen Auftaktmatch umfassen nur wenige Sätze.

Zum ersten Mal größere Beachtung findet die deutsche Mannschaft während des Turniers nach der hohen 3:8-Niederlage im zweiten Gruppenspiel gegen Ungarn. Dabei entsteht der Eindruck, dass dieses Spiel nur aufgrund der großartigen ungarischen Leistung aufgenommen wurde. Der Daily Telegraph und die Daily Mail bilden dabei die Ausnahme. Dort wird nicht auf das Spiel eingegangen. Nur vor Beginn der Endrunde wagt die Daily Mail in einem Artikel, der sich ansonsten ausschließlich mit den englischen Chancen auseinandersetzt, die Prognose, dass Deutschland gegen Ungarn eine Chance habe. Nähere Erläuterungen, warum dies so sei, folgen nicht.782

Die Times nutzt das hohe Ergebnis zu einer vorsichtigen Rehabilitation des englischen Teams, das schließlich vor dem Turnier eine ähnlich hohe Niederlage gegen Ungarn verkraften musste. „Indeed, Germany understood the Hungarian idiom no better than had England, […].“783 Eine gewisse Wertschätzung der deutschen Stärke wird jedoch daher ersichtlich, dass die Zeitung kurz über die gute Leistung Deutschlands gegen die Türkei berichtet, um daraus Hoffnungen zu formulieren, dass es die Ungarn gegen diesen Gegner vielleicht schwerer hätten haben können als noch in den Spielen davor. Diese Hoffnungen wurden enttäuscht. Auch die drei Tore werden eher dem Spieltrieb des ungarischen Torwarts Grosics zugeschrieben, der diese durch seine unkontrollierten Ausflüge verschuldet hätte. 784

Der Manchester Guardian erkennt ebenso deutlich die Überlegenheit des späteren Vize-Weltmeisters an. „A crowd of 56.000 watched the Hungarians systematically reduce the German team to a ragged and disorganised side, bewildered completely by the speed and

779 Vgl. Gazette de Lausanne, 18. Juni 1954, 6.

780 Vgl. Gazette de Lausanne, 18. Juni 1954, 6.

781 Vgl. Journal de Genève, 18. Juni 1954, 9.

782 Vgl. Daily Mail, 15. Juni 1954, 6.

783 The Times, 21. Juni 1954, 2.

784 Vgl. The Times, 21. Juni 1954, 2.

uncanny ball control of its opponents.“785 Immerhin wird den Deutschen zugestanden, trotz des schnellen Rückstands teilweise schnellen und intelligenten Fußball gespielt zu haben.786 Der Daily Worker rechnet den Deutschen schon im Vorfeld wenig Chancen gegen Ungarn zu.

Zwar habe die Mannschaft bei dem komfortablen Sieg gegen die Türkei überrascht, „but they should be surprised themselves tomorrow – by the skill and pace of Hungary’s attacking soccer.“787 Dieser Absatz stellt gleichzeitig die erste Erwähnung eines Spiels im Daily Worker dar, an dem England und Schottland nicht beteiligt waren. Dies bedeutet jedoch keinesfalls, dass die Zeitung auch im Nachhinein einen Spielbericht veröffentlicht hätte.

Etwas ausführlicher fällt die Berichterstattung zu diesem Spiel in Basel in den untersuchten französischen Zeitungen aus, wenngleich L’Humanité Dimanche das Aufeinandertreffen nur in einem Satz ankündigt und es als das Match mit der möglicherweise größten Nachwirkung beschreibt.788 Was dies bedeuten soll, lässt das Blatt offen. Die höhere Beachtung, die dem Spiel von den untersuchten Medien aus Frankreich entgegengebracht wurde, mag jedoch auch daran liegen, dass der hohe Sieg Ungarns etwas vom gleichzeitigen Ausscheiden der Franzosen abgelenkt haben könnte.

Der offensichtlich lokal etwas desorientierte Autor des Berichts in Le Monde beginnt dementsprechend mit einem Vergleich der beiden Spiele, in dem das französische Team unverhohlen schlecht abschneidet:

Quitter Genève, où la France avait remporté la plus contestée et la moins flatteuse des victories, pour gagner Berne (sic!), où la Hongrie avait rendez-vous l’Allemagne, c’était quitter le moyen âge pour les temps modernes, opposer la soule tumulteuse au football le plus lumineux et le plus pur.789

Erstaunlicherweise wird die Leistung der Deutschen hier deutlich positiver eingeschätzt als in England. Die Ungarn wären einfach zu stark gewesen und hätten das Spiel zum Ende hin mehr als Trainingsspiel und Vergnügen betrachtet.790

Le Figaro ist eine der wenigen untersuchten Zeitungen, die feststellt, dass der deutliche Sieg der Ungarn auch auf die Menge der aufgebotenen deutschen Ersatzspieler zurückzuführen sein könnte. Beklagt wird dementsprechend, dass die Ungarn gar nicht wirklich gefordert worden wären.791 Dass sich um diese Aufstellung später regelrechte Mythen ranken würden, und sie als genialer Schachzug Sepp Herbergers gefeiert werden würde, ahnt zu diesem Zeitpunkt noch niemand.

785 The Manchester Guardian, 21. Juni 1954, 8.

786 Vgl. The Manchester Guardian, 21. Juni 1954, 8.

787 Daily Worker, 19. Juni 1954, 4.

788 L’Humanité Dimanche, 20. Juni 1954, 10.

789 Le Monde, 22. Juni 1954, 11.

790 Vgl. Le Monde, 22. Juni 1954, 11.

791 Vgl. Le Figaro, 21. Juni 1954, 11.

Libération zweifelt zwar nicht an der drückenden Überlegenheit des ungarischen Teams, erkennt aber auch die Qualität des deutschen Spiels an. So hätte diese gegen Ungarn unterlegene Mannschaft viele andere europäische Teams geschlagen.792 Völlig verwundern mag diese Aussage deswegen nicht, da Libération Deutschland am offensivsten zu einem WM-Favoriten erkoren hatte und diese Prognose offensichtlich noch nicht als falsch hinstellen möchte.

L’Équipe beginnt die Vorberichterstattung zu dem Spiel bereits auf der Titelseite. Ungarn treffe auf die bemerkenswerte Formation Deutschlands, heißt es in der Vorschau, die sich ansonsten auf die Ungarn fokussiert. Nur deren Stürmerstar Hidegkuti wird ansonsten zitiert, dass Deutschland ihn im Spiel gegen die Türkei beeindruckt und überrascht habe.

Insbesondere die Leistungen Morlocks, Klodts, Schäfers und Eckels hätten ihm imponiert.793 Im Innenteil setzt die Zeitung ihre Vorberichterstattung – wiederum trotz eines Interviews mit Sepp Herberger, dessen Fragen zur Mannschaftsaufstellung vom deutschen Trainer unbeantwortet bleiben, weitgehend mit dem Fokus auf Ungarn – fort. Im Bezug auf die deutsche Mannschaft blickt L’Équipe vor allem auf deren erstes Turnierspiel zurück. Die Defensive und vor allem Torhüter Turek hätten dort nicht die Leistung gebracht, die von ihnen erwartet worden wäre. Vor allem die modern spielenden Läufer Eckel und Mai hätten das deutsche Spiel vorangetrieben, weswegen der Angriff – einer der besten in der Welt – in der zweiten Halbzeit habe explodieren können. Die offensive Ausrichtung der Deutschen sei aber auch eine Chance für die Ungarn, die deswegen eventuell besser ihre Torschüsse anbringen könnten. Wie gut die ungarische Angriffsformation eingespielt sei, mag die Zeitung zu diesem Zeitpunkt im Turnier jedoch noch nicht einschätzen. Dies hänge davon ab, wie sie sich gegen die Deutschen präsentiere. In jedem Fall kennzeichnet die Zeitung das Aufeinandertreffen als eines der wichtigsten Spiele der gesamten WM.794 Nach dem Sieg der Ungarn titelt die Zeitung, dass dieser Erfolg gegen eine experimentell aufgestellte deutsche Mannschaft zustande gekommen sei. Gründe für die mit Ersatzspielern gespickte Auswahl nennt das Blatt nicht. Die Ungarn seien gegen die langsamen Deutschen nie in Gefahr geraten, in fast jeder Spielsituation hätten sie mehrere Möglichkeiten, das Spiel voranzutreiben, besessen. Auf deutscher Seite verlegt sich die Zeitung vor allem auf die Schilderung der Reaktionen unzufriedener deutscher Zuschauer im Stadion795, die an anderer Stelle noch genauer analysiert werden.

792 Vgl. Libération, 21. Juni 1954, 8.

793 Vgl. L’Équipe, 19. Juni 1954, 1.

794 Vgl. L’Équipe, 19. Juni 1954, 9.

795 Vgl. L’Équipe, 21. Juni 1954, 1.

Die österreichische Zeitung Die Presse vermutet bereits vor dem Spiel strategische Überlegungen des Bundestrainers: „Trotz aller Geheimpläne Herbergers rechnen die Experten mit einem sicheren Erfolg der Madjaren.“796 Dass diese Niederlage Deutschlands willentlich in Kauf genommen werden würde, erkennt das Blatt im Vorfeld noch nicht. Einen differenzierten Blick lohnt außerdem der vorhergehende Satz, in dem „die Begegnung zwischen den hohen Favoriten Ungarn und Deutschland in Basel“797 angekündigt wird. Diese Textstelle ist in zweierlei Weise interpretierbar. Einerseits könnte man die Äußerung so verstehen, dass beide Teams bereits zu diesem Zeitpunkt als hohe Favoriten für das Turnier bezeichnet werden. Grammatikalisch betrachtet wäre dies die naheliegende Variante, inhaltlich nicht weniger als eine Sensation, weil Deutschland bei einer Favoritenprognose in einem Atemzug mit Ungarn genannt wird. Möglich ist aber auch, dass die Zeitung den vorgestellten Zusatz „hohen Favoriten“ nur auf Ungarn bezog. Ausgeräumt worden wäre diese doppelte Lesbarkeit, wenn die Zeitung die Formulierung ‚zwischen dem hohen Favoriten Ungarn und Deutschland‛ gewählt hätte. Anhand der vorhergehenden Analysen von Textstellen bezüglich des deutschen Favoritenstatus erscheint die zweite Lesart logischer, da eine Gleichstellung beider Teams im Bezug auf ihre Chancen im Turnier dort nicht vorgenommen wurde, Ungarn also bis auf einen Artikel in Libération798 immer den höheren Status in Favoritenprognosen innehatte, und außerdem im folgenden Satz ein sicherer Sieg Ungarns prognostiziert wird. Zweifel bleiben jedoch bestehen, und wegen dieser Zweifel ist die diesen Überlegungen zugrunde liegende Textstelle auch nicht codiert worden.

Nach dem Spiel erläutert Die Presse zunächst die Absichten Herbergers unter dem Titel „Das war Herbergers Geheimplan“799. Auch mit der A-Mannschaft habe er sich keine Erfolgschancen ausgerechnet, deswegen Spieler für das Relegationsspiel geschont. Regelrecht verwundert zeigt sich die Zeitung über die Empörung der deutschen Medien.800 Am folgenden Tag stimmt sie jedoch auch in die Kritik mit ein. Im Hinblick auf das zweite Spiel gegen die Türkei mag das Konzept aufgegangen sein, aber:

Die Kalkulation ist noch nicht aufgegangen. Sie entspricht aber auch kaum dem Wesen der Titelkämpfe, in denen der Eintritt in das Viertelfinale sozusagen durch das ‚Hintertürchen‛ kaum über das wahre Kräfteverhältnis, das sich am Sonntag in Basel zeigte, hinwegtäuschen kann. Herbergers

‚nordische List‛ mag Deutschland unter die letzten Acht führen, dort wird aber für die Elf Endstation sein.801

796 Die Presse, 20. Juni 1954, 14.

797 Die Presse, 20. Juni 1954, 14.

798 Vgl. Libération, 9. Juni 1954, 5.

799 Die Presse, 22. Juni 1954, 8.

800 Vgl. Die Presse, 22. Juni 1954, 8.

801 Die Presse, 23. Juni 1954, 8.

Außerdem kritisiert die Zeitung das harte Auftreten der deutschen Nationalmannschaft gegen Ungarn. Das Team habe „nicht gerade fein“802 gespielt. Den Protagonisten dieser Spielweise hat das Blatt ebenfalls ausgemacht. Ungarns Kapitän Puskas sei von Liebrich „rücksichtslos niedergetreten“803 worden.

Die Wiener Zeitung hingegen lobt die Vorgehensweise Herbergers gegen Ungarn. Der Sieg Ungarns sei zwar erwartet worden, aber „die Deutschen stellten zu diesem Spiel in kluger Voraussicht nicht die stärkste Elf, was […] auch die hohe Niederlage erklärt.“804 Entscheidend an dieser Stelle ist, dass die Zeitung die Worte „klug“ und „Voraussicht“

verwendet und damit die Maßnahme als absolut nachvollziehbar interpretiert. Der Bundestrainer habe keine Chance für einen Sieg gesehen und wolle deswegen lieber eine ausgeruhte Elf gegen die Türkei stellen.805

Die Salzburger Nachrichten bezeichnen das Aufeinandertreffen Deutschlands mit Ungarn als einen der ersten Höhepunkte des Turniers. Die Ungarn hätten ihren „Schlachtplan“ anhand der Eindrücke ausgearbeitet, die sie aus der Partie Deutschland-Türkei gewonnen hätten. Als besonders stark auf deutscher Seite werden Morlock, Klodt und Eckel herausgestellt. Die Deutschen selbst würden sich gegen den Turnierfavoriten sogar einige Chancen einräumen.806 Woher diese Erkenntnis stammt, bleibt unklar. Der Spielbericht steht für die Salzburger Nachrichten ausdrücklich unter dem Eindruck des Fouls von Liebrich an Puskas. „Alarm aus Basel: Puskas zusammengeschlagen“, heißt es beispielsweise im Titel. Vom „Spieler-Mord an Puskas“ ist die Rede und davon dass „Scharfrichter Liebrich den großartigen Könner Puskas gemein zusammengeschlagen“807 habe. Auch wenige Tage später ist die Zeitung noch empört. Eine Stunde lang habe Herberger erfolglos Posipal als Bewacher von Puskas aufgeboten. „Puskas spielte, als ob er überhaupt keinen Gegenspieler hätte.“808 Erst danach sei Liebrich auf den ungarischen Kapitän angesetzt worden, der Puskas dann

„zusammenschlug“.809 Spielerisch habe Ungarn der deutschen Elf eine Lektion in modernem Fußball erteilt. Aus taktischen Gründen sei „Fußball-Stratege Herberger“ der „großen Auseinandersetzung“ wegen der vielen Ersatzspieler jedoch ausgewichen. Trotzdem hätten die „Herberger-Schüler“ einen „ausgeklügelten Plan“ auf das Spielfeld mitgebracht. Nur vier aufgebotene Stürmer – im WM-System waren sonst fünf die Regel – seien jedoch zu wenig

802 Die Presse, 23. Juni 1954, 8.

803 Die Presse, 23. Juni 1954, 8.

804 Wiener Zeitung, 22. Juni 1954, 6.

805 Vgl. Wiener Zeitung, 22. Juni 1954, 6.

806 Vgl. Salzburger Nachrichten, 19. Juni 1954, 7.

807 Alle drei Zitate: Salzburger Nachrichten, 21. Juni 1954, 6.

808 Salzburger Nachrichten, 23. Juni 1954, 8.

809 Vgl. Salzburger Nachrichten, 23. Juni 1954, 8.

gegen die ungarische Abwehr gewesen. Später macht die Zeitung eine Kehrtwende und erklärt, dass sich diese Abwehr vor allem gegen Rahn und Herrmann schwer getan habe.810 Kritik muss sich Fritz Walter gefallen lassen. „Dirigent Fritz Walter ist ein alter Herr. Als die Ungarn das Tempo verschärften, musste er zurückfallen. Mit einem Vier-Mann-Sturm konnte sich Herberger einen konditionsschwachen Angreifer nicht leisten.“811 Noch kann die Zeitung nicht ahnen, wie gerade der deutsche Kapitän im weiteren Verlauf des Turniers noch auftrumpfen sollte. So bleibt folgendes Fazit der Salzburger Nachrichten: „Deutschland hat enttäuscht. Der Herberger-Riegel war nicht gekonnt.“812

Der Spielbericht in der NZZ bleibt an den Ereignissen auf dem Feld orientiert. Ausgeführt wird nur, dass Deutschland acht personelle Umstellungen vorgenommen habe. Das Ausscheiden von Puskas aus dem Spiel ist laut der Zeitung der Hitze geschuldet. Von einem Foul ist keine Rede.813 Erst auf der folgenden Seite wird die Strategie Herbergers kurz erklärt:

„Der ungarische Erfolg ist denn auch erwartungsgemäß hoch ausgefallen, aber die Absicht dürfte erreicht worden sein, das A-Team für die Wiederholung gegen die Türkei zu schonen.“814 Zwei Tage später geht die Zeitung jedoch erneut auf „Sepp Herbergers Schachzug“ ein. Die NZZ fragt: „War er ein Meisterstück der Fußballkriegsstrategie oder der Ausfluß einer beschämend unsportlichen Gesinnung?“815 Sportlich betrachtet zollt die Zeitung Herberger und dessen „strategischer Intelligenz“ zunächst Respekt. Das Konzept sei

„Der ungarische Erfolg ist denn auch erwartungsgemäß hoch ausgefallen, aber die Absicht dürfte erreicht worden sein, das A-Team für die Wiederholung gegen die Türkei zu schonen.“814 Zwei Tage später geht die Zeitung jedoch erneut auf „Sepp Herbergers Schachzug“ ein. Die NZZ fragt: „War er ein Meisterstück der Fußballkriegsstrategie oder der Ausfluß einer beschämend unsportlichen Gesinnung?“815 Sportlich betrachtet zollt die Zeitung Herberger und dessen „strategischer Intelligenz“ zunächst Respekt. Das Konzept sei