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Definitionsversuche in Wörterbüchern und aus theoretischen Arbeiten

3.1 Die verschiedenen Arten von Plastizität in der Biologie:

3.1.1 Definitionsversuche in Wörterbüchern und aus theoretischen Arbeiten

Die hier ausgewählten Definitionen stammen aus drei Wörterbüchern mit zum Teil unterschiedlichen Schwerpunkten und den theoretischen Arbeiten von West-Eberhard (2003) und Bateson und Gluckman (2011). Jeder hier betrachtete Definitionsversuch des Begriffs Plastizität gibt wichtige Hinweise für die Suche nach einem begrifflichen Kern und die Unterscheidung verschiedener Arten von Plastizität. Diese Hinweise können dann unter der mechanistischen Perspektive verwendet werden, um einen schärferen Plastizitätsbegriff herauszuarbeiten.

Im Cambridge Dictionary of Ecology, Evolution and Systematics findet sich unter dem Stichwort Plastizität folgender Eintrag (Lincoln et al. 1998, S. 234): “plasticity – The capacity of an organism to vary morphologically, physiologically or behaviourally as a result of environmental fluctuations“. Plastizität wird hier als Fähigkeit (capacity) eines Organismus definiert Variationen in Bezug auf Veränderungen in der Umwelt hervorzubringen. Weiterhin werden drei Dimensionen der Variation unterschieden:

Morphologie, Physiologie und Verhalten.

Der Begriff der Plastizität wird im Cambridge Dictionary of Human Biology and Evolution etwas differenzierter behandelt und es werden von vornherein drei Bedeutungen des Begriffs unterschieden (Mai et al. 2005, S. 417):

1. The ability of an individual to change in response to the environment within the constraints of its genetic endowment; such variations produce many of the differences in growth observed between individuals or groups of people. 2. The ability of the brain to recover functions lost through damage, by reorganization.

3. Ability of neural tissue to change its responsiveness to stimulation because of its past history of activation.

Auffällig ist zunächst die Unterscheidung von drei verschiedenen Bedeutungen.

Übereinstimmend mit der vorhergegangenen Definition, wird Plastizität allerdings in allen drei Bedeutungen als Fähigkeit (ability) definiert. Erstens kann mit Plastizität die Fähigkeit eines Individuums gemeint sein, im Rahmen seiner genetischen Vorgaben Veränderungen als Antwort auf die Umwelt zu produzieren. Zweitens kann sich Plastizität auf die Fähigkeit des Gehirns beziehen, durch „Reorganisation“ verlorene Funktionen

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wiederherzustellen. Und drittens, wird noch die Fähigkeit von Nervengewebe herausgestellt, die Empfänglichkeit für Stimulation in Abhängigkeit zu vorangegangener Aktivität zu verändern. Alle drei hier angeführten Verwendungen beziehen sich auf Anpassungsprozesse. Während im ersten Eintrag nur Organismen genannt wurden, denen Plastizität als Fähigkeit zugesprochen werden kann, ist im zweiten Wörterbucheintrag die Rede von „Individuen“, dem Gehirn und Nervengewebe (neural tissue). Auf verschiedene Dimensionen von Plastizität wird nicht weiter eingegangen, aber es wird Wachstum (growth) als ein Aspekt benannt in dem Plastizität zu Unterschieden zwischen Individuen führen kann.

Im Lexikon der Biologie (Sauermost 2003, Band 11, S. 124) wird Plastizität noch ausführlicher behandelt als in den zuvor genannten Artikeln. Es werden dabei im Wesentlichen zwei Unterarten von Plastizität unterschieden: „phänotypische Plastizität“ und „neuronale Plastizität“.

phänotypische Plastizität, Fähigkeit von Lebewesen, unter verschiedenen Umwelteinflüssen ihre morphologischen, physiologischen, ökologischen und/oder ethologischen Eigenschaften individuell so zu modifizieren, daß sie den herrschenden Umweltbedingungen angepasst sind. […] Unter neuronaler Plastizität bzw. Neuroplastizität versteht man die funktionelle und strukturelle Anpassungsfähigkeit des Nervensystems an besondere Umgebungs- und Lebensbedingungen. […] (Hervorhebungen im Original)

Zunächst lässt sich feststellen, dass auch in diesem Eintrag Plastizität als Fähigkeit behandelt wird. Weiterhin werden, wie schon zuvor, verschiedene Dimensionen von Plastizität genannt. Plastizität zeigt sich demnach in der Variation bzw. Modifikation von Eigenschaften eines Lebewesens, die jeweils der Morphologie, der Physiologie, der Ökologie oder dem Verhalten zugeordnet werden können. Eine Betonung wird in diesem Artikel auch darauf gelegt, dass Plastizität die Fähigkeit zur individuellen Anpassung an Umweltbedingungen ist. Neuronale Plastizität wird wie schon im zuvor genannten Artikel als Fähigkeit des Gehirns bzw. des Nervensystems definiert. Allerdings wird hier nicht die Fähigkeit zur Reorganisation hervorgehoben, sondern die funktionale und strukturelle Anpassungsfähigkeit an individuelle Lebensbedingungen. Allerdings ist nicht weiter bestimmt was hier funktional und strukturell meint oder, ob die strukturelle und funktionale Anpassung durch Reorganisation erreicht werden kann.

Die drei angeführten Wörterbuch-Artikel geben erste Hinweise auf die Verwendung des Begriffs der Plastizität in der Biologie. Es werden unterschiedliche Arten von Plastizität angeführt und Dimensionen des Begriffs benannt. Zwei weitere Definition

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sollen an dieser Stelle noch hinzugezogen werden, um die erste Bestandsaufnahme zu einem Abschluss zu bringen. Mary Jane West-Eberhard, deren theoretische Arbeit schon im ersten Kapitel erwähnt wurde, macht Plastizität zum Grundbegriff ihrer angestrebten Einheit von Evolution- und Entwicklungstheorie. Dabei legt sie eine sehr umfassende Definition zugrunde (West-Eberhard 2003, S. 33):

Plasticity (responsiveness, flexibility) is the ability of an organism to react to an internal or external environmental input with a change in form, state, movement, or rate of activity. It may or may not be adaptive (a consequence of previous selection).

Zunächst lässt sich wieder feststellen, dass West-Eberhard Plastizität ebenfalls als die Fähigkeit (ability) eines Organismus versteht auf Umweltbedingungen zu reagieren.

Obwohl ihre Definition sehr breit ist, gibt sie gleichzeitig eine Reihe von Hinweisen, wie verschiedene Formen bzw. verschiedene Dimensionen von Plastizität unterschieden werden können. Es werden verschiedene Aspekte benannt, in denen Organismen Variation zeigen können: Form, Zustand, Bewegung und Aktivität. Weiterhin unterscheidet West-Eberhard aber zwei Punkte, die in den vorherigen Definitionen bisher nicht berücksichtigt wurden. Plastizität kann eine Reaktion auf Veränderungen oder Input aus der externen oder internen Umwelt sein. Demnach können auch Veränderungen innerhalb eines Organismus zu einer individuellen Anpassung führen, z.B. wenn eine Verletzung oder Fehlbildung auftritt. Weiterhin wird von West-Eberhard explizit hervorgehoben, dass Plastizität das Resultat von vorhergegangener Selektion, also eine Adaptation, sein kann, aber nicht muss.

Zum Abschluss der Bestandsaufnahme sollen noch Überlegungen von Bateson und Gluckman (2011) betrachtet werden, die sich in ihrer theoretischen Arbeit mit dem Verhältnis der Begriffe Plastizität und Robustheit im Kontext von Entwicklung und Evolution beschäftigen. Plastizität bezeichnet laut Gluckman und Bateson das Phänomen der Ausbildung von vielfaltigen und manchmal qualitativ unterschiedlichen Phänotypen bei Individuen, die über den gleichen Genotyp verfügen.

Plasticity includes accommodation to the disruptions of normal development caused by mutation, poisons or accident. Much Plasticity is in response to environmental cues, and advantages in terms of survival and reproductive success are likely to arise from the use of such mechanisms. […] Plasticity may also involve one of the many different forms of learning, ranging from habituation through associative learning to the most complex forms of cognition. (Bateson und Gluckman 2011, S. 8-9)

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Statt eine allgemeine Definition zu geben, werden bei Bateson und Gluckman einfach verschiedene Fälle genannt, die zum Phänomen von Plastizität gehören. Bemerkenswert ist, dass Plastizität nicht nur als Phänomen der Anpassung an externe Umstände gesehen wird, sondern wie bei West-Eberhard eine Anpassung an interne Veränderungen, wie Mutationen, Vergiftung oder Verletzung, darstellen kann. Weiterhin wird aus dem Zitat deutlich, dass Bateson und Gluckman Plastizität als ein Phänomen verstehen, welches durch bestimmte Mechanismen hervorgebracht wird, die dem jeweiligen Organismus mit großer Wahrscheinlichkeit Vorteile in Bezug auf Überleben und Reproduktion verschaffen.

Damit sind solche Mechanismen natürlich möglicherweise als Produkte der Selektion zu verstehen und damit als Adaptationen anzusehen. Als letzter Punkt ist zu erwähnen, dass bei Bateson und Gluckman auch die verschiedenen Formen von Lernen Mechanismen für Plastizität darstellen.

Der Plastizität eines Phänotyps wird häufig die Robustheit (robustness) von phänotypischen Merkmalen gegenübergestellt. Robustheit im Sinne von Bateson und Gluckman bezeichnet den Widerstand gegen phänotypische Veränderungen trotz veränderter Umweltbedingungen (vgl. Bateson und Gluckman 2011, S. 8). Obwohl es sich um zwei Arten von Phänomenen handelt, die sich in der Entwicklung eines Organismus zeigen, argumentieren Bateson und Gluckman für einen engen Zusammenhang zwischen diesen beiden Eigenschaften von biologischen Systemen. Laut Bateson und Gluckman spielen die gleichen Mechanismen, welche plastische Antworten auf externe oder interne Veränderungen hervorbringen, auch eine wesentliche Rolle in Bezug auf das Phänomen der Robustheit. Diesen Punkt gilt es später noch einmal aufzunehmen.

Als vorläufiges Ergebnis lässt sich festhalten, dass Plastizität typischerweise als die Fähigkeit eines biologischen Systems definiert wird, auf veränderte (externe oder interne) Umweltbedingungen mit der Produktion einer (adaptiven) Antwort zu reagieren und sich den neuen oder veränderten Umweltbedingungen im Rahmen der individuellen Entwicklung anzupassen.

In den nächsten beiden Abschnitten sollen noch einmal zwei Themen genauer betrachtet werden, die im Verlauf der Bestandsaufnahme schon angeschnitten wurden. 1) Welche Systeme können als plastisch beschrieben werden? (Abschnitt 3.1.2) Typischerweise sind es Organismen, die als biologische Systeme beschrieben werden, die Plastizität zeigen. Auch das Gehirn oder das Nervensystem werden als Systeme genannt, denen Plastizität zugeschrieben werden kann. Doch lässt sich etwas Allgemeines über diese Systeme sagen? 2) Welche Dimensionen der Plastizität können unterschieden werden?

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In den oben betrachteten Wörterbuch-Artikeln und Definitionen wurden verschiedene Dimensionen von Plastizität, wie Morphologie, Physiologie, oder Verhalten, erwähnt. Wie verhalten sich die jeweiligen Dimensionen von Plastizität zueinander? (Abschnitt 3.1.3)