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5. Körper und Körperlichkeit – verschiedene Perspektiven

5.2 Körpersymbolik im traditionellen Judentum

5.2.1 Das Auge

Sehen ist ein physiologischer Vorgang ebenso wie ein durch individuelle und soziale Differenzen markierter historisch-kultureller Prozess, welcher immer an eine Orientierung in der Gesellschaft anzupassen war. Jede historische Epoche entwickelte ein spezifisches Verhältnis zu den Sinnen und explizit auch zum Sehorgan (Benjamin 1977, 14). Die Veränderung sinnlicher Wahrnehmung trifft – zumindest für die abendländische Kultur – insbesondere das Sehen, das sich als kulturell und historisch variabel erwiesen hat.

Außer als anatomisches Vermögen, nämlich als „kommunikativer Sender“144 und Sehorgan bzw. Sinnesorgan, wird das Wort „Auge“ (ihg hayn) im Hebräischen in noch drei weiteren Bedeutungen verstanden, die einen engen Zusammenhang mit dem ursprünglichen Sinn des Auges als „Existenz“ und „Zentral“ haben. Zunächst wird der Term „hayn“ im Hebräischen auch für „Wasserquelle“ benutzt (Gen. 24, 29 & Exs. 15, 27 & Num. 33, 9 & Deu. 33, 28).

Hayn ist ein Ort des Treffens oder zumindest, wie es in der biblischen Zeit war, ein Ort der Öffentlichkeit und sozialen Geschehens. Im Unterschied zu Sinnen wie dem Tastsinn oder dem Geschmackssinn, die dem privaten Bereich eines Subjekts zugeordnet werden, beansprucht das Auge eben die Öffentlichkeit (Benthien & Wulf 2001, 49-65).

Hayn als Wasserquelle lässt nicht assoziieren, dass medizinisch gesehen das Auge

143 Der Streit, welchem Organ die Krone zukomme, ist in der Kulturwissenschaft alt. Auch im Judentum existiert die Fabel vom Streit der Glieder, die gleichfalls illustriert, wie Körperbilder und Gesellschaftsbilder zusammen-hängen (eine jüdische Erzählung zur Illustration eines Streits der Körperteile siehe: Jeggle 1986, 29-30).

144 Das menschliche Auge ist mehr als nur wahrnehmender Sinn. Es ist auch sprechendes Organ, kommunikativer Sender. Sehen ist damit nicht nur Empfangen. Unser Verständnis des Sehens wird wesentlich geprägt durch das, was wir Blick nennen (Milz 1992, 196).

hauptsächlich aus Wasser besteht, sondern der Ausdruck begründet auch die elementare Wichtigkeit des Auges für den heutigen, aufrechten Menschen145. Früher suchte der Mensch seine „irdische Existenz“ (seine Wohnstelle) besser neben eine Wasserquelle; der Stellenwert der „irdischen Existenz“ (der physiologischer Bedarf) wird in dieser Arbeit auf seine

„sinnliche Existenz“ (der Erfahrensbedarf) übertragen. Der Vorrang der dem Gesichtssinn inzwischen in unserem täglichen Leben zukommt, ist kein biologischer Zufall, sondern stammesgeschichtliches Erbe. Als Fenster des Körpers zur modernen Welt, ist das Auge im Verhältnis zu manchen Körperteilen, die schon jahrhundertlang zuverlässige Arbeiter waren, wie etwa die Hand, immer wichtiger geworden (Jeggle 1986, 38). Die Nahsinne verkümmerten, die Fernsinne wurden bevorzugt (Kamper & Wulf 1982, 13). Beim Menschen als dem „Augentier“ befinde sich diese biologische Spezialisierung in Einklang mit seinem Verhalten; es sei in dieser Hinsicht mit übereinstimmenden Grundeinstellungen und Leistungen zu rechnen (Kamper & Ritter 1976, 213).

Die Hierarchie der menschlichen Sinne, mit dem dominanten Augensinn, war in der biblischen Zeit nicht anderes als heutzutage. Um einen Feind zu eliminieren, wie die Priester im Fall Samsons es taten, wurden seine Augen zuerst ausgestochen. Früher hieß es im Alten Testament „Auge um Auge“, um zu zeigen, wie scharf die Ahndung eines Verbrechens sein konnte, wenn das Auge, das Existent-Licht, als Gegenstand und Maß für eine Strafe benutzt wurde. Durch den Verlust des Augensinnes, wie man es im Fall Samsons zu erzählen bekommt,146 trat für einen Verbrecher der „soziale“ Tod ein, und dieser darf durchaus als schlimmer als der eigentliche biologische Tod bezeichnet werden.

Das Sehorgan dient neben anderen menschlichen Sinnesorganen als das wichtigste Mittel der Wahrnehmung; gleichsam als die „Wasserquelle“ der menschlichen Wirklichkeitserfahrung.

Im Vergleich zu den übrigen Sinnen nimmt es eine überproportional große Fläche der sensorischen Bereiche unserer Großhirnrinde ein.147 Die Augen sind zum dominanten kulturellen Sinn geworden (Milz 1992, 195-196): als Fenster zur Welt, Sprachrohr der

145 Der aufrechte Gang des Menschen steht mit der Anforderung der Augen (und Ohren) vermutlich im Wechselbeziehung (Koenig 1975, 40).

146 Auch der Name Samson enthält seine Symbolik. Der hebräische Stamm dieses Namens hängt mit dem Wort Sonne zusammen. Samson ist mit dem „Sönnlein“ zu übersetzen (Busch 1997, 145). Das Licht Israels in der Zeit Samson, wurde von den Feinden durch den Akt des Ausstechens gelöscht.

147 Von allen Sinnesmodalitäten nimmt das Auge für den Menschen in seinem Alltag eine Vorrangstellung ein.

Auch räumlich (anatomisch-physiologisch gesehen) gehört ein Drittel der Großhirnrinde zum visuellen System, und fast 40 Prozent aller Leitungswege zum Zentral-Nervensystem gehören zur Sehleitung (Schäffler & Schmidt 1998, 207).

Gefühle148 und durch den Blick auch als Medium der Begegnung.

Das Wort Auge (Hayn) versteht sich neben „Wasserquelle“ in den jüdischen Heiligen Schriften auch als „Ort“, als das schutzgewährende, zentrale Geschehen menschlichen Zusammenseins. Gehe ich weiter mit dieser Bedeutung, dann versteht man im Hebräischen unter „Ort“, das Wort „Makom“(ouen), was im Hebräischen als „Gott“ interpretiert ist. Das

„Auge“ in der jüdischen Symbolik, dürfte damit der Ort der göttlichen Existenz in der menschlichen Materie sein.149

Hayn ist im hebräischen Alphabet die Bezeichnung der Summe 70. Im Alten Testament (Psalm 90, 10) hat die Siebzig ihre Bedeutung als Kennzeichen eines Menschenlebens (Betz 1999, 202-203). Anfang und Ende werden von der gleichen Quelle, von „Hayn“ symbolisiert:

die „Wasserquelle“ des irdischen Menschen ist mit siebzig Jahren trocken gefallen.

Ratsversammlungen, Gerichtshöfe und ähnliche Gremien waren häufig Körperschaften mit siebzig Mitgliedern. Moses (Deu. 11, 16) wurde ein Rat von siebzig Ältesten beigegeben.

Auch das Synedrium, vor das Jesus geführt wurde um abgeurteilt zu werden, bestand aus siebzig Mitgliedern und dem Hohenpriester, der den Vorsitz führte (Betz 1999, 202). Aus diesem Grund ist Hayn nicht nur als das „Göttliche“ in der menschlichen Materie zu verstehen, sondern es stellt im hebräischen Alphabet mit seiner chronologischen Eigenschaft auch das Symbol der Vernunft dar.

Im modernen Israel erscheint dem Orthodoxen das „Auge“ mehr und mehr Störfaktor zu sein.

Das Auge ist damit als Opfer der Sündigkeit der Umgebung geworden. Die „Sünden“

sammeln sich gewaltig auf allen Strassen und in jeder Ecke. Frauen im Bikini, die virtuell oder als Nachbarinnen umhergehen, Geschäfte und Institutionen, die mit Lust und Laster handeln, der öffentliche Verkehr, der den Sabbat sündig macht – in allem müssen den Zerfall ihrer jüdischen Tradition erkennen. Das Auge muss alles sehen und kann nur schweigen.

Wenn orthodoxe Juden unterwegs sind, verstecken sie ihre Augen unter dem Hut, ihren Blick hinter den Händen oder halten ihn auf den Boden gesenkt. Ein Spaziergänger in Jerusalem stößt absichtslos Orthodoxen. Man erkennt sie an ihrer Kleidung aber auch an der schnellen

‚Flucht‘ vom ‚Tatort‘ der Sünde. In den Augen vieler Orthodoxer hat die Moderne in Israel das „göttliche Auge“ beschmutzt: sie leiht ihre Bildwelt und Symbolik aus dem Bezirk der

148 Augensymbole schrecken den Angreifer, lenken ab, täuschen vor und lösen Orientierungsreaktionen aus. Die Augensymbolik heißt für alle Wirbeltiere und eben auch für den Menschen: „Achtung aufpassen!“ Dieses natürliche Gebot dirigiert Verhalten und Handeln, wodurch der Mensch bewusst ein Verhaltenstereotyp abruft (Kamper & Rittner 1976, 213-214).

149 In der buddhistischen Symbolik wird die Weise Tara durch ihre Augen als die am häufigsten verehrte Schutzgottheit betrachtet (Blau 1999, 53). In der Zeichnung die „allsehenden Augen“ werden allein Buddhas Augen gezeigt (ebd. 1999, 83).

Unreinheit. Das Auge sieht und das Herz schreit.