• Keine Ergebnisse gefunden

Diskussion der Fallstudien und des Ressourcen-Macht- Ressourcen-Macht-Abhängigkeitsmodells

9 Betriebliche Interaktionsmuster und Durchsetzungsstärke von Perso- Perso-nalräten

9.3 Diskussion der Fallstudien und des Ressourcen-Macht- Ressourcen-Macht-Abhängigkeitsmodells

Das Ressourcen-Macht-Abhängigkeitsmodell ist aufgrund der Ergebnisse der Fallstudien ei-ner kritischen Revision zu unterziehen. Insbesondere drei Aspekte sind diskussionswürdig:

erstens eine nötige Ergänzung um Kerngedanken des Systems der Mitbestimmung, zweitens ein zentraler Aspekt einiger empirisch initiierter Typologien und drittens die gleichzeitige Verhandlung von Problemlösung und Verteilung zwischen den Betriebsparteien.

Zum ersten Aspekt: Die Grundannahme des Ressourcen-Macht-Abhängigkeitsansatzes ist, dass zwei Partner ihre Ressourcen auf reiner Zweckebene austauschen. Ob es dabei zu Kon-flikten kommt, liegt an den Ressourcenausstattungen der Parteien. Die Lösungsfindung der auszuhandelnden Sachfragen findet alleine aufgrund der Macht der betrieblichen Akteure statt. Der stärkere Akteur setzt sich durch. Das ist allerdings nicht der Grundgedanke der Mit-bestimmung. Dort soll jeder betriebliche Konflikt friedlich beigelegt werden. Das Modell der Mitbestimmung strebt die Befriedung der Betriebspolitik an. Die Konfliktaustragung soll von einem Machtkampf hin zu einem themengebundenen, auf Konsenserzielung ausgerichteten Gespräch verschoben werden. Der mit einem Arbeitskampf verbundene Austausch von Machtmitteln soll möglichst verhindert werden. Daher sollte der

Ressourcen-Macht-146

Abhängigkeitsansatz vor der Anwendung um die Spezifika der rechtlichen Situation ergänzt werden.

Zum zweiten Aspekt: Die von Weltz 1977b beschriebene „kooperative Konfliktverarbeitung“

zeigt trotz seiner Ähnlichkeit zum Ressourcen-Macht-Abhängigkeitsansatz einen zentralen Unterschied. Die eigentliche Drohung für die Betriebsparteien liegt nicht im Entzug von Res-sourcen, sondern vor allem in der Androhung des Systembruchs. Kooperative Konfliktverar-beitung beschreibt einen für beide Parteien angenehmen Zustand. Es muss nicht in gleicher Weise um die benötigten Ressourcen verhandelt werden, wie im „Ressourcen-Macht-Abhängigkeitsansatz“. Der Unterschied liegt in der Anerkennung der Position der anderen Betriebspartei als berechtigtem Verhandlungspartner, der andere Interessen vertritt, dies je-doch einem gemeinsamen Gesamtinteresse unterordnet. Der Bruch mit diesem System würde zu Beschäftigtenbeziehungen führen, in denen Konflikte im Vordergrund stehen können. Es würde dann wieder deutlich härter um Ressourcen gehandelt: Die Transaktionskosten steigen, Konflikte (und deren Kosten) werden häufiger und das Betriebsklima leidet. Dabei verliert gewiss eine der Betriebsparteien, evtl. sogar beide. Die Betriebsparteien einigen sich daher (implizit) auf ein Austauschsystem, in dem gerade nicht alle Ressourcen bei Verhandlungen in Stellung gebracht werden.

Insbesondere die Fallstudien von Kotthoff 1981; Kotthoff 1994 und Bosch, Ellguth et al.

1999, aber auch die anekdotischen Beispiele aus der Praxis von Deppisch, Jung et al. 2003, zeigen, dass der blinde Fleck des Ressourcen-Macht-Abhängigkeitsansatzes die Nichtbeach-tung von Vertrauen zwischen den Betriebsparteien ist. Im Ressourcenaustauschmodell sind die Betriebsparteien zwar aufeinander angewiesen. Auch verhandeln die Betriebsparteien über die Ressourcenpreise; doch das Verhandlungsergebnis hängt allein von den Machtmitteln der Antagonisten ab. Wer Ressourcen hat, tauscht diese auch, er wird sie nicht zurückhalten. Der

„Schlüssel zum Erfolg“ ist somit die Schaffung eigener Ressourcen bzw. deren Kontrolle.

Vertrauen, Kommunikation, kooperative Konfliktbearbeitung und Zusammenarbeit kommen in dem Modell nicht vor. Es gibt keine Wahl der Akteure im eigentlichen Sinne. Das hat sei-nen Grund darin, dass das Modell eine Adaption des ökonomischen Verhandlungsmodells auf die betriebliche Situation der Arbeitsbeziehungen ist. Ein austauschtheoretisches Konzept sollte dagegen, wie die Fallstudien nahelegen, explizit Vertrauen modellieren, wenn es die Beziehung von Personalrat und Dienststellenleitung adäquat abbilden will.

Kotthoffs Typologie der Beziehungen von Betriebsrat und Geschäftsführung beinhaltet einige Aspekte, die besonders in einer gemeinsamen Betrachtung mit dem

Ressourcen-Macht-147

Abhängigkeitsansatz an Interesse gewinnen. Dieser Ansatz ist ein Erklärungsmodell, das für sich in Anspruch nimmt, alle Arten von Beziehungen aus den Ressourcen der handelnden Akteure herleiten zu können:

Die ersten drei von Kotthoff beschriebenen Betriebsratstypen können mit dem Ressourcen-Macht-Abhängigkeitskonzept nicht erklärt werden. Denn die Betriebsräte zeichnen sich je-weils dadurch aus, dass sie vorhandene Ressourcen, wie einklagbare Rechte oder im dritten Typ auch Mobilisierungsmöglichkeiten bei der Belegschaft, nicht für sich einsetzen.364

Kotthoff weist vielfach und ausdrücklich darauf hin, dass in seinen Augen Kooperation und Vertrauen in der Kommunikation der Betriebsparteien die Eigenschaften sind, die Interessen-vertretung für die Betriebsräte erfolgreich machen:

„Betriebsrat und Geschäftsleitung sind in eine andauernde und enge Beziehung eingebunden. Es ist für beide unmöglich, nicht zu kommunizieren. (…) Unsere Analysen werden einen überwältigenden Be-weis dafür erbringen, dass der Beziehungsaspekt in der Kommunikation zwischen Betriebsrat und Ge-schäftsleitung der entscheidende ist. Primär der Beziehungsaspekt determiniert Inhalt und Erfolg der Partizipation. Der Begriff der „vertrauensvollen Zusammenarbeit" trifft daher den Kern der partizipati-ven Beziehung. Interessenvertretung und Machtausübung in der partizipatipartizipati-ven Beziehung sind untrenn-bar verbunden mit der Bildung von Vertrauen. (…) Die eminente Bedeutung dieses Phänomens erklärt sich aus dem Zwangsmechanismus, dass die einzige Alternative zu (…) Vertrauen (…) nur Misstrauen ist, und das Misstrauen wie Vertrauen Rückkoppelungseffekte sind. Jeder Misstrauensakt führt zu einer Misstrauensspirale, die jeden Ansatz zu Partizipation im Keim erstickt. Jeder Vertrauensakt ist ein Kre-dit, der zu einer Stabilisierung des Vertrauens führt.“ (Kotthoff 1981: 30)

Vertrauen bedeutet das Erbringen einer (Vor-)Leistung, obwohl eine mögliche Gegenleistung unsicher ist365, z. B. weil die Gegenleistung in der Zukunft liegt oder die Einhaltung abge-schlossener Absprachen bzw. Verträge nicht erzwungen werden kann. Opportunistisches Ver-halten366 zeichnet sich eben dadurch aus, dass Akteure in sie gesetztes Vertrauen dann miss-brauchen, wenn eine Kontrolle von Absprachen nicht möglich ist oder durch den Vertrauens-missbrauch höhere Erträge erzielt werden als durch den Erhalt der Vertrauensbeziehung. Ge-mäß der Befunde von Kotthoff über das Verhältnis von Betriebsparteien in der Privatwirt-schaft scheint die explizite Berücksichtigung einer Vertrauensbeziehung bzw. einer

Misstrau-364 Vgl. Nienhüser 2005: 10.

365 Vgl. Coleman 1990: Kap. 5; Braun 1992: 177. Eine alternative Definition von Vertrauen wäre der Glaube an den Verzicht opportunistischen Verhaltens.

366 Vgl. Williamson 1990: 54.

148

ensbeziehung auch in austauschtheoretischen Konzepten ein vielversprechender Ansatz zu sein.

Vertrauen spielt im Ressourcen-Macht-Abhängigkeitsansatz keine Rolle. Kooperation kommt immer dann zustande, wenn Ressourcen getauscht werden. Wenn ein Machtgleichgewicht besteht entsteht somit auch die meiste Kooperation. Dabei widerspräche die Einführung von Vertrauen in keinem Punkt tatsächlich dem Konzept; es würde allerdings eine zusätzliche unabhängige Dimension erfordern, welche die Komplexität des Modells erheblich steigern würde. Immerhin müsste dann eine Situation denkbar sein, in der zwei gleich mächtige Ak-teure ihre Ressourcen nicht tauschen, da sie einander nicht vertrauen. Diesen Weg wählt Ni-enhüser 2005 in seiner empirischen Untersuchung, wobei er das Komplexitätsproblem durch eine Kategorisierung der beiden Dimensionen „Kooperation“ und „Macht“ reduziert. Doch durch die von den (Macht-)Ressourcen unabhängige Modellierung der Kooperationsdimensi-on wird auch die Prognosekraft des Ressourcen-Macht-Abhängigkeitsansatzes eingeschränkt.

Das Verhalten der Betriebsparteien kann nicht mehr vorausgesagt werden und ihre Durchset-zungsfähigkeit damit ebenfalls nur noch bedingt.

Zum dritten Aspekt: Walton/McKersie 1965: 4-6 unterscheiden vier Typen von Verhandlun-gen abhängig von der Verhandlungssituation. „Intraorganizational bargaining“ beschreibt die Aushandlungsprozesse innerhalb einer Interessengruppe. Bezüglich des hier gewählten Untersuchungsgegenstandes sind somit Verhandlungen innerhalb der Arbeitgeberseite sowie solche innerhalb des Personalrats bzw. auch zwischen Personalrat und Belegschaft angespro-chen. Diese Aushandlungen werden im Ressourcen-Macht-Abhängigkeitsansatz nicht berück-sichtigt, da homogene Gruppeninteressen angenommen werden.367 „Attitudinal structuring“

beschreibt die Manipulation der Sichtweise des Verhandlungsgegners. Diese Prozesse werden im Ressourcen-Macht-Abhängigkeitsansatz insofern berücksichtigt, als dass dort die Beein-flussung der Wahrnehmung von Ressourcenbedürfnissen eine wichtige Rolle spielt. Des Wei-teren unterscheiden Walton/McKersie zwischen „distributive“ und „integrative bargaining“.

Bei den distributiven Verhandlungen ist die Aufteilung der Verhandlungsmasse unter den Verhandlungsparteien Gegenstand der Verhandlungen. Da das Gesamtvolumen der Verhand-lungsmasse in distributiven Verhandlungen unveränderbar ist, entspricht der Gewinn der ei-nen Partei immer dem Verlust der anderen Partei. Bei integrativen Verhandlungen wird die Verhandlungsmasse hingegen vom Verhandlungsergebnis bestimmt. Das wäre z. B. der Fall,

367 So wird eine Vereinfachung der Situation erreicht, aber auch eine nicht immer realistische Annah-me eingeführt (vgl. Trinczek 1989).

149

wenn Produktionsprobleme verhandelt werden oder wenn eine noch unbekannte Lösung für ein Problem gefunden werden soll. In diesem Fall ist die Verhandlungsmasse variabel. Der Verlust der einen Partei ist nicht notwendigerweise der Gewinn der anderen Partei, sondern beide Parteien können durch erfolgreiche Verhandlungen zusätzliche Gewinne erzielen. In Anlehnung an verschiedene Spieltypen der Spieltheorie lässt sich distributives Verhandeln als Nullsummenspiel, integratives Verhandeln als Positivsummenspiel auffassen.368

Die Verhandlungsparteien wählen ihre Verhandlungsstrategie abhängig von der Art der Ver-handlung (oder abhängig davon, wie sie die VerVer-handlungssituation einschätzen). Während in distributiven Situationen kompetitive Strategien angebracht sind (opportunistisches Verhalten, Misstrauen, Drohen, starre Positionen, Informationszurückhaltung, etc.), sind bei integrativen Verhandlungen kooperative Strategien für die Verhandlungsparteien zielführender (effektive und offene Kommunikation, Vertrauen, Kreativität).369 Daran angelehnt unterscheidet auch Müller-Jentsch (1999: 8) Konflikte um die Verteilung des betrieblichen Wertzuwachses („dis-tributive bargaining“) von den Konflikten um das richtige Produktionsverfahren, welches zu dem Wertzuwachs führt („integrative bargaining“). Er macht jedoch darauf aufmerksam, dass beides „eine Seite derselben Medaille sei“. D. h., beide Aspekte werden zwischen den Be-triebsparteien in der Regel gemeinsam verhandelt.

9.4 Verhandlungsdilemma

Wird anerkannt, dass Arbeitnehmer nicht lediglich nach strikten Weisungen von Arbeitgebern handeln, sondern selbstständig Probleme des Produktionsprozesses lösen bzw. den Produkti-onsprozess gestalten und optimieren können, so ergibt sich daraus die Notwendigkeit – insbe-sondere aus Perspektive des Arbeitgebers –, das Wissen und die Kreativität der Beschäftigten einzubinden.370 Ferner kann als gegeben betrachtet werden, dass Arbeitnehmer ein Interesse an den Verteilungsfragen bezüglich der Gestaltung ihrer Arbeitsverhältnisse haben. Wenn

„distributive bargaining“ (Verteilungsverhandlungen) und „integrative bargaining“ (Prob-lemlösungsverhandlungen) verschiedene Strategien für die Betriebsparteien nahelegen371, so verkompliziert sich die Situation spürbar, sollen in Verhandlungen beide Aspekte

berücksich-368 Vgl. Barisch 2011: 9.

369 Vgl. Scharpf 2000: 211.

370 Vgl. die Darstellung der Debatte um die wirtschaftlichen Folgen von Mitbestimmung in Kap. 4.

371 Vgl. Walton/McKersie 1965: 4-5.

150

tigt werden. Lax/Sebenius 1986 und Scharpf 1997 schlussfolgern davon ausgehend auf ein entstehendes „Verhandlungsdilemma“.372

Einige Annahmen des Verhandlungsdilemmas sind dabei identisch mit denen aus dem Res-sourcen-Macht-Abhängigkeitsansatz. Es werden rationale Akteure unterstellt, die ihre eigenen Interessen maximieren wollen. Zudem sollen in beiden Modellen sowohl die Kooperation zwischen den Betriebsparteien als auch deren jeweilige Durchsetzungsfähigkeit erklärt wer-den. Dennoch sind die Modelle aufgrund ihrer verschiedenen Situationsbeschreibung nicht vereinbar. Während in der Ressourcen-Macht-Abhängigkeitstheorie antagonistische Interes-sen angenommen werden, bildet im zweiten Modell die gleichzeitige Vorlage antagonistischer und gemeinsamer Interessen die Ausgangslage. So führen die Modelle auch zu unterschiedli-chen Ergebnissen.

Nachfolgend wird davon ausgegangen, dass sich Verhandlungen zwischen den Betriebspar-teien gerade dadurch auszeichnen, dass sie nicht (nur) „Nullsummenspiele“ sind, wie von der

„Bargaining-Theorie“ angenommen, sondern auch „Positivsummenspiele“. Es gilt für die Betriebsparteien also nicht nur, einen bereits gebackenen Kuchen aufzuteilen, sondern immer auch gleichzeitig darüber zu verhandeln, wie der Kuchen gebacken werden soll. Und durch unterschiedliche Lösungen der letzten Frage kann der Kuchen durchaus verschieden groß aus-fallen. Dabei sind die Personalräte zwar durch die Trennung von den Gewerkschaften von einer der zentralen Verteilungsfragen – der Frage nach der Lohnhöhe – weitgehend befreit.

Doch verhandeln sie regelmäßig über die Arbeitsbedingungen. Diese haben unmittelbaren Einfluss auf das Arbeitsleid und sind daher wie eine Lohnkomponente zu verstehen. Aller-dings besteht der zentrale Unterschied zwischen Lohn und Arbeitsbedingungen darin, dass bei der Lohnhöhe die antagonistische Interessenlage der Betriebsparteien deutlich klarer gegen-über den gemeinsamen Interessen in den Vordergrund tritt, als dies i. d. R. bei den Arbeitsbe-dingungen der Fall sein dürfte.373 Das bedeutet also die Aufgabe der Annahme der antagonis-tischen Interessen der Betriebsparteien zugunsten der Annahme, dass es immer sowohl anta-gonistische als auch gemeinsame Interessen der Betriebsparteien gibt. Die Verfolgung der antagonistischen Interessen kann dabei der Verfolgung der gemeinsamen Interessen schaden und vice versa.

372 Vgl. auch Mayntz/Scharpf 1995 und Scharpf 2000: 211.

373 Wobei natürlich auch der Lohn ein Motivator sein kann, vgl. z. B. zu Effizienzlohntheorien Henne-berger/Keller 2004.

151

Zudem wird angenommen, dass es bei den gegenläufigen Interessen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern – also bei Verteilungsfragen – in Verhandlungen für die Parteien zielfüh-render ist, einen anderen Modus der Verhandlungen zu wählen als bei den gemeinsamen Inte-ressen – also einer effizienten und effektiven Produktion. Diese beiden Verhandlungsmodi widersprechen sich der Annahme gemäß jedoch. Während bei Verteilungsverhandlungen op-portunistisches Verhalten, das Zurückhalten der eigenen Informationen, konfliktorientiertes Verhalten und die maximale Ausschöpfung des zur Verfügung stehenden Spielraums gefragt sind, sind bei Problemlösungsverhandlungen kooperationsorientiertes Verhalten, Kreativität, der Austausch von Informationen und das Unterlassen opportunistischen Verhaltens zielfüh-rend. Dadurch entsteht ein Dilemma: Legen die Parteien Wert auf den Verteilungsaspekt, können Sie das gemeinsame Produktionsinteresse schädigen. Legen sie hingegen Wert auf das Produktionsinteresse, können sie in Verhandlungen ihren möglichen Spielraum nicht aus-schöpfen und laufen Gefahr, von der anderen Partei ausgenutzt zu werden.

Das so eingeführte Verhandlungsdilemma entspricht laut Scharpf (2000: 211) der Struktur des in den Sozialwissenschaften häufig angewendeten Gefangenendilemmas.374 Das Gefangenen-dilemma beschreibt eine Situation, in der die Verfolgung von Eigeninteressen durch die Ein-zelnen zu einem schlechteren Ergebnis für alle führt. Den Parteien stehen die Möglichkeiten offen, zwischen Kooperation und der Verweigerung von Kooperation zu wählen. Ein Gefan-genendilemma375 liegt unter folgenden Bedingungen vor: Es bestehen beiderseitige Ansprü-che, die sich zuwiderlaufen und deren Erfüllung von den Handlungen des anderen abhängt.

Wird der Anspruch des einen Akteurs erfüllt, kann der Anspruch des anderen nur noch in sehr geringem Umfang oder gar nicht erfüllt werden. Die beiden Parteien können sich in einer Form blockieren, dass beide Ansprüche nicht oder nur zu einem geringen Teil erfüllt werden.

Sie können aber auch aufeinander zukommen, sodass in einer gemeinsamen Lösung beide Ansprüche teilweise erfüllt werden, wenn auch nicht in dem Maße wie bei einseitiger Durch-setzung des eigenen Anspruchs. Verweigerung der Kooperation ermöglicht in jeder Situation die individuell bessere Auszahlung. Zwei rational handelnde Spieler werden in einem einma-ligen Spiel somit beide nicht kooperieren. Es entsteht ein Gleichgewicht beiderseitiger Nicht-Kooperation. Dieses Gleichgewicht ist zugleich ein „Nash-Gleichgewicht“, d. h., keiner der Spieler kann einseitig abweichen, um eine höhere Auszahlung zu erzielen. Beiderseitige

Ko-374 Das Gefangenendilemma wurde von Merrill Flood und Melvin Dresher entwickelt. Vgl. für das Gefangenendilemma: Axelrod 1995: 22; Weiershäuser 1996: 124.

375 Die Aussagen beziehen sich auf das hier relevante Gefangenendilemma mit zwei Beteiligten. Für das n-Personen-Gefangenendilemma vgl. Diekmann 2009: 116 ff.

152

operation lässt sich im einfachen Gefangenendilemma nur über Absprachen und Vertrauen erreichen. Für Verhandlungen zwischen Personalräten und Dienststellenleitungen ist nicht von einem einmaligen Spiel, sondern von wiederholten Spielen mit für die Betriebsparteien nicht absehbarem Ende auszugehen. Hierfür gibt es (auch für rational handelnde Akteure) keine optimale Strategie aus individueller Perspektive; denn in der Folgeverhandlung kann das Verhalten der vergangenen Verhandlungen geahndet oder belohnt werden. Aus kollekti-ver Perspektive – also für die Dienststelle in ihrer Gesamtheit – wäre bei tatsächlichem Vor-liegen der Gefangenendilemmasituation bei Verhandlungen zwischen den Betriebsparteien eine beiderseitig immer kooperative Strategie die beste Wahl.

Selbst wenn die Situation innerbetrieblicher Verhandlungen nicht direkt vergleichbar mit ei-nem Gefangenendilemma wäre, so ist sie immer noch ein Koordinationsproblem. Es zeichnet sich dadurch aus, dass eine erfolgreiche im Gegensatz zu einer erfolglosen Koordination bei-den Parteien nützen kann, eine erfolgreiche Koordination einen Kompromiss darstellt, bei dem beide Parteien etwas von ihren Idealvorstellungen abweichen müssen und beide Parteien am besten dastünden, wenn sie ihre Interessen gänzlich durchsetzen könnten. Schließlich kommt hinzu, dass das Ergebnis der Koordination von vornherein niemals durchblickt werden kann. Das bedeutet für das Koordinationsproblem wie für das klassische Gefangenendilemma:

Die Wahl einer bestimmten Interaktionsorientierung ist mit potenziellen Gewinnen, aber auch mit Risiken verbunden. Die Betriebsparteien setzen sich bei kooperativen Einstellungen im-mer der Gefahr aus, von der anderen Partei ausgenutzt zu werden.

Die These wäre also, dass eine kooperative Arbeitsbeziehung zwischen Personalrat und Dienststellenleitung für beide Betriebsparteien zu besseren Ergebnissen führt als eine kon-flikthafte Beziehung. Wenn sich die Betriebsparteien, statt sich auf ein gemeinsames Ziel zu einigen, gegenseitig behindern, werden beide Verlierer der Mitbestimmung sein. Damit das nicht passiert, muss entweder eine der beiden Parteien zurückstecken und wird dann von der anderen dominiert, oder beide Parteien akzeptieren ihre jeweils andere Funktion und verste-hen sich gegenseitig als notwendiges und hilfreiches Korrektiv mit unterschiedlicverste-hen, aber auch gemeinsamen Interessen. Eine gegenseitig kooperative Beziehung zwischen Dienststel-lenleitung und Personalrat kann in der Logik des Gefangenendilemmas aber nur dann von Dauer sein, wenn der Personalrat gegenüber der Dienststellenleitung Sanktionsmacht besitzt.

Ansonsten würde er sich vom Willen der Dienststellenleitung abhängig machen und könnte in die Situation der ausgenutzten Partei geraten (sog. „Sucker-Payoff“).

153

Aus dem Gedanken, dass Personalrat und Dienststellenleitung durch die gleichzeitige Ver-handlung von Verteilungs- und Problemlösung einem iterierten Gefangenendilemma unterlie-gen, leitet sich nicht ab, dass sie rettungslos verloren sind. Ganz im Gegenteil ist davon aus-zugehen, dass die betrieblichen Akteure sich der Situation bewusst sind und dass es zahlreiche Lösungen und Strategien gibt, mit der Situation erfolgreich umzugehen.376 Die wichtige Er-kenntnis aus dem Dilemma ist, dass Vertrauen ein Kredit für künftiges Vertrauen ist und Misstrauen auch künftig Misstrauen fördert. Vertrauen und Misstrauen bilden Handlungsket-ten, die schwer zu durchbrechen sind. Umso länger die betrieblichen Parteien zusammenarbei-ten, umso eher kann Vertrauen gebildet werden.

Aus den bisherigen Überlegungen lassen sich vier Typen von Interaktionsmustern in den Dienststellen ableiten. Diese Typen von Interaktionsmustern sind eine Heuristik, die nicht den Anspruch erhebt, abschließend alle Typen von Interaktionsmustern abzubilden. Allerdings ist diese Approximation hilfreich, um sich die für die Dienststellen ergebenden Situationen zu verdeutlichen. Zudem werden sie in den empirischen Analysen erneut aufgegriffen:

1. Der Konflikt bei Machtmitteleinsatz beiderseits

2. Die Kooperation seitens der Dienststellenleitung bei Machtmitteleinsatz seitens des Personalrats

3. Die Kooperation seitens des Personalrats bei Machtmitteleinsatz (bzw. Verweigerung der Kooperation) seitens der Dienststellenleitung

4. Die beiderseitige Kooperation.

Anhand dieser Extremtypen von Interaktionsmustern wird in Kap. 11.10 ermittelt, ob sich Prädiktoren dieser Situationen bilden lassen. Zudem wird die Systematik erneut in Kap. 13 aufgegriffen, um zu prüfen, ob sich die Situation empirisch beim Einsatz von Machtmitteln und damit herbeigeführten betrieblichen Regelungen findet.

376 Vgl. Ostrom 1999.

154

Aus den oben angeführten Betrachtungen lassen sich folgende Kernaussagen isolieren:

(a) Betriebsparteien müssen Probleme der Produktion und der Verteilung gleichzeitig lö-sen.

(b) Daraus entsteht ein Gefangenendilemma, denn

a. die erfolgreiche Suche nach besseren Gesamtlösungen fordert Kreativität, ef-fektive Kommunikation und gegenseitiges Vertrauen,

b. wohingegen sich im Verteilungskampf strategische/opportunistische Kommu-nikation, Zurückhaltung von Informationen, Fehlinformationen und Misstrauen auszahlen.

(c) Die Parteien sehen sich in der Gefahr, gegenseitig ausgenutzt zu werden.

Aus dem Verhandlungsdilemma wird abgeleitet, warum Vertrauen377 und eine kooperative Einstellung beider Betriebsparteien ein zentraler Prädiktor für den Einfluss der kollektiven Vertretungsorgane ist. Ebenso lässt sich daran erkennen, warum sich die Betriebsparteien bei mangelndem Vertrauen gegenseitig blockieren und behindern können bzw. warum Vertrauen einseitig leicht verspielt werden kann. Schließlich wird deutlich, warum die Parteien aus ihrer jeweiligen Sicht trotzdem über die nötigen Ressourcen verfügen sollten, um Konflikte im we-niger positiv verlaufenden Fall eingehen zu können.

Was lässt sich aus einer Anwendung des Modells auf die betrieblichen Arbeitsbeziehungen des öffentlichen Dienstes folgern? Die Betriebsparteien sehen sich zum einen der Gefahr von Misstrauensspiralen ausgesetzt. Konflikte gefährden das Vertrauen zwischen ihnen. Das Ver-trauen wird zu einem zentralen Bestandteil für erfolgreiches Interessenvertretungshandeln.

Was lässt sich aus einer Anwendung des Modells auf die betrieblichen Arbeitsbeziehungen des öffentlichen Dienstes folgern? Die Betriebsparteien sehen sich zum einen der Gefahr von Misstrauensspiralen ausgesetzt. Konflikte gefährden das Vertrauen zwischen ihnen. Das Ver-trauen wird zu einem zentralen Bestandteil für erfolgreiches Interessenvertretungshandeln.