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5. Körper und Körperlichkeit – verschiedene Perspektiven

5.5 Der (ort)hodoxe Körper – Körper und Ort

5.5.1 Askenasischer Körper

Fast eintausend Jahre war Jiddisch die Umgangssprache der Aschkenasim. Das Jiddische entwickelte sich im deutschen Sprachraum, aber die Aschkenasim verbreiteten diese Sprache über einen großen Teil Europas und seit dem späten 19. Jahrhundert auch über alle Kontinente. Diese Mischsprache, die anfangs aus deutschen und hebräischen Elementen bestanden hatte, nahm im Laufe der Zeit viele slawische Sprachelemente auf.

Das Jiddische blickt als Literatursprache auf eine lange Geschichte vom Mittelalter bis zum heutigen Tag zurück. Mittelalterliche Epen, biblische Lieder, Renaissanceliteratur aus Italien und Volksbücher stellen Höhepunkte der älteren jiddischen Literatur dar. Das moderne Jiddisch entwickelte sich später hauptsächlich in Osteuropa. Die Zwischenkriegszeit des 20.

Jahrhunderts war wieder eine Blütezeit für die jiddische Literatur, besonders in Zentren wie Warschau und Wilna. In dieser Zeit wurden in Wilna, Kiew und Minsk Forschungsinstitute gegründet, die sich mit allen Aspekten der jiddischen Sprache, Kultur und Literatur beschäftigten.196 Wie in allen modernen Sprachen auch, ist im Jiddischen eine große Anzahl von Internationalismen zu finden.

Jiddisch als Sprache und Witz als Lebensbestandteil der osteuropäischen Juden sind sicherlich

„jüdisch“ zu nennen.197 Ohne den Witz hätte die Sprache ihren „Charakter“ nicht gewonnen,

195 Mit dem aschkenasischen Körper meine ich hauptsächlich die osteuropäischen Juden. Sie bildeten eine Einheit im kulturellen Sinn, die trotz der häufigen Grenzverschiebungen der „Gastländer“ unzerstört blieb (Somogyi 1982, 29). Birnbaum (1949, 73-92) definiert geographisch den Lebensraum der Juden Osteuropas sehr treffend: „By the 19th century the territorial distribution of the East Ashkenasim can be indicated by the following border lines: in the west by the eastern pre-War frontiers of Germany, Moravia and Austria, in the south by the Danube, in the north by the Finnish Gulf; in the east two decades ago, the eastern frontiers of the Ukraine and White Russia were the Border….”.

196 Aus der philosophischen Fakultät an der Universität Düsseldorf. Siehe auch: Was ist Jiddisch? In: www.phil-fac.uni-duesseldorf.de

197 Für weitere Informationen über neue und alte Forschungen über bzw. Sammlungen von jüdischen Witzen siehe: Bloch, Chaim; Jüdische Witze und Anekdoten. Mit einem Nachwort von Oswald Le Winter. Augsburg 1990. Heid, Ludger & Schoeps, H. Julius (Hrsg.); Juden in Deutschland. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart.

Ein Lesebuch. München 1994. Christian Hirsch, Eike; Der Witzableiter oder die Schule des Gelächters.

München 1991. Landmann, Salcia; Der Jüdische Witz. Freiburg 1960. Malek-Kohler, Ingeborg; Im Windschatten des Dritten Reiches. Freiburg i.Brsg.1986. Lion, Michal; Mach, was du willst Moses. Jüdischer Humor. Gütersloh 2000. Reik, Theodor; Lust und Leid im Witz. Wien 1929. Richter, Jens; Da lacht des Rabbis Herz. Jüdischer Humor. Gütersloh 1995. Teller, Oscar (Hrsg.); Davids Witz-Schleuder. Jüdisch-Politisches

und ohne die Wandlungsfähigkeit und die Ausdruckmöglichkeit der jiddischen Sprache wäre der Witz nicht „jüdisch-witzig“.

Eine entscheidende, charakteristische Eigenschaft dieser Sprache ist meiner Ansicht nach die Befähigung bzw. die Fähigkeit ihrer Nutzer zur Selbstironie. Der zynische Witz über den ständig „leidenden“ jüdischen Körper ist schon längst ein untrennbarer Bestandteil dieser Mischsprache geworden198. Ihre Aktualität als Sprache und ihr Talent zu „Sarkasmus und Ironie“ zeigt die jiddische Sprache im Theater des heutigen, „leidenden“ Israel.199

Der Witz holt Verborgenes und Verstecktes hervor und ist nach Sigmund Freud als der „Sinn im Unsinn“ zu sehen (Landmann 1963, 19)200. Lachen, Diskussion und Humor sind in der ostjüdischen Tradition fest verankert, wie zahlreiche Anekdoten, Schnurren, Gleichnisse und Schelmengeschichten anschaulich belegen. Ostjuden nahmen sich die Freiheit, auf ernste Fragen „verbal“ humoristisch zu reagieren, getreu dem Motto des Gründers des Chassidismus, Rabbi Israel Baal-Schem-Tov. Nach der Legende, welche bis heute auf den haredischen Strassen erzählt wird, stamm von ihm des berühmten Satzes: „Gott will frohe Menschen, der Satan will traurige. Die Traurigkeit zieht herab, die Freude erhebt“. Schopenhauer hätte ihm wohl sekundiert: „Der Ernst muss heiter sein, der Scherz muss ernsthaft schimmern. Je mehr

Kabarett. Darmstadt 1985. Torberg, Friedrich; Tante Jolesch oder der Untergang des Abendlandes in Anekdoten. München 1996.

198 Im Vorwort seines Buches „Wenn der Rebbe lacht“ fragt Hakel (1977): „Ja, warum soll der Rebbe (Rabbiner) eigentlich nicht lachen? Wenn doch auch Bischöfe und sogar der Papst lachen. Natürlich darf und soll er es.

Aber der Rebbe lacht doch anders, weil er eben eine ganz andere, eine jüdische Natur ist“. Hakel beschreibt das rege, leidvolle Leben der osteuropäischen Juden in Anekdoten.

199 Jahrzehntelang war das jiddische Theater das geliebte ‚Symbol’ für die europäische jüdische Kultur der alten Welt. Mit der Wiederbelebung des Interesses an jiddischer Kultur in den letzten Jahren ist in Israel auch das Jiddischspiel-Theater in Tel Aviv zu neuem Leben erwacht. „Jiddisches Theater ist nicht nur Theater“, sagt der Theaterdirektor (Tel-Aviv) Shmuel Atzmon, „es ist auch die jiddische Seele, Intelligenz, Ironie, der Schmerz und der Humor“. Die Menschen haben festgestellt, dass mit dem schweren Verlust des europäischen Judentums auch der Verlust eines gewaltigen kulturellen Erbes einhergegangen ist. Wir haben bewiesen, sagt Atzmon, dass dieses Erbe wieder auferweckt werden kann. Die letzte Produktion des Jiddischspiels „Sandar Blank“ wurde vor 100 Jahren von Sholem Aleichem geschrieben. Shmuel Atzmon selbst spielt die Hauptperson in dieser Familienkomödie aus der jüdischen Mittel- bis Oberschicht in Russland. Nicht nur das jüdisches Publikum in Israel, sondern auch das Theaterpublikum mehrerer anderer Länder war von dem Stück begeistert. „Sandar Blank“ wurde nach Österreich, USA, Australien, Italien und Deutschland eingeladen. Im Dezember 1998 hatte Jiddischspiel eine „brandneue“ Produktion mit dem Titel „Allein ist die Neshama (Seele) rein“ präsentiert. Unter der Regie des Intendanten Shmuel Atzmon wurden mit viel Humor, Ironie und verstecktem Schmerz bekannte Sketches und Lieder, Tanz und Gesang zu einem witzigen Streifzug durch die Geschichte des Staates Israel und der jiddischen Kultur zusammengestellt. Im Jiddischen schwingt immer Nostalgie mit. Im jiddischen Theater birgt sich immer eine Sehnsucht, ein Heimweh nach der alten Welt, die, wenn man ganz genau hinsieht, doch nicht so heil und begehrenswert war, wie man denken könnte (aus der Zeitschrift „Tarbuton“ Januar/Februar 1998, 27).

200 Vielleicht ist es kein Zufall, dass Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, der den Witz eingehend analysiert hat und dabei in erster Linie auf jüdische Witze zurückgriff, ein Jude war. Er selbst hat gern seine Vorträge und Publikationen mit Anekdoten, Witzen, fröhlichen Zitaten und sarkastischen Bemerkungen gewürzt, und sein grimmigstes Buch, „Das Unbehagen in der Kultur“, folgt diesem „jüdischen“ Prinzip deutlich.

ein Mensch des ganzen Ernstes fähig ist, desto herzlicher kann er lachen“ (ZzVdJ 1993).

Schon der Talmud enthält im Gegensatz zur strengen Bibel zahllose „Lach- und Lächeltexte“, die den Einstieg in ernste Erörterungen erleichtern sollen, und lobt Spaß, Posse und Witz. An einer Stelle steht sogar geschrieben:

„Man erkennt einen Menschen an seinem Lachen“ (Ktovot 30, 23).

In scherzhaften Anspielungen wird in jüdischen Witzen über Menschen und Dinge geurteilt, und es wird durch ein fein geschliffenes Wort oder eine witzige Redewendung Anerkennung und Missfallen der Meinung anderer zum Ausdruck gebracht und auch die eigene Meinung, die im Exil von Diasporajuden nicht offen ausgesprochen werden konnte. Oft streuten die Ostjuden in ihren Witzen mit staunenswerter Gelassenheit eine kleine „Bosheit“ ins Gespräch, die so fein und unverfänglich war, dass selbst die Angesprochenen nicht beleidigt sein konnten, sondern lächeln, ja sich freuen mussten. Diese Angesprochenen waren im normalen Fall die Juden selber, weil in einer feindlichen Umwelt Juden es vorziehen, sich selbst zum Gegenstand des Spottes zu machen, bevor andere es tun.

Hin und her gerissen zwischen Bewunderung und Widerwillen gegenüber dem Land in dem sie lebten, taten Juden ihre Kritik an der feindlichen Umgebung in Witzen kund. Da sie ihre Verhältnisse nicht ändern konnten, haben sie über diese gewitzelt und gespottet und dabei eine erstaunliche Spitzfindigkeit entwickelt, mit einem Reichtum an Vieldeutigkeit, welche die jiddische Sprache erzeugen konnte. Gelegentlich wird in jüdischen Witzen nicht nur das jüdische Schicksal, sondern die gesamte menschliche Situation voll Schmerz und Bitterkeit dargestellt.201 Allerdings können jüdische Witze außerhalb ihres jüdischen Kontextes kaum verstanden werden. Zudem ist es keineswegs belanglos, ob ein Witz von außen her das Judentum verspottet oder von innen her durch Juden selbst. Die von osteuropäischen Juden auf jiddisch erzählten Witze sind die Zeugen und Denkmale der miserablen Lebenssituation in Osteuropa.

Der jüdische Witz soll heute nur noch eine historische Erscheinung sein. Die Gründung des Staates Israel, so wird vielfach argumentiert, habe zum Ende des jüdischen Witzes geführt.

Denn wer die Macht habe, bedürfe der ‚zynischen’ Auseinandersetzung mit dem schweren Alltag nicht mehr. Statt mit der ‚ironischen’ Sprache wehrten sich heute die Juden in Israel, wie einst ihre Vorfahren in biblischer Zeit, mit Waffengewalt und körperlicher Stärke. Wenn man weiß, dass die jiddische Sprache in der Zeit der Bibel genauso wenig gesprochen wurde wie sie im heutigen Israel gesprochen wird, dann darf man behaupten, dass das neue Israel

‚witzlos’ wie die Zeit der Bibel sei (ZzVdJ 1993).

201 Zur Illustration siehe als Beispiel die jüdischen Witzsammlung von Landmann 1962 und Hakel 1977.

Für die leidenden Diasporajuden in Europa stellten die jiddische Sprache und ihr Witz eine Form dar, mit der ein Körper die eigene Wehrlosigkeit gegen die feindliche Umwelt bzw.

gegen sich selbst kompensierte.202 Man versuchte sein Leid in der Struktur der Sprache zu dämpfen und den „Sinn im Unsinn“ zu finden. Von hier aus ist es verständlich, dass unter den Dichtern Deutschlands Heine (1797-1856)203 zu den witzigsten zählt (Landmann 1962, 22).

Sein Schicksal ist geprägt von unabwendbarem Leid. Zum Teil war sein Unglück rein privater Natur (Armut und Krankheit), jedoch schlimmer war der politische Druck. Seine Forderung nach politisch-sozialer Gerechtigkeit hängt bei ihm noch mit einem ganz bestimmten Menschenschicksal zusammen; er war Jude. Seine „jiddische Erziehung“ prägte seine Gedichte, auch wenn diese in deutscher Sprache geschrieben waren.

Einen weiteren Aspekt der einen großen Einfluss auf die Körperlichkeit der Ostjuden ausübte, war die Art und Weise wie sie ihre Lebensauffassung auslebten. Das „Judentum“ der Aschkenasim beweist seine Sonderheit in der Askese. Sie glauben nicht an den guten und den bösen Trieb im Menschen, sondern man hat nur einen Trieb, den für Gut oder Böse, und er kann von dem Menschen beeinflusst werden. Mit Hilfe des Verzichts gelangen die Aschkenasim zum Leben im Geist. Das Leiden des Einzelnen befreit die gesamte Gemeinde.

Das brachte es mit sich, dass das Alltagsleben eines Ostjuden voll mit Tun- und Sollgesetzen

202 Die beste Quelle für ein ‚zynisches’ Bild von der jiddischen Sprache findet sich wohl in der jiddischen Literatur selbst. Ich möchte an dieser Stelle als Beispiel den Roman ‚Tewje der Milchmann’ von Scholem Alejchem erwähnen. Scholem Rabinowitsch (1859-1916) veröffentlichte zwischen 1880 und 1883 Texte in der

‚Petersburger Zeitung’, und unter dem Namen Scholem Alejchem im jiddischen ‚Volksblatt’. In seinen Werken zeigt Scholem Alejchem in einer sehr ‚witzigen und cleveren’ Sprache die ökonomischen, sozialen und kulturellen Umbrüche im osteuropäischen Judentum. Die Handlung seines Romans ‚Tewje der Milchmann’

spielt um das Jahr 1905 , kurz vor der Russischen Revolution, in den Dörfern Masepowka, Jehupez, Bojberik und Anatevka. Tewje der Milchmann enthält acht Geschichten aus dem Leben Tewjes, der seine Familie als Milchmann ernährt. Wenn ostjüdische Erzähler wie Scholem Alechjem mit lächelnder Selbstironie oder beißendem Spott über Torheit, Trägheit, Geschwätzigkeit, Neugier, Verschlagenheit, Schmutz oder mangelhafte Bildung des eigenen Volkes spotten, wird ein Lachen provoziert, das einem im Halse stecken bleibt.

Scholem Alejchem erklärt, die Wurzeln dieses spezifisch jüdischen Humors seien in den „Gegensätzen zwischen den äußeren Lebensbedingungen des dunklen Ghettos und den reinen Seelenregungen seiner Bewohner“ zu suchen. Das Spannungsverhältnis resultiere aus dem für Ostjuden damals kaum noch lösbaren Widerspruch zwischen dem Wunsch, Traditionen zu bewahren, die ihnen ein Überleben, Identität und Würde ermöglicht hatten, und dem emanzipatorischen Drang, aus der Enge und Isolierung hinauszugelangen. Für Westeuropäer und assimilierte Juden dagegen wurden Ostjuden wiederholt zu Zielscheiben distanzierenden bösen Spottes und alberner Witzeleien, die von jüdischem Humor und jiddischer Sprache meilenweit entfernt sind (ZzVdJ 1993).

203 In seinen Gedichten verbindet Heine Empfindungsreichtum mit Skepsis und Ironie (z.B. Buch der Lieder 1827 & Romanzero 1851). Sein geistvoller und plaudernder Prosastil (Reisebilder 1826 bis 1831) machte ihn zum Begründer des modernen Feuilletonismus (siehe auch die digitale Bibliothek 2000/2001 unter dem Lexikon der Weltliteratur von Gero von Wilpert). Heine war ein Zyniker ersten Ranges, wie sein berühmtes Gedicht

„Zum Lazarus“ beweist: Lass die heiligen Parabolen, lass die frommen Hypothesen, Suche die verdammten Fragen, Ohne Umschweife uns zu lösen. Warum schleppt sich blutend, elend, Unter Kreuzlast der Gerechte, Während glücklich als ein Sieger, Trabt auf hohem Ross der Schlechte? Woran liegt die Schuld? Ist etwa unser Herr nicht ganz allmächtig? Oder treibt er selbst den Unfug? Ach, das wäre niederträchtig. Also fragen wir beständig, Bis man uns mit einer Handvoll Erde endlich stopft die Mäuler. Aber ist das eine Antwort?…( Heine 1987, 106-113).

belegt war (Ency. hebr.1986, 17/821-825). Das Leid basiert auf dem Hintergrund von Lohn und Strafe, wie es im Ex. (20,5) und Lev. (14,1-9) dargestellt ist: es soll den Stolz des Menschen brechen und seine Demut fördern. Die Ursache des Leids liegt in einer Kollektivschuld. Das Leid ist bei den Aschkenasim ein normaler Bestandteil des Lebens und gehört auf die gleiche Ebene, wie das „Gute“, oder das „Schöne“ zum alltäglichen, frommen Leben eines Mitglieds dieser Gemeinschaft. In manchen Anlässen gehörten, wie Sorell (1985, 126-127) erwähnt, fröhliche Elemente wie Tanzen und Singen, auch zum religiösen Ritus der osteuropäischen Juden.

In einer Szene des Films „Kadosh“ betet der unverheiratete Josef heftig und laut zu Gott, und er bittet ihn um eine Frau. Josefs Freund Meir hört dies, und als ihm Josefs Selbstquälerei zu lange dauert, fragt er den Freund kurz: Warum machst Du es Dir noch schwerer als es ist?

Meiner Ansicht nach zeigt dieser Abschnitt von Gitais Film den Kern der Lebensphilosophie eines aschkenasischen Juden. Hier steht der leidende Körper im Mittelpunkt des Glaubens, weil seine Befreiung auf dem Verzicht beruht, irdische auszuleben. Diese Askese meiner Meinung nach, ist zum Teil eine gewisse „Kopie“ der christlichen Umgebung der Juden in Europa zu vergleichen.204

Neben der jiddischen Sprache und der asketischen Lebensauffassung der osteuropäischen Orthodoxen, prägte sicherlich auch das Klima des kalten Europa den demütigen, leidenden Körper, insbesondere wenn dieser dünngekleidet und hungrig im Schatten seiner Armut stand.

Das wechselhafte Wetter hat einen beträchtlichen Einfluss auf das menschliche Körperbefinden. Es wird für ein riesiges Repertoire von Beschwerden verantwortlich gemacht: für Migräneanfälle, Bluthochdruck, Phantomschmerzen, Rheuma und Krämpfe.

Sogar die Zahl der Selbstmorde soll bei unterschiedlichen Jahreszeiten und bestimmten Wetterlagen zunehmen. Regen, Nebel, nahende Gewitter oder trüber Himmel können das Wohlbefinden eines gesunden Menschen tatsächlich negativ beeinflussen. Der Klimawechsel ist Teil der „physikalischen Therapie“205 und wird verordnet, um neben bzw. anstatt traditioneller Maßnahmen wie Operation und Medikamentierung den Schmerz solcher Beschwerden zu bekämpfen. Die jüdische aschkenasische Literatur206, deren erfundene Figuren in Osteuropa lebten, weiß gut über den reichen jüdischen Menschen zu erzählen, welcher Erholung, Heilung und Entspannung in sonnigen Ländern gesucht hatten. Jedoch für

204 Siehe auch den Kommentar zum Sport im katholischen Christentum von Prof. Baumann im Abschnitt 5.4.1.

205 Zur Wirkung der „physikalischen Therapie“ auf den Körper, siehe: Kruse & Schettler 1994, 68-70.

206 Zu erwähnen sind Autoren wie Isaac Bashevis Singer z.B. mit seinem Roman „Shosha“ und oben genannter Scholem Alejchem.

den „durchschnittlichen“ osteuropäischen Juden, welcher von Gottesflucht nach dem Sündenfall (Gen. 3, 19) noch in seinem Alltag betroffen war, blieb im Gegensatz zu dem fast immer sonnigen Jemen der häusliche, europäische, trübe Käfig immer präsent.