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3. Der Forschungsstand

3.1 Beschreibung des Forschungsstands

Die stattgefundene Assimilation der Juden an ihre christlichen Nachbarn in Europa seit dem 17. Jahrhundert, brachte das erste Mal nach über 1500 Jahren Diaspora die heftige Auseinandersetzung der Juden mit ihrem Körper mit sich. Assimilation bedeutete für die Juden sowohl die Gleichberechtigung mit ihrer nicht-jüdischen Umgebung, als auch eine Zudeckung des verfluchten, hässlichen jüdischen Körpers durch Mischehen.96

Die Deformität und die Pathologie des jüdischen Körpers, wie sie durch die Negation von Sprache, Nase, gelocktem Haar, Haltung, Füßen, Ohren, Schenkeln, Bauch und Krankheiten ausgedrückt ist, wurde zu einer Form der Darstellung, welche die Juden bestimmte. Sie selbst suchten sie durch Assimilation zu eliminieren. Die Zionisten, wie etwa Max Nordau, propagierten hingegen keine Assimilation, sondern die körperliche Ertüchtigung und den gesunden Körper der jüdischen Nation.

In jeder Hinsicht, durch Mischehen oder Gymnastik, schreibt Gilman (1988, 18), sollte der krankhafte, exilische Körper, der bis dahin mit moralischen Qualitäten besetzt worden war, überwunden werden. Als Konsequenz daraus wurden die „Rahmenbedingungen“ vertauscht:

man sollte zu Hause „Jude“ bleiben, aber „Mensch“ unter der Menge sein (Shoham 1981, 23).

Die bürgerliche Kultur ist zur Zielkultur der Juden geworden (Schenker 1992, 18), wodurch eine Abgrenzung von assimilierten Juden zu ihren östlichen Brüdern, den Orthodoxen, an der Tagesordnung war. Die letzteren glaubten immer noch an das absolute Mosestum und wurden von den assimilierten Juden deshalb als Störfaktor oder ‚versteinert’ wahrgenommen.

Eine Analogie dieses Geschehen (Assimilation oder Mischen) in Europa, findet man tatsäch-lich und deuttatsäch-lich in den „gefangenen“ orthodoxen Körpern im heutigen Israel. Dieses Mal geschieht es nun zu Hause und nicht wie früher in Europa. Was man damals den ‚östlichen’

jüdischen Körper nannte, ist der orthodoxe Körper, der seine Existenz auf Tausende von Praxisjahren zurückführt. Heute im modernen Israel steht er allerdings in einer zwiespältigen Situation. Er ist der Körper, der im Lande der Juden zwischen Tradition und Moderne

96 In der Publizistik und der Wissenschaft gibt es das Stichwort vom „Selbsthass der Juden“. Diese Diskussion sind oft im Zusammenhang mit Begriffe wie Autostereotyp und Heterostereotyp aus der soziologischen Forschung zu finden.

gen ist. Genauso wie vor 200 Jahren in Europa, versucht er heute seine „Deformation“ zu korrigieren. Im heutigen Israel will sich der Tora-Körper mit einer neuen ‚Microsoft-Version’

des Hora-Körpers updaten.

3.2 Defizite

Orthodoxie als Forschungsfeld in Israel

Die Bedrohung Israels und der über 50 Jahre andauernde Kampf um seine Existenz kennt sicherlich jeder Politiker, Journalist oder Staatsbürger, egal aus welcher Nation die Person stammt. Den Staat Israel verbinden viele Menschen immer mit gemischten Gefühlen über die

„jüdisch-arabische“ Krise. Jedoch enthält die Bedrohung Israels eine bisher ängstlich verbor-gene Ebene, welche im Verhältnis zur Außenpolitik im Schatten bleibt. Nach Meinung vieler Israelis ist der „säkular-orthodoxe“ Konflikt ernster als die „jüdisch-arabische“ Krise (Liebman 1990, 9).

Es ist trotzdem erstaunlich, wie viel säkulare Juden über den arabischen Nachbarn wissen und wie wenig, ja nicht ein Bruchteil von dieser Fülle, über ihre orthodoxen Mitbewohner – „ihr eigen Fleisch und Blut“. Diese sind so nah und pflegen ein kulturelles und traditionelles Erbe, das den Israeli nicht fremd scheinen dürfte, weil die Quellen bzw. die Vorfahren dieselben sind. Trotzdem und sehr zum Erstaunen des Beobachters sprechen sie am selben Tisch nicht die gleiche Sprache.

Gegenüber orthodoxen Juden verhalten sich die säkularen Israelis seltsamerweise taub und stumm. Die innere Frage nach dem zukünftigen Charakter des Staates wird sicherlich gestellt, jedoch in der Praxis, in der Realität Israels, geht es hauptsächlich um die nach außen orien-tierte Frage der Positionierung Israels als Staat in der Region des Vorderen Orients.

Konsequenterweise stehen manche Blickfelder ständig auf der Tagesordnung, wie etwa im Bereich von Politik, Wirtschaft und Militär. Die wirklichen Bedürfnisse und lebensnotwendi-gen Verständigunlebensnotwendi-gen zwischen den verschiedenen Flügeln in Israel werden jedoch vernach-lässigt und sogar als „untragbare“ Last dargestellt, wie dies die letzte Regierung Sharon uns präsentiert hat.

Im Gegensatz zu den oben erwähnten Blickfeldern der Politik, zeigt sich Israel heute auch als Blindfeld.

Dass so wenige Studien über die Orthodoxie und ihre Lebensweise betrieben werden bzw.

dass die Forschungsrichtung hierzu im Wissenschaftsbetrieb eher marginal ist, sollte unter solchen Rahmenbedingungen niemand überraschen.

Meine allgemeine Definition der Orthodoxie

Ein weiteres, mögliches „Defizit“ der Forschung könnte meine allgemeine Definition der Orthodoxie sein. Ich bin mir sicher, dass manche Leser, zu meiner Definition97 die Frage stellen werden, warum ich in diesem Werk von einem „weiten“ Begriff der Orthodoxie gangen bin. Warum habe ich nicht aus der Fülle der Gruppen eine spezifische Gruppe ausge-wählt, um nur bei dieser Zielgruppe meine Daten aus Beobachtungen und Interviews zu erhe-ben? Für meine Entscheidung gibt es einen wesentlichen Grund:

Bevor man bei irgend einer spezifischen Glaubengruppe der Orthodoxie Daten erhebt und Aussagen ermittelt, sollte man meiner Meinung nach sich zuerst eine gewisse Orientierung über das gesamte Bild erwerben. Weil die heutige Orthodoxie sich als eine „im Innern“

zerstreute, zerrissene und differenzierte Institution präsentiert, ist es angemessen, sie zunächst als eine komplette Körperschaft darzustellen. Die einzelnen Körperteile sollten erst wenn das gesamte Bild vorhanden ist, beschrieben und analysiert werden. Es wäre wohl leichter, Aussagen aus der allgemeinen Orthodoxie an irgendeiner spezifischen Gruppe zu prüfen statt umgekehrt. Um dies zu verdeutlichen, möchte ich ein Beispiel geben.

Die jüdischen Gesetze verbieten bei Frauen das Zeigen des Kopfhaares grundsätzlich. Damit ist vermutlich das Maß dessen, was eine Frau von ihrem Haar nicht bedeckt, als Indikator ihrer Einstellung zu bewerten.

Je mehr Haare unter der Kopfbedeckung zu sehen sind, desto „frecher“ oder

„unangepasster“ ist die Frau und umgekehrt.

Diese Aussage habe ich durch meine Beobachtungen gewonnen, ohne zu berücksichtigen, zu welcher orthodoxen Gemeinschaft die beobachtete Person eigentlich gehörte. Mit dem gewonnen Material kann ich nun weitere spezifische Gruppen der Orthodoxie prüfen und im Endeffekt die ermittelte Aussage als „genau“, „weniger genau“ oder „falsch“ darstellen.

Meine Vorgehensweise, welche sich auf die allgemeine Orthodoxie bezieht, begründet auch meine Entscheidung, den orthodoxen Körper nicht als ultra-orthodoxen Körper zu bezeich-nen. Mit der Benennung des Körpers als „ultra-orthodox“ müsste eine Definition zum „ultra“

gesucht werden. Ab welchem Grad ist man als „ultra“ und nicht mehr nur als „orthodox“ zu sehen? Für eine Antwort auf diese Frage sollen als erstes Kriterien gesammelt werden, um als nächstes den Körper im Kontext (z.B. Kleidung, Mikwe, Ritus oder Media) zu beschreiben.

97 Der Ausgangspunkt des Orthodoxiebegriffes bedeutet für mich: alle männlichen Orthodoxen, welche große Zeit ihres Alltags an der Jeschiwa sind, versuchen regelmäßig die Reinheitsrituale (z.B. Mikwebesuch) zu befol-gen und vermitteln mir insofern den Eindruck von Tora- und Talmudschülern, als dass sie sich mit dem „outfit“

eines Orthodoxen schmücken. Bei den Frauen wurden verschiedenen Formen und Farben von langen Kleidern festgestellt, wobei das Tragen einer Kopfbedeckung (Perücke, Kopftuch oder Hut) bei den verheirateten Frauen vorgeschrieben ist (mehr dazu siehe Abschnitt 2.1.4).

Aus meiner allgemeinen Betrachtung der Orthodoxie im Kontext können solche Kriterien hergestellt werden, welche wiederum mit spezifischen Gruppierungen der Orthodoxie im Zusammenhang gebracht werden können. Das letzte Verfahren zählt allerdings nicht zum Ziel dieser Arbeit.