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4. Methodische Vorgehensweise

4.1 Die Beobachtung

Es wäre banal, die Frage zu stellen, ob zwei Gesellschaften, die nebeneinander zu wohnen gezwungen sind, Einfluss aufeinander ausüben oder nicht? Vielmehr soll hier der Einfluss im alltäglichen Leben als gegeben vorausgesetzt werden, und die Fragen der Interviews richten sich auf das Maß und die Rahmenbedingungen dieses Einflusses.

In unserem Fall kann die Form der Orthodoxie den Inhalt bestimmen. Rahmenbedingungen, wie die Orte (Form), können beträchtliche Folgen für den Körper (Inhalt) haben. Orthodoxe Juden in Mea Shearim in Jerusalem verhalten sich fundamentalistischer als orthodoxe Juden in Bnei Brak. Derselbe Mensch, den ich einmal in Mea Sheharim und ein anderes Mal in Bnei Brak interviewte, war zornig in Mea sheharim und gelassen in Bnei Brak. In Mea Shearim hat er sich ‚aggressiv’ gegen eine Gruppe von ‚lauten’ Touristen geäußert und in Bnei Brak beobachtete er ‘ruhig’ auf der Straße eine Gruppe von fast halbnackten Israelinnen. Sogar derselbe Orthodoxe verhält sich ‚frei’ oder ‚gehemmt’, je nachdem wo er sich gerade befindet; ob er in der Jeschiwa oder an irgendeinem ‚heiligen’ Ort ist, oder unterwegs durch säkulare Straßen geht.

Man darf behaupten, dass orthodoxe Juden askenasischer Herkunft sich ‚gehemmter’

verhalten als orthodoxe Juden jemenitischer Abstammung. Der alte Rabbi aus Rosh Hahajin103 hat keine Bedenken, wenn er die Hand eine Frau anfasst104 und über Politik und

‚unkoschere’ Dinge scherzt. Dagegen verbringt sein Kollege, der aschkenasische Rabbi, seine Zeit nur mit Beten und totaler Vermeidung von Frauengestalt. Als der alte Rabbi aus Rosh Hahajin zufällig hörte, dass meine Frau nicht Jüdin ist, fragte er mich, ob sie zumindest

‚schön’ und ‘intelligent’ sei. Der aschkenasische Rabbi dagegen sagte mir ernsthaft, man soll mindestens 20 Meter Abstand von mir halten (vielleicht wegen irgendeiner Ansteckungsgefahr), weil ich mich ‚nicht-koscher’ verhalte.

Durch die Herkunft meiner Eltern aus dem Jemen und meinen damit verbundenen, ständigen Zugang zu den jemenitischen Orthodoxen, habe ich öfter beobachtet, dass es einen gewissen Unterschied zwischen den aschkenasischen und den jemenitischen Orthodoxen gibt. Mit dem Abschnitt ‘Körper und Ort’ versuche ich anhand aktueller Beobachtungen, näher auf die Geschichte dieser beiden Körperauffassungen einzugehen.

Von den orthodoxen Juden wurde ich ständig zu den jüdischen Feiertagen und sogar zu privaten Festen eingeladen. Sehr bald habe ich erfahren, dass es eine Methode von ihrer Seite war, mich Gott und der Tradition meiner Vorväter näher zu bringen – dem praktizierten Judentum. Für mich war es allerdings eine gute Gelegenheit, ja sogar eine unverzichtbare Chance, die Seite des orthodoxen Judentums besser beobachten zu können. Bei solchen Anlässen wurde mir der ‘gefangene’ Körper der orthodoxen Juden zufälligerweise und ungewollt näher vorgestellt und näher bekannt.

Wenn wir gleichsam unter dem Mikroskop den Einfluss des modernen Israel auf die jüdische Tradition betrachten, dann ergibt sich ein interessantes Bild. Der Alltag eines orthodoxen Juden ist voll von ‘modernen Entwicklungen’ in der allereigenen Tradition. Wie sah nun die Tradition ‚ursprünglich’ aus? Hier wird deutlich, dass die Beobachtung eine intensive vor-bereitende Auseinandersetzung mit der Geschichte und den Lebensbedingungen der Ortho-doxie voraussetzt. Zwei Beobachtungen seien hier mitgeteilt:

Wenn in der Jeschiwa während des Studierens das Handy klingelt, bricht der Avrech sein Lernen sofort ab. Dieses Bild mag in unserer Kultur ‘normal’ sein. Jedoch wenn das Lebensziel eines Orthodoxen in der Jeschiwa nur im Studieren besteht, dann bekommt die plötzliche, abgebrochene Studierenszeit eben ein anderes Gesicht. In der gleichen Jeschiwa tragen viele der jugendlichen Schüler ihre Hemden über den lässig auf den Hüften hängenden

103 Ein jemenitischer Ort ca. 20 Kilometer südlich von Tel-Aviv.

104 Frauen und Männer in der Orthodoxie müssen immer getrennt bleiben. Wenn orthodoxe Männer mutmaßen, dass die Frau ihre Monatsblutung hat, geben sie ihr niemals die Hand. Von den orthodoxen Frauen wird während ihrer Regel das gleiche Verhalten erwartet.

Hosen. Nun sollte man meinen, dass dieser Look eine Konsequenz des langwierigen Studieren ist und etwas Bequemlichkeit verschafft. Es scheint aber nicht so zu sein. Auch Schüler die erst seit 15 Minuten lernen, tragen dieser Look. Es handelt sich also vielmehr um ein Phänomen der Coolness. Insofern ist die Form ‘modern’ und den Inhalt bleibt ‘orthodox’.

Im Abschnitt ‘Körper als Gedächtnisträger’ wird diese anscheinend ‘unmögliche’ Mischung von Form und Inhalt als ‘real’ dargestellt. Durch zwei jüdische Feiertage, Pesach und Simchat-Tora, möchte ich zeigen, dass die Riten im Judentum mehr als das bloße Volksge-dächtnis sind. Diese beiden jüdischen Feiertage stellen eine Bühne für ‘unkoschere Blicke’

und ‘schmutzige Symbolik’ der orthodoxen Gemeinschaft dar.

Auch im Reinlichkeitsritus der Mikwe geht die Funktion der Tradition über ihre Grenze hi-naus. Die heutige Mikwe stellt vielmehr eine Analogie zur textilfreien Saunalandschaft dar.

Der orthodoxe Mensch kommt nach meiner Beobachtung häufig und bleibt länger in der Mikwe als es das eigentliche Reinheitsgebot verlangt. Um den Aufenthalt zu messen und zu vergleichen, brauchte ich ohne Hektik ca. 25 Minuten für das Baden. Für ein ‘orthodoxes’

Bad braucht der Mensch allerdings manchmal über eine Stunde. Noch dazu hat die Verwaltung das Bedürfnis, die Orthodoxen mit einem Schild daran zu erinnern, dass in der Mikwe untersagt ist, sich hinzulegen und einander zu betatschen. „Vorsicht vor fremder Berührung und unbescheidener Tat!“ steht an der Tür.

Wenn man die traditionelle Eigenschaften der Mikwe mit der empirischen Realität abgleicht, muss man sich fragen, aus welcher Motivation und welcher Quelle solches Verhalten in der Mikwe stammt. Mit dem Abschnitt ‘der Körper in der Mikwe’ möchte ich den Leser näher an eine mögliche Motivation bringen.

Von der Nacktheit der Mikwe springe ich zum schwerbekleideten Körper auf den Straßen.

Warum kleiden sich im heißen Israel die Haredim, als ob sie immer noch im kalten Osteuropa lebten? Und wenn sie schon in mehrere Schichten von Stoff gekleidet sind, warum ist gerade die Farbe Schwarz dominant? Warum ist der Kleidungsstoff so dick?

Der Ansatz einer möglichen Antwort auf diese Fragen bekam ich beim Besuch einer Synagoge an Jom Kippur. Im Festtagsgebet gibt es einen Dialog zwischen Mensch und Gott, in dem der Mensch sich auf das Herz schlägt. Das tut weh. Ich habe es nachgemacht, bis mein pectoralis vor Schmerz ‚schrie’. Ich habe gesehen, dass manche frommen Orthodoxen die Schläge zu ernst nahmen und sich mit ihrem Körper in wirklichem Streit befanden. Es war mir ‘neu’ zu sehen, dass es im Judentum solche Wege gibt, um Gott zu dienen; zum einen ist es der ‘innere Schmerz’ (Fasten) und zum anderen der äußere Schmerz (Schlagen).

Wenn man die jüdische Tradition des Opferrituals in der Tempelzeit kennt, dann weiß man, dass es Opferrituale im Judentum immer gab. Heute haben die Juden keinen Gottestempel mehr, aber sicherlich behalten sie den Willen, die jüdische Tradition an die nächste Generation zu überliefern. Der orthodoxe Körper und seine ‘Mode’ von heute, analogisiert gleichzeitig den Tempel und das Opferritual von damals. Der Abschnitt ‘Kleidung als Opferritual’ beschreibt diesen Gedanken einer wiederbelebten Tradition.

An Jom Kippur tragen die orthodoxen Juden weiße Kleidung, welche oft überhaupt nur an diesem Tag angezogen wird. Ich habe beobachtet, dass vor Beginn des Fastens an Jom Kippur viel Aufmerksamkeit und Zeit auf diese weiße Kleidung verwendet wird. Sie wird sozusagen zum Selbstzweck gemacht. Im Flughafen von Zürich beim Warten auf den Anschlussflug nach Israel, tragen die männlichen orthodoxen Juden oft ihre Hüte sorgfältig in einem passenden Karton, der von den Besitzern sehr vorsichtig behandelt wird. Und die orthodoxen Frauen in ihrer Kleidung sehen fast immer so aus, als ob sie einen halben Tag vor dem Spiegel auf das Schminken und Zurechtmachen verwendet haben. Solche Beobachtungen brachten mich auf den Gedanken, dass die Kleidung eine Art Befriedigung des leidenden Körpers darstellt. Diese Annahme möchte ich im Abschnitt ‘Kleidung als Bedürfnis’

erläutern. Das Bedürfnis in seiner Vielfalt bespreche ich im Abschnitt ‘allgemeine Kleidungsordnung der Orthodoxie’.

Von der Kleidungsvielfalt der Orthodoxie in Israel, sieht man als erstes die schwarze Farbe.

Man kann sie nicht ignorieren, selbst wenn man es gerne möchte. Es ist bekannt, dass viele Institutionen und sogar kleine Gruppierungen von Menschen eine Form, einen Inhalt oder eine Farbe suchen, um sich von den anderen zu unterscheiden. Diese Erklärung greift nach meiner Beobachtung nach bei den orthodoxen Juden zu kurz. Bei orthodoxen Demonstra-tionen in Israel ist es üblich, dass alle ‘Straßenkämpfer’ schwarz tragen. Unter dem schwarzen Mantel haben sie sicherlich ein weißes Hemd an. Der Mantel wird trotzdem auch unter der heftigen Sonne Israels nicht ausgezogen, selbst wenn dies im Sinne der Demonstration

‘funktionell’ sein könnte, wenn z.B. ein Stein oder eine Flasche geworfen werden müssten.

Die orthodoxen Demonstranten müssen Schwarz tragen, weil sie nur so genügend

‘militärisch’ aussehen, um ihre Argumente durchzusetzen. Solche Überlegungen und noch mehr über die schwarze Farbe in der Orthodoxie sind im Abschnitt ‘Bedeutung und Wirkung von schwarzer Kleidung’ zu lesen.

Im Abschnitt über den ‘gespiegelten Körper’ geht es zumindest teilweise um den Spiegel als Hausmöbel der orthodoxen Familie. Bei meinen ersten Besuchen einiger Orthodoxer in ihrem Zuhause, habe ich den Spiegel nicht direkt wahrgenommen, weil er nicht, ausgenommen im

Badezimmer, öffentlich vorhanden war. Bei späteren Besuchen wusste ich ganz genau, wo er zu suchen und zu finden wäre. Im Endeffekt ist doch alles logisch. Zu ihren schönen Perücken, Kopftüchern oder Hüten braucht die orthodoxe Frau sicherlich einen Spiegel.

Genauso gilt das für den orthodoxen Mann, der seine Schläfenlocken (Pejes) und den Bart pflegt. Ich behaupte, dass das Vorhandensein eines Spiegels im Haus einer orthodoxen Familie auf den Grad der Körperlichkeit seiner Familienmitglieder hinweist. Der Körper im Spiegel will mir als ‚zweiter Körper’ erscheinen. Im gleichen Abschnitt gehe ich noch auf das Zusammenwirken von ‘modernen’ und ‘traditionellen’ Kleidungselementen ein.

Ein orthodoxer Juden bekommt zur Heirat vom Vater der Braut einen prächtigen Hut geschenkt. Der gewordene Abrech setzt stolz seinen Hut auf den Kopf und befiehlt seiner Frau ab diesem Moment der Ehe, Perücke, Hut oder Kopftuch zu tragen. Dinge im Alltag haben eine enge Beziehung zu den Menschen und verleihen ihnen Identität, sie können aber auch eine Art Kontrolle über den Menschen ausüben. Im Abschnitt ‘Körperlichkeit und Kleidungsstücke’ zeige ich das Zusammenspiel zwischen Identität und Kontrolle im ortho-doxen Kreis.