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4. Methodische Vorgehensweise

4.2 Das Interview

Bevor ich zu den Themen komme, die ich in den Interviews erschlossen habe, möchte ich den Lesern meine Erfahrungen als Interviewer bei den orthodoxen Juden mitteilen. Es war mir sehr oft fast ‘peinlich’, dass ich, wie wahrscheinlich viele Israelis, von der jüdischen Tradition nicht viel weiß. Zur Illustration dieser Problematik stelle ich als Beispiel den Begriff

‘koscher’ dar. Man kann eine Saftflasche mit einem ‘Koscherstempel’ in einem orthodoxen Laden kaufen ohne zu wissen, dass der Saft bei anderen orthodoxen Juden zwei Straßen weiter im gleichen orthodoxen Viertel, als ‘unkoscher’ gilt. Es liegt nicht unbedingt an den Zutaten oder an der Zubereitung des Saftes, sondern vielmehr an dem Meinungsunterschied religiös verschiedener Gemeinden. Eine Auseinandersetzung zwischen Gemeinden macht die Anhänger der Gruppen zu Feinden, welche die Dinge, Gebräuche, Vorlieben usw. der anderen Gruppe als ‘nicht koscher’ erklären. Diese konstruierte Definitionsmacht hat religionsphilosophische und menschliche aber auch wirtschaftliche Aspekte.

Durch bloßes Beobachten, wenn es im Endeffekt nicht zum Gespräch kam, konnte ich mein

‘Defizit’ gut verstecken. Allerdings kam es manchmal im Laufe des Interviews vor, dass ich von dem Befragten zunächst ‘aufgeklärt’ wurde, und erst danach war er bereit, auf meine Fragen einzugehen. Aufklären üben die orthodoxen Juden mit den Fremden sehr gerne, ohne von vornherein zeitliche oder materielle Grenzen zu setzen. Ich war sehr überrascht von

dieser Art der ‘kommunikativen Gastfreundschaft’, weil ich mir die Kontaktaufnahme schwieriger und gebremster vorgestellt hatte.

Manche der orthodox jüdischen Gesprächspartner hatten eine besondere Art das Interview mit mir zu führen. Das Gespräch selbst, so kam es mir vor, betrachteten sie von Anfang an als

‘Nebensache’. Damit meine ich, dass neben dem Interview gleichzeitig noch manche Tätigkeiten gemacht und noch viel mehr Verpflichtungen erledigt oder besprochen wurden.

Ich dachte zunächst, sie könnten und wollten mich als säkularer Israeli, der in Deutschland lebt, nicht wirklich ernst nehmen. Bald wusste ich, dass ich eigentlich im Unrecht bin. Dieser Umgang mit mir zeigte nicht Respektlosigkeit, sondern eine ‘geniale’ Zeitplanung, welche unbedingt nötig ist, den gefüllten Alltag zu meistern. So interviewte ich einen Menschen in seinem Büro mit Zugang zur ganzen Welt in hoher ‘Frequenz’ (Handy); auf einen Spaziergang in Bnei Brak; unterwegs zur Mikwe; auf dem Weg zu einem Kondolenzbesuch, dabei, seine Kinder aus der Toraschule abzuholen und im Rahmen einer Mahlzeit bei seiner Familie. Ich musste mich oft konzentrieren, um meine Fragen richtig zu stellen und dem gedachten Leitfaden zu folgen, sowie die zahllosen Umgebungseindrücke auszublenden bzw.

gezielt zu übersehen und zu überhören. In der Retrospektive weiß ich, dass auf diese Art und Weise mit orthodoxen Juden zu kommunizieren anderes bringt als das eigentlich Erwartete.

Nun möchte ich mit dieser Beichte meine ‘orthodoxe’ Erfahrung ausklingen lassen und meinen Hauptüberlegungen bzw. Leitfragen chronologisch zu den Kapiteln und deren Abschnitten vorstellen.

Schmutz oder Reinheit enthalten im orthodoxen Judentum zwei Aspekte. Einerseits ist es der Körperschmutz, anderseits die Seelenreinigung. Es ist deshalb für den ungeübten Leser bei oberflächlicher Lektüre der jüdischen heiligen Schriften besonders schwierig, Körperschmutz und Seelenreinigung auseinander zunehmen und sie als getrennte Aspekte zu bewerten. Noch eine Schwierigkeit liegt in der Tatsache, dass aus den Diskussionen der Rabbiner in diesen Schriften nicht immer klar ist, über was eigentlich geredet wird und wie es mit dem Thema zusammenhängt. Diese Problematik kann, so wurde mir gesagt, leichter mit einem Experten überwunden werden. Dies ermöglichte mir Rabbi Josef Nachmani aus der Jeshiva von Rabbi Elasar Menachem Schach. Meine Hauptfragen an ihn waren:

a. Was sind Reinlichkeitsrituale?

b. Wozu dienen sie?

c. Wie sieht ihre Verbindung zur Gesundheit aus?

Das Interview wurde im Büro des Rabbis durchgeführt. Es wurde öfters abgebrochen, und deshalb musste ich den Rabbi für das gleiche Thema dreimal für jeweils ca. 90 Minuten

besuchen. Der Störfaktor waren das Handy und das Telefon. Insgesamt läutete das Handy sechsmal und das Telefon viermal. Der Rabbiner hat während der drei Gespräche zweimal zum Handy und dreimal zum Telefon gegriffen. Er rauchte und entschuldigte sich dafür. Er erzählte mir, dass er nicht viel Zeit hat und deshalb muss er mit Familie, Kollegen und sogar einer kürzlich verwitweten Frau am Telefon sprechen. Alle Perspektiven solcher Organisation könne er nicht planen, wenn er nicht im Büro sei. Als er endlich auf meinen Zeitdruck und meine Enttäuschung aufmerksam wurde, lachte er und sagte mir, dass sich ein Jude für Fragen über Tora und Talmud immer Zeit nehmen soll. Beim vierten Besuch, dem zur Erfassung des Sportsbegriffes, zeigte er sich mir gegenüber ‘professioneller’ und entsprach endlich meiner knappen Zeitplanung.

In Verbindung zum Abschnitt ‘historische Betrachtung des Körpers im Judentum’, in dem der Sport ein Element der Beschreibung von Körper und Körperlichkeit darstellt, aber auch als Sportwissenschaftler, wollte ich den Begriff ‘Sport’ im Zusammenhang mit dem Körpererleben von Orthodoxen analysieren. Mir war anhand früherer Untersuchungen klar geworden, dass dieses Thema (de facto) fast ausgeschlossen war und bleibt. Trotzdem hatte ich gehofft und hoffe immer noch, dass der Sport irgendwann bei dieser Glaubensgruppe Anerkennung finden wird, und sei es auch nur mit dem Aspekt der Prävention und Rehabi-litation.

Um die nötigen Informationen über das Thema zu gewinnen, befragte ich den Rabbiner Josef Nachmani und noch einen von ihm empfohlenen Rabbi. Beide Meinungen schildern die orthodoxen Richtlinien aus der Sicht der Litauer, welche zu diesem Thema ‘milderer“ als die Chassidim sind. Auch im Allgemeinen beobachtet man bei ihnen eine gewisse ‘Lockerung’

der Weltanschauung gegenüber der ‘Außenwelt’, ganz im Gegensatz zu den Chassidim.

Meine Hauptfragen waren:

a. Welche Stellung nimmt die jüdische Religion zum Sport ein?

b. Kann sich der Sport in seinem Präventions- bzw. Rehabilitationsmotiv bei den orthodoxen Juden etablieren und dadurch vielleicht als Mizwa gesehen werden?

Die Hauptzeit des Interview bei Rabbi Nachmani (ca. 40 Min. von ca. 60 Min.) verwendeten wir darauf, eine Definition des Sports zu finden. Dieser Drang kam nicht zufällig vom Rabbi selbst. Eines von vielen Beispielen, die beim Definitionsversuch entstanden, brachte ich zu Papier. Mit dem zweiten Rabbi sprach ich knapp zwei Stunden. Er bestätigte die Informationen von Rabbi Nachmani.

Mit der Filmanalyse ‘Kadosh’ stieß ich an ein komplexes und folgenreiches Problem. Ist ein orthodoxes jüdisches Paar ‘kinderlos’, muss der Mann seine Frau verlassen und eine neue Ehe eingehen. Für die Frau bedeutet die Zwangsscheidung der Ehe Isolation und soziale Marginalisierung. Abgesehen von dem Verbot, selbst Kontakt mit einer orthodoxen Frau zu haben, war mein Problem, wie ich solche Paare für ein Gespräch finden sollte? Meine Antworten, flüsterte mir Mal einen Avrech zu, können nie direkt, sondern nur vom Schadchan vermittelt werden.

Ich nahm seinen Rat an und fragte den Schadchan auch dies:

a. Welche Rolle spielt/e die Frau in der orthodoxen Gemeinschaft?

b. Wie reagiert/e die orthodoxe Gesellschaft auf Infertilität?

Die Interviews liefen unregelmäßig und zum Teil telefonisch, weil meine Mobilität einge-schränkt war.

Die Besonderheit der nächsten Interviews liegt in der Tatsache, dass für die erwünschte Information nicht nur mit orthodoxen Personen, sondern mit einer Person aus dem säkularen Hotelpersonal geredet wurde. Das Thema war allerdings das gleiche. Ich habe erfahren, dass orthodoxe Institutionen manche Veranstaltungen nur für Frauen organisieren. Vom orthodo-xen Teil meiner Familie habe ich erfahren, dass bei solchen Anlässen auch unterschiedliche Produkte (Make-up, Textilien, Bücher, Perücken und Hüte) den orthodoxen Frauen angeboten werden. Durch eine Bekanntschaft mit einer Person, welche zur Zeit in einem Hotel in Eilat solche Veranstaltungen durchführt, erfuhr ich was verkauft wird, wer es verkauft und auf welche Weise es angeboten bzw. beworben wird. Die Bestätigung, dass sogar Reizunter-wäsche unter den Verkaufswaren ist, bekam ich indirekt aus dem Kreis des orthodoxen Teils meiner Familie. Meine Fragen habe ich dieses Mal auch direkt an orthodoxe Frauen gestellt:

a. Wie halten es die jüdischen Heiligen Schriften mit der Erotik?

b. Wie wird die Erotik im orthodoxen Judentum wahrgenommen?

Insgesamt habe ich 17 Personen interviewt.105 Dabei waren sechs Frauen und elf Männer. Von den orthodoxen Frauen gehörten vier den Litauern und zwei der chassidischen Strömung an.

Bei den Männern gehörten vier chassidischen und sieben litauerischen Gemeinden an. Als Beruf gaben die Männer einmal Schadchan an, zweimal Rabbiner und achtmal andere Berufe.

Allgemeine bzw. nichtgezielte oder nichtgeplante Gespräche mit manchen Israelis (säkulare Juden) und weitere Gespräche mit orthodoxen Juden wurden von mir nicht nummeriert. Ihre Aussagen haben die Darstellung in dieser Arbeit dennoch beeinflusst.

105 Die vielen zufälligen und nicht systematisch geführten Gespräche mit unterschiedlichen orthodoxen Menschen bezeichne ich nicht als Interviews. Diese Gespräche werden nicht den Interviews zugerechnet.