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3.2 Plastizität aus mechanistischer Perspektive

3.2.2 Arten von Plastizität

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Art und Weise, wie Tiere sich in Abhängigkeit von der jeweiligen Situation für ein bestimmtes Verhalten entscheiden (vgl. Gotthard und Nylin 1995, S. 14).

Zur Erklärung von Plastizität wird dementsprechend ein Mechanismus gesucht, welcher Reize aus der Umwelt dazu nutzt, den Zustand der Umwelt zu bestimmen und eine adaptive Antwort in Form von passender phänotypischer Variation hervorzubringen. Die Anforderung an den jeweiligen Mechanismus, die Umweltbedingungen anhand von Reizen zu „erkennen“, macht nachvollziehbar, warum Godfrey-Smith alle Formen von phänotypischer Plastizität als „Proto-Kognition“ bezeichnet (vgl. Godfrey-Smith 2002, S.

236). Dabei macht es keinen Unterschied, welche Dimension von Plastizität betrachtet wird. Morphologische Veränderungen während der Entwicklung, physiologische Reaktionen oder die Auswahl von Verhaltensoptionen gehen häufig Hand in Hand und in allen Fällen bedarf es eines aktiven Mechanismus, der eine passende Antwort wählt, wenn es sich um Plastizität handeln soll. Die hier vorgeschlagene, engere Definition von Plastizität vermeidet es, zu weit und unspezifisch zu werden, kann aber gleichzeitig den allgemeinen Sprachgebrach und die damit verbundene Redeweise von Fähigkeiten einfangen.

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strukturierte Systeme sind, die sich aus Teilen zusammensetzen, die spezifische Aktivitäten ausüben und gemeinsam das Systemverhalten hervorbringen. Wenn eine Zelle genuine Plastizität zeigt, dann ist dies auch Plastizität eines strukturierten Systems und nicht irgendeine fundamentale oder besondere Form von Plastizität.

Auch eine weitere Unterscheidung, die in der Literatur manchmal getroffen wird, ist an dieser Stelle zweitrangig. Es wird von einigen Autoren (z.B. Stearns 1989) vorgeschlagen, dass die Bezeichnung „Flexibilität“ für umkehrbare Formen von phänotypischer Variabilität benutzt werden sollte, um diese von anderen Arten der Plastizität abzugrenzen. Damit würde vor allem Variabilität des Verhaltens und der Physiologie als Flexibilität zu bezeichnen sein, während unumkehrbare, phänotypische Variationen während der Entwicklung als Plastizität bezeichnet werden sollten. Diese Unterscheidung hat sich aber nicht einheitlich durchgesetzt (vgl. Morange 2009, S. 495).

Es wird an dieser Stelle nicht zwischen umkehrbaren und unumkehrbaren Antworten auf Umweltbedingungen in dieser Weise unterschieden. Wie sich schon gezeigt hat, handelt es sich bei Verhalten und Morphologie um verschiedene Dimensionen von Plastizität, die beide umkehrbar sein können.

Die Unterscheidung zwischen Plastizität erster und zweiter Ordnung beruht darauf, ob ein System aus einer Reihe von Optionen auswählen kann oder ob ein System selbst weitere Optionen zu dieser Reihe durch Mechanismen des Lernens hinzufügen kann.

Plastizität erster Ordnung liegt vor, wenn aus einer festen Reihe von möglichen Optionen eine Antwort gewählt wird, die den jeweiligen Umweltbedingungen angemessen ist oder sein soll. Dabei kann es sich um verschiedene Verhaltensweisen, physiologische Reaktionen oder morphologische Formen handeln. Plastizität zweiter Ordnung liegt vor, wenn das Repertoire von Optionen eines Systems erweitert und durch eine angemessene Option ergänzt werden kann, die vorher nicht vorhanden war. Plastizität zweiter Ordnung involviert Vorgänge des Lernens.

Die hier explizit getroffene Unterscheidung zwischen zwei Arten von Plastizität findet sich implizit auch bei Bateson und Gluckman (2011, S. 44). Dort wird vorgeschlagen, dass es begrifflich und aus mechanistischer Perspektive sinnvoll ist, zwischen zwei Arten von plastischen Antworten zu unterscheiden. Antworten, die in der Geschichte einer Spezies auf vollkommen neue Herausforderungen gegeben werden, sollten laut Bateson und Gluckman von Antworten unterschieden werden, welche auf Herausforderungen produziert werden, denen eine Spezies schon vorher in ihrer evolutionären Geschichte ausgesetzt war.

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Im letzteren Fall ist es wahrscheinlich, dass das wiederholte Auftreten einer Herausforderung über evolutionäre Zeitspannen hinweg zu einer funktional spezifischen Adaptation geführt hat. Eine funktional spezifische Adaptation besteht in dieser Hinsicht in einem Mechanismus, welcher aus mehreren Optionen auf der Grundlage eines Signals aus der Umwelt eine passende Antwort auswählt. Auch für den Fall, dass ein biologisches System in der Lage ist neue Herausforderungen durch die Produktion neuer phänotypischer Varianten bewältigt, kann eine Adaptation vorliegen. Dabei wird es sich aber um einen Mechanismus handeln, der nicht nur eine passende Option wählen kann, sondern der auch selbst Variation produzieren kann und neue Optionen erprobt. Diese Überlegungen legen nahe, dass man erwarten sollte, dass sich die Mechanismen für Plastizität erster und zweiter Ordnung in wesentlichen Aspekten unterscheiden werden.

Ausgehend von der Analyse von Plastizität als Fähigkeit der individuellen Anpassung, lässt sich festhalten, dass Plastizität ein Anpassungsproblem löst. Plastizität erlaubt die individuelle Anpassung eines biologischen Systems an seine Umwelt. Laut Darden und Cain (1989) werden typischerweise Selektions- und Instruktionstheorien zur Lösung von Anpassungsproblemen herangezogen. Häufig besteht eine Konkurrenz zwischen Instruktions- und Selektionstheorien für die Erklärung eines spezifischen Anpassungsphänomens (vgl. Darden und Cain 1989, S. 126). Demnach sollte man erwarten, dass zur Erklärung von Plastizität instruktive oder selektive Mechanismen herangezogen werden, eben solche Mechanismen, die auf einer Instruktions- oder Selektionstheorie basieren. Je nachdem, ob ein Fall von Plastizität erster Ordnung oder zweiter Ordnung vorliegt, könnte damit eine bestimmte Form von Mechanismus zu erwarten sein. Die Unterscheidung zwischen instruktiven und selektiven Mechanismen für Plastizität könnte mit der Unterscheidung zwischen den beiden Arten von Plastizität einhergehen.

Die unterschiedlichen Blattformen von bestimmten Wasserpflanzen sind ein einfaches Beispiel für den Fall von Plastizität erster Ordnung, welche durch einen instruktiven Mechanismus erklärt werden kann. Die jeweils produzierte Blattform stellt eine adaptive Antwort dar, die auf einem einfachen Reiz aus der Umwelt basiert. Das Vorhandensein oder die Abwesenheit von Wasser instruiert den Organismus darüber, welche Blattform ausgebildet werden soll. Um eine adaptive Antwort für den Fall hervorzubringen, dass die Herausforderung in der Vergangenheit der Spezies bisher nicht aufgetreten ist, kann ein solch einfacher instruktiver Mechanismus möglicherweise nicht ausreichend sein.

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Aber auch für den Umgang mit neuen Herausforderungen kann dem Organismus ein evolvierter Mechanismus zur Verfügung stehen. Zwei Beispiele für diese Art der Plastizität sind das Immunsystem und Kognition. Wie sich noch zeigen wird, kann die Fähigkeit des Immunsystems, adaptive Antworten zu produzieren, durch einen Mechanismus erklärt werden, welcher auf einer Selektionstheorie basiert. Manche Autoren sehen im Immunsystem sogar ein treffendes Modell für die grundlegenden Mechanismen, die der Fähigkeit zum Lernen allgemein zugrunde liegen (z.B. Edelman 1987). Es ist also möglich, dass Selektion allgemein als wichtiger Bestandteil eines Mechanismus auftritt, der Antworten auf neuartige Herausforderungen bereitstellt. Ob und inwiefern eine Korrelation von Selektionsmechanismen und Plastizität zweiter Ordnung besteht ist natürlich eine empirische Frage.

Die hier getroffenen begrifflichen Unterscheidungen zwischen zwei Arten von Sensitivität und zwei Arten von Plastizität werden in Tabelle 2 zusammengefasst:

Flexibel Aktiv Hinzufügen von

neuen Optionen

Kritische Sensitivität Nein Nein Nein

Flexible Sensitivität Ja Nein Nein

Plastizität erster Ordnung

Ja Ja Nein Plastizität

zweiter Ordnung

Ja Ja Ja

Tabelle 2: Die unterschiedlichen Arten von Sensitivität und Plastizität im Überblick.

Bevor auf die epistemischen Aspekte des Begriffs Plastizität eingegangen wird, soll an dieser Stelle noch einmal auf die Beziehung der Begriffe Plastizität und Robustheit geschaut werden, mit der sich auch Bateson und Gluckman (2011) befassen. Der Begriff der Plastizität bezieht sich auch für Bateson und Gluckman auf die vielfältigen und zum Teil qualitativ unterschiedlichen Antworten auf Umweltbedingungen in der Entwicklung und im Verhalten von Individuen mit demselben Genotyp (vgl. Bateson und Gluckman 2011, S. 8). Robustheit wird von Bateson und Gluckman als ein weiteres zentrales Charakteristikum der Entwicklung von Organsimen und anderen biologischen Systemen

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gesehen. Bestimmte Merkmale und Eigenschaften werden auch unter sehr unterschiedlichen Umweltbedingungen konstant gehalten oder zuverlässig während der Entwicklung ausgeprägt. Robustheit von Entwicklungsvorgängen sorgt dafür, dass Organismen sich zu Individuen entwickeln können, welche stabile Funktionen und charakteristische Merkmale ihrer biologischen Art zeigen.

Der Begriff der Robustheit ist verwandt mit dem Begriff der Kanalisierung der Entwicklung (canalization). Obwohl Robustheit als gespiegelter Begriff oder sogar als Gegenbegriff zu Plastizität erscheint, argumentieren Bateson und Gluckman dafür, diese Trennung nicht zu stark zu machen, da beiden Arten von Phänomen die gleichen Mechanismen zugrunde liegen sollen (vgl. ebd., S. 46). Laut Bateson und Gluckman lässt sich die Trennung von Plastizität und Robustheit aus einer mechanistischen Perspektive nicht aufrechterhalten. In ganz ähnlicher Weise wird auch bei Kaplan (2008, S. 216) das Phänomen der zuverlässigen Entwicklung von phänotypischen Merkmalen, deren

„Kanalisierung“, als Art von Plastizität charakterisiert. Die Kanalisierung phänotypischer Merkmale während der Entwicklung ist für Bateson und Gluckman aber nur ein Beispiel für Robustheit. Robustheit soll auch Fälle von Insensitivität der Entwicklung, die Reparatur von beschädigten Systemen und die Redundanz in biologischen Systemen erfassen.

Auch die Regulation oder die konstante Beibehaltung bestimmter Systemparameter unter unterschiedlichen Umweltbedingungen fällt für Bateson und Gluckman (2011, S. 27) unter den Begriff der Robustheit. Beispielsweise sorgen viele Lebewesen durch die Regulation der Körpertemperatur für einen (relativ) konstanten Wert, der unter vielen verschiedenen Bedingungen beigehalten wird. Solche Phänomene der Homöostase beinhalten die Anpassung von Verhalten und physiologischen Stoffwechselvorgängen.

D.h., damit ein bestimmter Parameter konstant gehalten werden kann, müssen Variationen in anderen Systemeigenschaften möglich sein. Auf diese Weise wird veranschaulicht, wie Robustheit und Plastizität zusammenhängen.

Andere Beispiele lassen sich finden in denen Robustheit im Sinne von Bateson und Gluckman auch mit weitreichenden morphologischen Veränderungen einhergeht. So können Verletzungen oder Störungen in der frühen Entwicklung in einigen Fällen durch Veränderungen in der morphologischen und verhaltensbezogenen Dimension ausgeglichen werden. Ein berühmter Fall ist die so genannte „zweibeinige Ziege“. Eine Ziege, die nur mit ihren zwei Hinterbeinen auf die Welt kommt, entwickelt eine spezifische Muskulatur und Anpassungen des Knochenbaus für die Fortbewegung auf zwei Beinen (vgl. Bateson

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und Gluckman 2011, S. 32 und West-Eberhard 2003, S. 51). Der Organismus war trotz seiner gestörten Entwicklung lebensfähig. Die Variabilität in der Morphologie und im Verhalten generiert in solchen Fällen die Robustheit einer bestimmten Funktion (vgl.

Bateson und Gluckman 2011, S. 34). Im Fall der zweibeinigen Ziege konnte die Funktion der Fortbewegung durch entsprechende Anpassungen erhalten werden.

Auf diese Weise lässt sich auch die Plastizität des Immunsystems als die Aufrechterhaltung einer robusten Funktion beschreiben. Wird die Funktion des Immunsystems als Beseitigung von im Organismus eingedrungenen Erregern beschrieben, so stellt die Aufrechterhaltung dieser Funktion durch die Plastizität der humoralen Immunantwort gleichzeitig einen Fall von Robustheit der Funktion dar. Obwohl es Variation in einem entscheidenden Umweltfaktor gibt, wenn neue Erreger im Körper auftauchen, kann das Immunsystem seine Funktion weiter ausführen. Die Robustheit der Funktion erfordert aber quasi eine nach innen gerichtete Plastizität des Immunsystems.

Bestimmte Teile (z.B. B-Zellen und Antikörper) des Systems müssen angepasst werden, damit nach außen die Funktion aufrechterhalten werden kann.

Ein anderes bekanntes Beispiel für ein System, das eine Robustheit von Funktionen aufweist, ist das Gehirn. Auch im Fall des Gehirns können Verletzungen und Schäden teilweise ausgeglichen werden, indem interne Veränderungen vorgenommen werden, die zur Anpassung an die neuen Bedingungen führen. Das Gehirn „reorganisiert“ strukturelle und funktionale Elemente, um verlorene Funktionen wiederherzustellen oder deren Verlust auszugleichen. So wird beispielsweise bei blind geborenen Kindern festgestellt, dass das Areal, welches eigentlich für die visuelle Verarbeitung zuständig ist, für die Verarbeitung von auditiven und taktilen Input genutzt wird (vgl. Bateson und Gluckman 2011, S. 33).

Das Verhältnis von Plastizität und Robustheit beinhaltet viele interessante Aspekte und kann hier nicht abschließend behandelt werden. Bateson und Gluckman (2011) argumentieren, dass die Unterscheidung zwischen Plastizität und Robustheit aufgrund mechanistischer Überlegungen nicht strikt aufrechterhalten werden kann. Die Robustheit von bestimmten Funktionen geht mit der Variabilität des Systems in anderen funktionalen oder strukturellen Aspekten einher. Allerdings könnte es sein, dass Robustheit in einigen Fällen auch durch Sensitivität ermöglicht wird. Der Begriff der Robustheit lässt zunächst offen, ob (nach innen) gerichtete Plastizität oder Sensitivität vorliegt. Es wäre also weitere begriffliche Arbeit nötig, um das Verhältnis von Plastizität und Robustheit genauer zu bestimmen, die hier aber nicht geleistet werden kann. Möglicherweise ist das Vorliegen

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von Plastizität oder Sensitivität im jeweiligen Fall auch eine empirische Frage, die von Fall zu Fall geklärt werden muss.