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2. Hintergründe, Definitionen und Abgrenzungen

2.1 Das Orthodoxe Judentum

2.1.2 Die Orthodoxie in Israel

In Israel leben heute ca. 700,000 Orthodoxe, davon sind ca. 100,000 Familien. In fast einem Drittel der gesamten Familien (31%) gibt es acht Kinder und mehr. In mehr als der Hälfte davon (55%) leben sechs Kinder.

Die Orthodoxen sind als Glaubensgemeinschaft nicht einheitlich, sondern sehr verschieden mit unterschiedlicher Herkunft und noch sehr umstrittener Ideologie. Die Hauptströmungen sind Chassidim (31%), Litauer (28%), sefaradische Orthodoxe (20%), nationale Orthodoxe (7%) und Andere (14%).

Mehr als die Hälfte aller Orthodoxen lebt in Jerusalem (35%) und Bne Brak (30%). Der Rest der Orthodoxen lebt im Norden (8%), in Mittelisrael (16%) und im Süden (11%).40

Auf den ersten Schub gibt es nicht leichteres als den Versuch die Orthodoxie in heutigen Israel (und in den USA)41 zu beschreiben 42.

Fragt man einen „säkularen Israeli“43 auf der Straße, was ein orthodoxer Jude sei bzw. welche Assoziationen bei Wort „orthodoxer Jude“ bei ihm oder ihr entstünden, bekommt man die Antwort: Alles was „Schwarz“ ist, spricht Jiddisch, läuft immer in aggressive Eile, trägt einen

„Cowboy“-Hut, kleidet sich „schwer und schwarz“ auch bei 40 Grad Celsius im Schatten, schaut immer nach vorne, ist ein „Hared“ bzw. „Dos“ (orthodoxer Jude). Solche populären Definitionen und ähnliche kreative Beschreibungen werden fast immer „wütend“ ja „zornig“

von säkularen Juden vorgebracht, als ob die innere Ruhe durch die Frage gestört würde und

40 Norden: Haifa, Rechasim, Hazor und Zfat. Mittelisrael: Petach-Tikva, Tel-Aviv, Netania, Imanuel, Beitar, Kirjat-Sefer und Bet Schemesch. Süden: Ashdod, Ofakim, Netivot, Kirjat-Gat, Harad, Rechovot, Beér-Sheva, Jeruham und Tifrach. Die Daten und Prozentzahlen habe ich im Jahr 2000 in Jerusalemer Rathaus erhalten.

41 In den USA ist das Judentum in drei Gruppierungen geteilt: die Orthodoxen, die Konservativen und die Reformisten. Um die unterschiedlichen Ideologien dieser Richtungen besser verstehen zu können, gebe ich das Beispiel des Frauenstands in der jeweiligen Gruppe. Orthodoxe Frauen in Israel und in Amerika beweisen in ihrer Glaubenauffassung keine großen Unterschiede, da versucht wird, das Leben nach Tora und Talmud zu gestalten. In der konservativen Bewegung, die im Gegensatz zur Orthodoxie wissenschaftliche Methoden bei der Interpretation religiöser Quellen zulässt und traditionelle Vorschriften behutsam an die Bedürfnisse der Zeit anpasst, sind Frauen im alltäglichen Leben prinzipiell gleichberechtigt, wozu auch gehört, dass ihnen vor einigen Jahren (in Amerika 1985) die Ordination zur Rabbinerin und das Wirken als Kantorin (in Amerika seit 1990) erlaubt wurde. Im Reform-Judentum, das als Reformbewegung im 19. Jahrhundert vor allem in Deutschland große Bedeutung hatte, wird den moralischen Vorschriften weitaus größeres Gewicht zugemessen als den rituellen. Mit der Vorstellung von einer fortschreitenden Offenbarung Gottes wird auch ein Wandel der Ethik und ihrer Anpassung an die jeweiligen geschichtlichen Gegebenheiten postuliert. Die völlige Gleichstellung von Frauen und Männern im liberalen Judentum ist somit keine Frage mehr (Kling 1987, 27-35).

42 Die Orthodoxie in Israel könnte durchaus eine Analogie für die Orthodoxie in den USA darstellen. Doch die liberalen Strömungen in Israel (genannt Datiim oder Masortiim) sind nicht mit den Reformisten und mit den Konservativen in Amerika zu vergleichen. Über das Judentum in den USA siehe: Freedman 2000, 275-283.

43 Wenn Säkularisation das Gegenteil von Religiosität darstellt, so kann hier behauptet werden, dass der Begriff

„säkularer Israeli“ in der jüdischen Terminologie nicht existiert. Jeder Israeli ist durch den jüdischen Glauben auf irgendeine Art und Weise geprägt und beeinflusst. Dies ist am besten im israelischen Alltag zu bemerken, wo das Symboldenken ein Teil aller Israelis ist (siehe Abschnitt 5.4). Trotzdem werde ich den Begriff „säkular“ bei der Beschreibung des Judentums in Israel weiterführen, um Komplikationen bei der Suche nach einem anderen Terminus zu vermeiden.

von einem echten „Feind“ die Rede wäre. Gereimte Parolen wie „Dros kol Dos“ (Du sollst jeden orthodoxen Juden überfahren) oder „Haschmed kol Hared“ (Du sollst jeden orthodoxen Juden vernichten), sind schon „veraltet“ und üben nichtsdestotrotz Bezugspunkt und Legitimation für neue „saftige“ Beschimpfungen, die man öfter in säkularen Kreisen hört und nicht immer zufällig (Liebman 1990, 42). Neben den säkularen Israelis äußert sich sogar die Gruppe der „Misrachi“ (der National-religiösen) negativ über den kompromisslosen

„Glaubensweg“ der Orthodoxen in Israel, wenn auch hier nur in „milder“ Abneigung.

Die wesentliche Gründe für Hass und Intoleranz gegenüber den „Haredim“ in Israel liegen meiner Untersuchung nach in zwei Umständen:

a. Erlassung der Wehrpflicht für Orthodoxe.

Die israelische Armee ist ein Mythos. Seit der Gründung versteht sich der jüdische Staat als eine „Nation in Waffen“ und bietet ein eindrucksvolles Beispiel für die politische gewollte und in vielen Bereichen erfolgte Militarisierung der Gesellschaft (Hartmelz 2000, 127-132).

Im heutigen Israel kommt damit der Rolle des Militärs ein besonderer Stellenwert zu. Bereits vor der Militärzeit, die im Alter von 18 bis 21 Jahren (Männer) bzw. 18 bis 20 Jahren (Frauen) absolviert wird, werden Schüler mit militärischer Ausbildung in Form von sport-lichen Ausdauerübungen konfrontiert. Es gilt für Männer wie für Frauen als gesellschaftliches Ideal, den körperlichen Herausforderungen in vollem Maß gewachsen zu sein. Obwohl in Israel grundsätzlich keine Möglichkeit besteht, den Wehrdienst zu verweigern, wird es „streng orthodoxen Juden“44 gestattet, keinen Militärdienst abzuleisten, da sie nach ihrer Auffassung alle Zeit darauf verwenden müssen, die Tora und den Talmud in der Jeschiwa zu studieren.

b. Die Angst vor einem im modernen Israel entstehenden Religionsstaat.

Viele säkulare Israelis haben die Entwicklungen der Islamisation 1979 im Iran45 beobachtet.

Die neuere Entwicklung in Israel scheint bestimmte Befürchtungen zu bestätigen, ja sie hat echte Angst erzeugt. So haben die Vorgänge im eigenen Land einen „Analogie-Namen“

erhalten: „Khomeinisem“ in Israel.46 Diese Angst erhielt ihre Nahrung durch die Vorgänge im

„säkularen“ Parlament.

Bei den Wahlen von 1996 entschieden sich 22% der Wähler für eine religiöse Partei. 1999

44 Die streng orthodoxen Juden, die keine Militärzeit absolvieren müssen, sind von anderen frommen und nationalen Kreisen (die sog. Datiim oder Misrachi) zu unterscheiden (Liebman 1990. 10).

45 Zum Staat Iran und der islamischen Revolution von 1979 unter der Idee von Ayatollah Ruhollah Khomeini siehe: Marty & Appleby 1993, Vol.3, 88-109.

46 Eine sehr interessante Bemerkung für die Orthodoxie in Israel mit der parallelen Entwicklung zum Staat Iran bekam ich oft von manchen Israelis als Religionsorientierung im zukünftigen Israel.

erhielt allein die religiöse Schas-Partei 13% der Stimmen (Neugart 1999, 9-11). Dies hat in Israel den Einfluss der Religion auf die Politik, die (Körper-) Kultur und die Erziehung47 verstärkt. Es ist ein Geschehen, das bis zum heutigen Tag Konsequenzen zeitigt, denn inzwischen ist die Kluft zwischen Orthodoxen und Säkularen noch größer geworden.

Immer öfter kommt es zu einer Chasara-Bietschuwah (Liebman 1990, 12). Der Grund dafür folgt nicht selten dem simplen Grundsatz: Geh nach Hause, kehre zurück zu den Wurzeln des Judentums, erinnere Dich daran, wie gut es tut, am Sabbattisch zusammenzusitzen; die Kerzen leuchten und die Gesänge klingen wunderschön, es ist wunderbar warm in diesem Haus, während die moderne Welt draußen so kalt ist usw.. In Israel ist der endlose nationale bzw. internationale Konflikt ein weiterer Grund für die zunehmende Frustration, welche den Prozess der Chasara-Bietschuwah sicherlich fördert. Fast 100 Jahre Konflikte, Kriege, Blut und Tote haben die emotionalen und intellektuellen Reserven der Menschen erschöpft.

Manche vermissen die Erfahrung von Spiritualität, denn die Menschen definieren sich in der Gesellschaft über Kapitalismus und Konsum. Die einzige Möglichkeit, etwas Spirituelles zu erfahren, scheint das Konsumieren zu sein. Der Einzelne steuert nichts dazu bei, die Dinge mit Bedeutung zu füllen, und er schafft kein eigenes spirituelles Universum (Sanselme 1999, 6-11). Die damit verbundene Entfremdung wird als schmerzvoll und leer erfahren. Die Suche nach Spiritualität wird zu einer Suche nach Identität. Vermehrt entschließen sich Jugendliche, auch junge verheiratete Paare, zu einem streng religiös geführten Leben, auch wenn sie aus säkularen oder weniger religiösen Elternhäusern stammen. Oder sie besinnen sich, nach einer Zeit der säkularen Lebensführung, auf ihre religiösen Ursprünge, die sie in ihrer Familie erfahren haben. Sie leben wieder nach den strengen jüdischen Richtlinien, was zu einer erhöhten Anhängerschaft der religiösen Parteien führt. Diese „Zurückgekehrten“ erhöhten bei den Parlamentswahlen wohl auch den Anteil an religiösen Parteien in der Knesset und somit den Einfluss der Frommen auf den israelischen Alltag. Dieser Einfluss schränkt wiederum das weltlich orientierte Leben der säkularen Juden immer mehr ein.48

Die Vertretungen der Orthodoxen im Parlament sorgen auch dafür, dass die frommen Juden finanziell vom Staat unterstützt werden. Da sie ihr Leben ganz Gott gewidmet haben, weshalb

47 Eine vergleichende Untersuchung in orthodoxen und säkularen Schulen über die Entwicklung von Mensch und Erziehung, betrachtet den Grad des Lerneinflusses und der Fähigkeit zur Problemlösung. Das Erkennen der geometrischen Misskonzeption von Umfang und Fläche war Untersuchungskriterium. Beide Schulsysteme legen deutlich unterschiedliche Akzente auf naturwissenschaftliche und religiöse Fächer, und dies beeinflusst das Verständnis und die Kompetenz der Schüler (Dambo 1997, 1-35).

48 Die Macht der Orthodoxen im Parlament zeigt sich an folgendem Beispiel. Am November 2002 diskutierte die Knesset, ob auf die israelischen Geldscheine (Shekel) die Wörter in Gottes Willen gedruckt werden sollen. Damit hoffen die orthodoxen Juden einen sehr engen, täglichen Bezug zwischen den Israelis und Gott (Religion) zu erzeugen. Die säkularen Politiker stimmten fast alle dagegen (aus der israelischen Zeitung Maariv am 10.11.2002).

sie täglich in die Jeschiwa, gehen, in der sie über religiöse Themen diskutieren oder beten, bleibt ihnen keine Zeit, einer geregelten Arbeit nachzugehen. So leben viele von der Sozialhilfe und dem Kindergeld, das sie für ihre relativ vielen Kinder erhalten.

Doch trotz dieser finanziellen Abhängigkeit vom Staat erkennen manche orthodoxen Juden den Staat Israel in seiner heutigen Form nicht an. Für sie kann „the evil Kingdom“49 erst dann als Land der Juden gelten, wenn der Messias erschienen ist und die Gottesherrschaft ausgerufen hat. Trotz aller Widersprüche sitzen Vertreter streng religiöser Glaubensgruppe im Parlament und bewirken einen verstärkten Einfluss der Religion auf den israelischen Alltag.

Die nicht-religiösen Israelis versuchen sich mit wenig Erfolg gegen diesem Wandel zur Wehr zu setzen50. Im Moment erscheint es so, als ob sich die Lebensweise der religiösen Israelis immer stärker durchsetzen wird.51

Israel ist nicht nur ein multikultureller Staat, der sich durch die „Rückkehr aus der Diaspora“

gebildet hat52, sondern auch multireligiös. Viele der Einwohner Israels sind Anhänger des jüdischen Glaubens, die sich wiederum stark voneinander unterscheiden.53

Unter den „Schchorim“ (Schwarz) verstehen die Israelis die Gruppe der orthodoxen Juden, die Haredim, welche die Gebote des Talmuds sehr streng und genau einhalten. Die Bezeichnung „Schwarze“ bezieht sich auf ihre Kleidung: die meisten Männer tragen schwarze Anzüge und Kaftane und haben eine schwarze Kipa und einen schwarzen Hut als Kopf-bedeckung auf. Auch ihre Frauen kann man an der Kleidung erkennen. Da im Talmud

49 Bis 1990 nannten die Haredim in Israel das Land „evil Kingdom“. Die USA, die sie ab 1960 zu finanzieren begannen, waren für sie von Anfang an das „Kingdom of grace“ (Marty & Appleby 1995,Vol.5, 26).

50 Naomi Gottkind-Golan (in: Liebman 1990, 70-87) nimmt die Angelegenheit Hechal-Kino in Petach-Tikva (ein Ort ca. 5 Km östlich von Tel-Aviv), als Symptom für das Fromm-Säkulare-Verhalten in Israel des 80er. Dort ging um ein kulturelles Geschehen, dass die Heilige Sabbat verletzen Könnte. Es war einen von vielen Kämpfen um die kulturelle Demokratie, die von vielen Haredim belegert wurde.

51 Viele Israelis sehen den Einfluss der jüdischen Religion auch als das unerträglich im Alltag und oft in falschen Stellen platziert. In einer Debatte über eine Vergewaltigung einer Frau entschieden die Rabbiner, dass diese verletzte Frau als „behindert“ zu bezeichnen, welche heftigen Konsequenz auf ihre zukünftige Ehe-Leben macht, und die Schuld auf ihre Kosten zu geben. Die Tatsache, dass sie mit einem Mann vor ihrer „offiziellen“ Ehe in einem Haus gelebt hatte, macht sie direkt „schuldig“ an einer tat, welcher im Grundesgenommen nicht von ihr eingegangen ist (aus der israelischen Zeitung Maariv am 15.11.2002).

52 Um die Idee der Staatsgründung zu verwirklichen, musste ein jüdisches Nationalbewusstsein entstehen: das jüdische Volk musste sich in eine israelische Nation transformieren, die sich durch Juden aus zig Ländern der Erde konstituieren würde. Zur Schaffung der Nation und des Staatswesens gehörte die Sammlung der Verbannten. Juden, die in arabischen Ländern als Minderheit gelebt hatten, sollten nach Israel geholt und israelisiert werden. In spektakulären Aktionen wurden hunderttausende von Juden aus der Diaspora, meist in Flugzeugen nach Israel gebracht. Operation Ali Baba brachte Juden aus Irak, Operation Fliegender Teppich aus Jemen und Operation Moses aus Ethiopien ins Gelobte Land (Ben-Gurion 1966, 42).

53 Eine grobe Unterscheidung lässt sich unter die Gruppe der Orthodoxen, der Nationalreligiös und der säkularen Juden bestimmen. Die Gruppe der Orthodoxie sind von unserer Interesse in dieser Stelle zu beschreiben.

geschrieben steht, dass ein Schönheitsmerkmal der Frau ihre Haare seien, verhüllen die verheirateten Frauen ihr Haar mit Perücken, Hüten oder Tüchern. Sie tragen immer lange Röcke, Strümpfe und langärmlige Blusen, um ihre Ellenbogen und Fersen bedeckt zu halten, da diese Körperstellen für den Mann einen sexuellen Reiz bedeuten.

Diese Gruppe der frommen Juden, die ca. 12% aller Juden in Israel ausmacht (Marty &

Appleby 1995, Vol.5, 14), versucht diejenigen Regeln und Gebote exakt zu befolgen, die von bestimmten Rabbinern im Talmud und der Halacha begründet und gegeben wurden. Sie beachten streng die Regeln des Sabbats: sie gehen zu Beginn und am Ende des Sabbats zum Beten in die Synagoge, feiern in der Familie den Kiddusch, kochen nicht, machen kein Feuer oder Licht, gehen nur eine bestimmte, erlaubte Anzahl Schritte, fahren kein Auto und so weiter. Im Zusammenhang mit der Kaschrut, haben sie die längsten Wartezeiten zwischen dem Verzehr von milchigen und fleischigen Speisen und die strengsten Regeln beim Schächten. Sie befolgen die strengsten Gesetze in Bezug auf die Reinheitsgebote der Frauen und die damit verbundenen Regeln beim Geschlechtsverkehr. Viele gestalten ihr Leben so, dass es fast nicht von der westlichen Welt berührt wird. Sie sind oft sehr arm und leben ganz in ihre Gemeinden und Stadtviertel zurückgezogen, damit sie und ihre Kinder nicht von weniger frommen Menschen „verunreinigt“ werden oder mit unkoscheren, unreinen Dingen in Berührung kommen. Die Distanz zu allem was „nicht koscher“ ist darf sogar mit Gewalt erreicht werden. Eine eigene „Polizei“ oder besser gesagt ein „Gottes-Geheimdienst“ zum Schutz der inneren, religiösen Interessen ist immer im Einsatz.54

Doch der Versuch sich abzusondern und zu differenzieren in einem Land, das sich von modernen Einstellungen bewegen lässt, gelingt nach dem „Rezept“ ihres Religionsverstandes fast nicht. Die Berührung zweier Welten kann nicht ganz gestoppt, vermieden oder verhindert werden.

Stroch und Schwarz (1989, 5-26) untersuchten mehr als 150 säkulare Juden in ihrem Antagonismus gegenüber orthodoxen Einwohnern in Jerusalem. Als Ergebnis wurde ein hohes Maß an aggressivem Verhalten von säkularen Juden gegenüber den Orthodoxen erfasst, was ein Minibild bzw. Ausschnitt oder Eindruck von Aggression im Folge von Frustration55 und Angst vor orthodoxen Nachbarn ergibt. Nach Meinung vieler Israelis ist der

54 Über die geheime Widerstandsbewegung ihrer Mitglieder, den Umfang, die Ideologie und Einsätze in ganz Israel, siehe: Levi 1988, 180-190. In der vorliegenden Arbeit wird der „Gottes-Geheimdienst“ in Abschnitt 6.2.4 erwähnt.

55 Die Frustrations-Aggressions-Hypothese besagt, dass das Auftreten von aggressivem Verhalten als Folge einer Frustration anzusehen und demnach als situationsunabhängige Reaktion zu interpretieren ist (Gabler & Nitsch &

Singer 1995, 93).

orthodoxe“ Konflikt ernster zu nehmen als die „jüdisch-palästinensische“ Krise56 (Liebman 1990, 9).

Die Orthodoxie in Israel hat mehrere Gesichter. Sie unterscheiden sich in ihrer Art sich zu kleiden, in ihren politischen Idealen und ihrer Ideologie. Man kann die Orthodoxen auf zwei Basisgruppierungen einteilen: die Gruppe der „Chassidim“ und die der „Litauer“ (Levi 1988, 18). Diese Differenzierung der Gruppierungen ist über 200 Jahre alt, und der ‚verfeindete’

„haredische“ Kreis betrachtet sie noch immer als relevant.

Die große Mehrheit der Haredim verband die rhetorische Ablehnung der zionistischen Ideologie mit einer begrenzten Zusammenarbeit mit den staatlichen Institutionen. Ihre Vertretung Agudat-Israel nimmt als politische Partei an Parlamentswahlen teil, finanziert ihr Erziehungssystem mit staatlichen Geldern (Neugart 2000, 69) und sorgt für „militärischen Erlass“ der Jeschiva Mitglieder.

Neben Agudat-Israel entwickelte sich allmählich in den letzten Dekaden eine weitere politische Orientierung unter den „sefaradischen Orthodoxen“; daraus entstand die Schas-Partei. Dies ist eine Gruppe von Haredim, die auf der Mobilisierung der sefaradischen Unterschicht beruht. Sie versteht sich nicht nur als Vertreterin partikularer Interessen, sondern erklärt sich als religiöse Bewegung höheren Werten verpflichtet. Sie ist sozusagen eine Bewegung, welche die spirituellen Defizite der Säkularisation und die Nichtbeachtung der religiösen Praxis in Israel ausgleichen will (ebd. 2000, 69).

Die Gesichter der Orthodoxie im heutigen Israel in ihren verschiedenen Formen als

„Chassidim“, „Litauer“, „politische Parteien“ und „religiöse Bewegungen“, verleihen sich selbst das Bild vom „Fremden im Eigenen“ (Jeggle 1988, 89-98) unter allen Gesichtern, die

„face to face“ kämpfen und brüllen müssen, um ihre Existenz im bewegten, modernen Israel zu gewährleisten.

Nach meiner Beobachtung ist die Orthodoxie in Israel als sehr gut organisierte „Religion“

anzusehen. Sie ist weit mehr als der Versuch, mit der Erklärung von rätselhaften Phänomenen den Glauben an „Mana“57 zu erwecken. Diese Orthodoxie gibt nicht nur Antworten auf fundamentale Fragen nach dem Sinn des Lebens und des Todes und Deutungen über die Ursachen von Ereignissen, sondern sie erfüllt eine Vielzahl von ökonomischen, gesellschaft-lichen, eventuell psychologischen und von allem politischen und persönlichen Funktionen –

56 Dieser Konflikt auf der religiösen Ebene führte wegen politischer Meinungsunterschiede zur Ermordung des ehemaligen Premierministers Yitzhak Rabin (Karpin/Friedman 1998).

57 Marett (1914) benutzte das melanesische Wort Mana für eine konzentrierte Form der Seelenkraft. Mana ist damit als Glaube an eine starke, oft übermenschliche Kraft zu verstehen.

wie andere Teile der Superstruktur dies auch tun.58 Sie ist für jedes ihrer Mitglieder verantwortlich und deshalb funktioniert sie als das dichte Treibhaus für jede Rose am Strauch der religiösen Gemeinschaft. Es fragt sich jedoch, ob diese gleiche Rose nicht besser im Freien aufwächst und welche Möglichkeiten es für sie innerhalb des Treibhauses gibt, wenn sie ihren Platz nicht verlassen kann?