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5. Körper und Körperlichkeit – verschiedene Perspektiven

5.6 Körperform oder frommer Körper?

5.6.1 Der Körper als Gedächtnisträger

5.6.2.1 Die verlassene Frau

Der entschiedene jüdische Monotheismus macht es unmöglich, Gott als Mann oder als Frau aufzufassen. Infolgedessen wird in der hebräischen Bibel auch keinerlei Aussage über das Wesen Gottes gemacht, denn die Körperlosigkeit Gottes verbietet jeglichen Anthropo-morphismus. Dagegen kann das Wirken Gottes durchaus mit Bildern aus dem menschlichen Sozialbereich umschrieben werden. Dabei wird auch deutlich, dass das Wirken Gottes immer wieder weibliche (insbesondere mütterliche Züge) aufweist. Die gesamte menschheits-geschichtliche Bewusstseinentwicklung, schreibt Voss (1988, 18), hat ihre Wurzeln in weiblichen Ur-Modellen. Beispiele dafür sind: „Ich will euch trösten, wie einen eine Mutter tröstet“ (Jes 66,13). Auch kann Gott an die Stelle von Vater und Mutter treten: „Denn mein Vater und meine Mutter verlassen mich, aber der Herr nimmt mich auf“ (Psalm 27,10). Gott übertrifft sogar vom Menschen geübte, auch fehlerbehaftete Mütterlichkeit: „Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie seiner vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen“ (Jes 49,15).

Daneben ist darauf hinzuweisen, dass die existentiellen hebräischen Begriffe „Ruach“ (jur Geist/in) und „Schechina“231 (vbhfa Einwohnung oder Gegenwart oder Immanenz Gottes), femininen Geschlechts sind und in ihrer Ursprungssprache somit andere Assoziationen hervorrufen können. Auch die Vorstellung von „Staatskörper“ verweist auf feministische Züge. Im Alten Testament wird Jerusalem als „Tochter“ und „Hure“ bezeichnet, die zur Strafe für ihre Sünden von Gottvater mehrfach den Babylonien, Griechen oder anderen zur Schändung, sprich Eroberung und Plünderung, ausgeliefert wird (Lorenz 2000, 104).

In meiner Lesart der Bibel ist der Stellenwert der Frau im Judentum ein hoher, wenn große Mächte, wie Gott und der Staatskörper, im Bild als weiblich dargestellt werden. Die orthodoxe Wirklichkeit hingegen beweist jedoch ein anderes Bild der Frau in der ‚absoluten’

Gemeinschaft. Hier wird sie nur als Gebärfähige bzw. als Mutter gemeint.

Ein Kind zu bekommen ist im orthodoxen Judentum seit jeher eine Pflicht und gleichzeitig eine Ehre (CM 2000, 33). Das Gebären hängt nicht vom Willen der Frau ab. Durch die Fähigkeit des Gebärens wurde die orthodoxe Frau zur Naturressource erklärt; es wurde ihr gar als Pflicht auferlegt, Kinder zu gebären (Meier Rey 1994, 53). In der westlichen Kultur herrscht allgemein die ambivalente Auffassung, jede Frau habe ein Recht darauf schwanger zu sein. Genauso hat sie auch das Recht, sich gegen ihre Schwangerschaft zu entscheiden, meint der Westen und formuliert in seiner Gesetzgebung Bedingungen. Ihr dieses umfassende

231 Nave-Levinson (1992, 54) weist allerdings darauf hin, dass es sich bei der "Schechina" zufällig um ein weibliches Wort handelt, das auch im männlichen Kontext gebraucht werden kann.

Recht zu verweigern heißt, ihre Freiheit zu beschneiden. Diese Einstellung ist gekoppelt mit dem Gefühl, dass die Frau, die nie ein Kind bekommen hat, emotional unerfüllt und daher keine richtige Frau ist (ebd. 1994, 50). In Kamerun nach traditioneller Auffassung büßt eine kinderlose Frau das Recht auf eine öffentliche Beerdigung ein (Waldenfels 1993, 13); in Jamaika beschimpft man eine kinderlose Frau immer noch als Maulesel; in Ägypten bemitleidet man sie sowohl als durch den Willen Gottes Unfruchtbare, als auch von einem bösen Geist Besessene oder als Opfer des bösen Blicks und in Japan meidet man sie, weil sie mit ihrer Unfruchtbarkeit andere Frauen anstecken könnte (Kitzinger 1993, 68-69). Diese letzte Auffassung ist wohl auch für manche orthodoxe Kreisen anzunehmen. Die Strafe für eine infertile Frau, die in der religiösen Lesart kinderlos bleibe, weil sie sündig vor Gott gewesen sei, ist die totale gesellschaftliche Isolation.

Es ist anzunehmen, dass die Prägung dieser Betrachtungsweise durch die frühe orthodoxe Erziehung geschieht. Diese schafft eine scharfe Trennung zwischen den männlichen und den weiblichen Kindern. Die Frauen übernehmen die Erziehung der Söhne232 und Töchter, jedoch können Inhalt und Methodik der Erziehung nur von den männlichen Gelehrten bestimmt werden.

Gebären gehört sicher neben Wahnsinn, Krankheit, Tod, Verbrechen und Sexualität zu den elementarsten Erfahrungen, die Menschen überhaupt machen können (Foucault 1988, 58-66).

Hier allerdings sollen Heirat, Schwangerschaft und Geburt die eigentlichen Ziele aller orthodoxen Frauen sein. Ihr Status hängt von ihrer Fähigkeit ab, zu leisten was durch die Erziehung in der Gemeinschaft früh vermittelt wird.

Eine schwangere Frau aus dem orthodoxen Sektor ist nie allein. Das Gebären ist ein kollektives Ereignis und darin natürlich und selbstverständlich. Im Gegensatz zu Dudens (1998, 149-168) Darstellung der Medikalisierung, Hospitalisierung und Technisierung der Geburt im Spezialistentum der modernen Medizin, kennt die Orthodoxie das Wesen der Geburt aus der kollektiven Erinnerung. Ganz anders als unsere westliche Kultur, wodurch Frauen gar nicht oder fehlerhaft informiert werden (z.B. in bezug auf das Stillen), ja verunsichert und missachtet werden und wo eine gewaltige Ritualmaschinerie ihnen und allen anderen Beteiligten die Gefühle nur sehr begrenzt gestattet (Vogt & Bormann 1994, 194), werden orthodoxe Frauen in ihren weiblichen Eigenschaften privilegiert. Fragen wie: welche Gebärpositionen die besten sind? wer bei der Geburt dabei sein darf oder nicht? wo sie stattzufinden hat? was normale Wehen, Wehenpausen, Erholungspausen oder Geburtstillstand sind? was als gefährlich definiert wird? wie das gerade geborene Kind gehandhabt, gestillt

232 Die Erziehung des Sohnes zum allgemeinen Leben ist Aufgabe der Frau, hingegen die Erziehung zum

„talmudischen Leben“ bleibt immer noch die Männersache.

wird? etc...233, sind meinen Befragungen nach, sogar schon manchen zwölfjährigen Mädchen bekannt.

Mit ihrer ersten Regelblutung stoßen sie „gewaltig“ auf die bedeutende Pflicht, welche die Natur Mann und Frau stellt, nämlich die Weitergabe des Lebens. Es ist ihnen gesagt worden, dass keine Frucht tragen werde, wer nicht blühe. Durch Zuhören, Beobachten und Mithelfen werden über Lernen, Üben und Trainieren die Konstrukte „Schwangerschaft und Gebären“

vermittelt234, um diese Werte später im Ehe-Leben und Schwangerschaft erfüllen zu können.

Wie sieht die Orthodoxie die Unfruchtbarkeit von Frauen? Wenn man nur die „strengen“

rabbinischen Auffassungen zu diesem Phänomen wahrnimmt, dann ist diese Frage scheinbar leicht zu beantworten. Die infertilen Frauen werden von ihren Männern geschieden und an den Rand der orthodoxen Gesellschaft gedrängt. Ihr Ansehen ist noch geringer als das von den Frauen, welche nie geheiratet haben. Die verlassenen Frauen sind biologisch weder krank noch behindert, werden von der Gesellschaft aber so wahrgenommen. Eine geschiedene Frau die nie gebären konnte, hat kein soziales Leben mehr.235

Aufgrund der Annahme, dass der orthodoxe Körper im heutigen Israel zwischen Moderne und Tradition gefangen ist und sich doch im Rahmen seines Gesetzes (Tora) auf die Moderne zubewegt, war ich nicht so sehr überrascht, als ich aus der Orthodoxie von heute zum Thema Fruchtbarkeit/Unfruchtbarkeit ein anderes Bild erhalten habe. Dieses gewonnene Bild stimmt nicht unbedingt mit den Informationen überein, die ich aus den jüdischen Heiligen Schriften erarbeitet hatte. Es war mir klar, dass man in manchen Strömungen der Orthodoxie eine deckungsgleiche Ebene zwischen Tora-Realität und der realen Realität finden kann; bei den meisten Gruppierungen der Orthodoxie jedoch spielt der Zusammenhang zwischen der Realität und den modernen Einstellungen eine wichtige Rolle.

Hier bekommen kinderlose Frauen heutzutage eine zweite Chance, auch weil Trennungen bzw. Scheidungen in der Orthodoxie im allgemeinen, wie es mir mitgeteilt wurden, in den letzten 50 Jahren häufiger vorgekommen sind als davor. Dadurch, meint der Schadchan, steigt die Wahrscheinlichkeit, eheerfahrene Männer und Frauen zu finden, welche für ihre zweite

233 Diese Informationen basieren ursprünglich auf den „Entbindungskulturen“ von Brigitte Jordan (1985). In:

Vogt und Bormann 1994, 195-196

234 Analog zu westlichen therapeutischen Methoden zur Anpassung der Schwangeren, z. B. respiratorisches Bio-feedback, autogenes Training, Selbsterfahrungsgruppen und Rollenspiele zur Vorbereitung auf die Mutterrolle (Köster-Schlutz 1991, 11).

235 Dieses Szenario gilt für strenge Strömungen in der Orthodoxie bis heute. Es wäre sicherlich interessant, diese Frauen zu ihrem tatsächlichen sozialen Status, ihrer Körperwahrnehmung und ihrer über die Religion hinausgehenden Körperpflege (z.B. Kleidung und Make-Up) zu befragen. Leider ist der Zugang zu streng orthodoxen Frauen für einen männlichen Forscher so gut wie unmöglich.

Heirat Sonderwünsche haben und vom Partner deren Erfüllung verlangen.

Wenn ein orthodoxer Ehemann Kinder aus einer ersten Ehe hat, dann stellt für ihn die infertile Frau aus ökonomischen Gründen als die beste Heiratskandidatin dar. Im Gegensatz zum katholischen Christentum ist es im Judentum erlaubt, sich von dem Partner bzw. von der Partnerin zu trennen. Allerdings wird dies vermieden, weil im Fall einer rabbinisch ausgesprochenen Scheidung zwischen Gemeinde und geschiedenen Personen einen Hauch von negativem Beigeschmack bleibt.

Scheidungen gelten seit mehreren Jahrzehnten bei den Orthodoxen nicht mehr als Schande, wie dies bis vor 50 Jahren der Fall war. Es stimmt immer noch, dass manche ‚Pluspunkte‘

einer Neuheirat (z.B. Jungfräulichkeit), bei der Ehe mit einer geschiedenen Frau für den Mann wegfallen und manche Beschränkungen für ihn dazu kommen.236 Das wichtigste daran ist die Tatsache, dass das Eheleben mit einem/r anderen Partner/in dadurch weiter gehen darf und manchmal sogar als noch besser erlebt wird. Viele orthodoxe Rabbiner haben schon verstanden, dass die Scheidung eines zerstrittenen Paares der ‚lebenslangen Strafe‘ einer Ehe vorzuziehen ist, auch deshalb, weil so eine Gemeinde harmonischer gehalten und insbesondere im modernen Israel leichter geleitet werden kann.

Die wegen ihrer Unfruchtbarkeit von ihrem Mann verlassene Frau gerät somit heute nicht unbedingt in die Isolation wie sie vor 50 Jahre noch bestand. Frauen haben heute größere Möglichkeiten, im Beruf Karriere zu machen. Es wird aber noch immer versucht, geschiedene Frauen wieder zu verkuppeln. Außer dass ihr ‚Minuspunkt‘ als ‚Nicht-Jungfrau‘, von manchen zukünftigen Bräutigamen sogar bevorzugt wird, wiegt die Kinderlosigkeit leichter als eine Scheidung aufgrund der Entfremdung der Ehepartner. Es heißt, dass eine wegen ihrer Infertilität geschiedene Frau eine größere Chance auf Wiederverheiratung habe als eine wegen ihrer Persönlichkeit geschiedene Frau.237

Soll ein zukünftiger Bräutigam also eine infertile Kandidatin wählen, so muss er die Hoffnung nicht sinken lassen. Einerseits darf er annehmen, dass diese Frau nur diesen einen ‚Makel‘ hat und sonst keinen. Außerdem glaubt er ja, dass Gott sie für ihn bestimmt hat; Er allein entscheidet darüber, ob sie unfruchtbar bleibt oder ob sie vielleicht nicht doch noch einmal gebären wird.

Außerdem weißt der Schadchan, dass nicht alle Orthodoxen im Fall von Schiduch die gleichen Möglichkeiten haben. Schöne, intelligente Burschen aus gutem Hause gelten auf dem Heiratsmarkt mehr als solche ohne diese Eigenschaften. Dies bedeutet, dass viele

236 Nach dem jüdischen Glauben darf ein Cohen keine geschiedene Frau heiraten.

237 Nach Aussage der Schadchnim aber auch eine Behauptung von manchen Jeschiwa-Schülern.

Junggesellen 30 Jahre alt werden, ohne ein Schiduch gefunden zu haben. Wenn nun der Heiratsvermittler diesen wenig begünstigten Kandidaten eine nur wenig jüngere, geschiedene Frau empfiehlt, die möglicherweise unfruchtbar ist, dann werden diese zweimal überlegen, ob sie anzunehmen oder abzulehnen sollen, wo man die Hoffnung auf Gottes Willen doch nie aufgeben darf.

Das Heiraten wird unter orthodoxen Juden noch immer mit der Hilfe des Schadchans, des Heiratsvermittlers, unternommen. Der junge orthodoxe Heiratkandidat wird mit dem Schadchen bekannt gemacht. Der hat immer ein Heft bei sich, das voll ist mit Namen, Haken und Plus- und Minuspunkten zu Jihus, Geld, sozialem Status, Eigenschaften und Aussehen.

Ein konkretes, hierarchisches Bild des Männer- oder Frauenideals kann nicht gezeichnet werden, weil die Wünsche der Heiratkandidaten sehr subjektiv und verschieden sind.

Allerdings müssen die Wünsche immer im Zusammenhang zum gesellschaftlichen Position der Familien gesehen werden. Ein berühmter Rabbi wird für seine Tochter oder seinen Sohn keinen Kandidaten oder keine Kandidatin aus einfachen Verhältnissen akzeptieren.

Nach Aussage mancher Schadchanim gilt die Infertilität noch immer als Scheidungsgrund, wird aber nicht als abstoßend betrachtet, wie in den Heiligen Schriften zu lesen ist. Obwohl eine geschiedene, unfruchtbare Frau nicht denselben Stellenwert hat wie eine zum ersten Mal verheirateten Frau, hat sie heutzutage im Staat der Juden in den meisten Fällen eine zweite Chance. Diese Frauenchance in der orthodoxen Gemeinde wird sogar vielmehr als das eigentliche Glück vieler Männer gesehen.