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Die Rolle von Modularität in mechanistischen Erklärungen

2.2 Modularität aus mechanistischer Perspektive

2.2.1 Die Rolle von Modularität in mechanistischen Erklärungen

Betrachtet man die Art und Weise, wie in der Biologie Erklärungen für das Verhalten von komplexen Systemen gegeben werden, so lässt sich nicht nur eine abstrakte Basis für den Begriff der Modularität finden, sondern es lässt sich auch eine bestimmte Rolle des Begriffs in der wissenschaftlichen Praxis feststellen. Modularität spielt eine wichtige Rolle beim Finden und Formulieren von mechanistischen Erklärungen für das Verhalten von komplexen Systemen. Im Anschluss an Bechtel und Richardson (2010 [1993]) wurde eine mechanistische Erklärung im ersten Kapitel als eine zweiteilige Beschreibung charakterisiert. Demnach wird eine mechanistische Erklärung dann gegeben, wenn i) die in Hinblick auf ein bestimmtes Verhalten relevanten Teile eines Systems und deren Operationen oder Aktivitäten identifiziert werden und ii) eine Beschreibung der Operationen der Systemteile und deren Organisation gegeben wird, die zeigt, wie das betrachtete Verhalten aus diesen Operationen folgt.

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Wie im ersten Kapitel bereits erwähnt, betonen Bechtel und Richardson (2010 [1993]) die große Bedeutung von Heuristiken in der Forschungspraxis. Nach Bechtel und Richardson nutzen Wissenschaftler zwei heuristische Strategien zum Finden und Formulieren von mechanistischen Erklärungen: Dekomposition und Lokalisation. Beide Strategien kommen in einem breiten Spektrum von Fällen in unterschiedlichen Bereichen der Biologie zum Einsatz, sowie bei Phänomenen auf sehr unterschiedlichen Ebenen der biologischen Organisation. Beide Strategien werden gemeinsam dazu genutzt, zu bestimmen, welche Teile eines Systems für ein bestimmtes Verhalten relevant sind und in welcher Weise diese Teile zu diesem Verhalten beitragen.30

Laut Bechtel und Richardson werden im Sinne der heuristischen Vorgehensweise bestimmte Annahmen über ein zu erklärendes System aufgestellt, welche die explanatorische Aufgabe vereinfachen sollen. Erstens wird angenommen, dass das Verhalten des Systems das Produkt von Aktivitäten ist, die von Teilen des Systems ausgeführt werden. Weiterhin wird, zumindest als Ausgangspunkt der weiteren Untersuchungen, angenommen, dass das Verhalten des Systems eine lineare Funktion seiner Komponenten ist (vgl. Bechtel und Richardson 2010 [1993], S. 24). Es wird also zunächst angenommen, dass Systeme einfach zerlegbar (simple decomposable) sind und die identifizierbaren Teile jeweils einen spezifischen Beitrag zum untersuchten Verhalten leisten. Diese zweite Annahme wird sich zwar in den meisten Fällen, so Bechtel and Richardson, nicht aufrechterhalten lassen, aber auch aus dem Misserfolg dieser Annahme lernen wir etwas über das betrachtete System (vgl. ebd., S. 37). Das heuristische Vorgehen zeigt sich darin, dass aus den zunächst fehlerhaften Ansätzen, die auf diesen vereinfachenden Annahmen beruhen, sich genauere und besser passende Ansätze zur Erklärung des jeweiligen Verhaltens entwickeln lassen.

Die heuristischen Strategien der Dekomposition und Lokalisation beruhen weiterhin wesentlich auf der Annahme, dass das zu untersuchende System zumindest einen gewissen Grad von Modularität zeigt. Modularität kann daher in gewisser Hinsicht als ein Werkzeug für den Umgang mit komplexen Systemen betrachtet werden. Nur unter der Annahme, dass das jeweils betrachtete System zumindest einen gewissen Grad an Modularität zeigt, erlaubt die Strategie der Dekomposition die Untergliederung der explanatorischen Aufgabe

30 Die Erklärung des Systemverhaltens durch Verweis auf die Teile des Systems wird häufig als reduktionistische Strategie angesehen. Allerdings sind Module immer als Teile eines größeren Ganzen zu verstehen; d.h., zu einer vollständigen Erklärung eines Systems wird in der Regel auch eine Rekomposition benötigt (Bechtel und Richardson 2010 [1993], xxxvii). Die einzelnen Elemente eines Systems müssen schließlich auch im Hinblick auf ihre jeweiligen Beziehungen untereinander, die Organisation des Systems, betrachtet werden.

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und macht ein komplexes System zugänglich für mechanistische Erklärungen.

Lokalisation, die Zwillingsstrategie zur Dekomposition, beinhaltet die Identifikation von postulierten Operationen oder Aktivitäten mit dem Verhalten oder Eigenschaften von bestimmten, physikalischen Teilen des Systems. Wie ich weiter unten ausführlicher darstellen werde, sorgen die Strategien der Dekomposition und Lokalisation in der Regel für eine gegenseitige Korrektur und Begrenzung.

Die meisten biologischen Systeme werden laut Bechtel und Richardson nicht einfach zerlegbar, sondern nur „beinahe-zerlegbar“ (near decomposable) sein. Den Begriff der Beinahe-Zerlegbarkeit übernehmen Bechtel und Richardson von Herbert Simon (1962).

Auch wenn Bechtel und Richardson von „Beinahe-Zerlegbarkeit“ sprechen, wurde bereits deutlich, dass dieser Begriff im engen Zusammenhang mit dem biologischen Begriff der Modularität steht und in vielen Fällen sogar gleichbedeutend verwendet wird. Die Formulierung der Bedingung für Beinahe-Zerlegbarkeit bei Bechtel und Richardson zeigt die enge Verwandtschaft zum Begriff der Modularität: „A system will be nearly decomposable to the extent that the causal interactions within subsystems are more important in determining component properties than are the causal interactions between subsystems” (Bechtel und Richardson 2010 [1993], 26-27). Im Rahmen der mechanistischen Perspektive können Modularität und Beinahe-Zerlegbarkeit als Synonyme gesehen werden. Einfach zerlegbare Systeme zeigen einen sehr hohen Grad an Modularität, während beinahe-zerlegbare Systeme einen geringeren Grad an Modularität zeigen, aber genug, um die heuristischen Strategien der Dekomposition und Lokalisation anzuwenden. Hier wird noch einmal deutlich, dass Modularität als graduelle Eigenschaft eines Systems gedacht werden muss.31

Die Annahme von Modularität wird zu einer Bedingung für die Möglichkeit, die heuristischen Strategien der Dekomposition und Lokalisation anzuwenden, um zu einer mechanistischen Erklärung für ein bestimmtes Systemverhalten zu gelangen. Allerdings lässt sich im mechanistischen Rahmen nicht analog zum Argument für Lewontins Quasi-Unabhängigkeit ein transzendentales Argument formulieren, welches zeigt, dass biologische Systeme modular sein müssen. Bei der Suche nach Mechanismen ist die Annahme, dass ein bestimmtes System Modularität zeigt, nur eine Heuristik. Als Heuristik kann sich die Annahme als falsch herausstellen. Die Postulierung von Modularität im

31 Die Redeweise von Modularität als „Eigenschaft eines Systems“ ist in dieser Arbeit eine Vereinfachung.

Die mechanistische Perspektive als epistemische Perspektive lässt offen, ob Modularität eine Eigenschaft des betrachteten biologischen Systems ist oder ob Modularität eine Eigenschaft unserer Repräsentation dieses Systems ist (z.B. des jeweiligen Modells).

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Rahmen der Anwendung der heuristischen Strategien der Dekomposition und Lokalisation stellt eine kontingente Annahme dar. Dagegen wird sie im Argument für die Existenz der Quasi-Unabhängigkeit zur notwendigen Bedingung für das Phänomen der Adaptation.

Bereits bei Bechtel und Richardson (2010 [1993], S. 202 ff.) wird die Möglichkeit eines Scheiterns der Heuristiken und das Versagen der mechanistischen Vorgehensweise für bestimmte Systeme diskutiert. Es ist möglich, dass Systeme einer Dekomposition nicht zugänglich sind. Stark integrierte Systeme, in denen die Aktivität von bestimmten Komponenten von der Aktivität vieler anderer Komponenten abhängig ist und in denen die Organisation zyklisch und dynamisch ist, können die Heuristiken der Dekomposition und Lokalisation zum Scheitern bringen. Bechtel und Richardson sprechen auch von

„integrierten Systemen“ (Bechtel und Richardson 2010 [1993], S. 202). In solchen Systemen ist es schwierig, den einzelnen Komponenten einen spezifischen Beitrag zum Systemverhalten zuzuordnen, welcher an den jeweiligen physikalischen Eigenschaften eines Teils festgemacht werden kann. Diese Art von Systemen kann, wie sich bei der Diskussion um das Gehirn in Kapitel 5 zeigen wird, auch mit dem Begriff des Holismus beschrieben werden. Verhalten in einem holistisches System kann nicht problemlos durch den Verweis auf die spezifischen Funktionen von Komponenten und deren physikalischen Eigenschaften erklärt werden.

Modularität spielt eine wichtige Rolle als heuristische Annahme über ein System, dessen Verhalten durch die Anwendung von Dekomposition und Lokalisation erklärt werden soll. Damit einem bestimmten Teil eines Systems eine Rolle bei der Produktion eines bestimmten Verhaltens zugeschrieben werden kann, muss dieses Teil als Modul identifiziert werden. Im nächsten Abschnitt werden die vier oben genannten Kriterien für Module präziser gefasst.

2.2.2 Interpretation der Kriterien für Module aus der mechanistischen