• Keine Ergebnisse gefunden

Die Pluralität von Modularitätsbegriffen in der Biologie

2.1 Was ist Modularität in der Biologie?

2.1.2 Die Pluralität von Modularitätsbegriffen in der Biologie

66

gleichermaßen betreffen würden. Sowohl die einheitliche Funktion als auch die genetische Grundlage machen aus rechten und linken Gliedmaßen-Ansätzen eine evolutionäre Einheit, obwohl sie sich während der Entwicklung autonom verhalten.

Auch Winther (2001) sieht wesentliche Unterschiede in der jeweiligen theoretischen Perspektive von Evolutions- und Entwicklungsbiologie auf den Begriff der Modularität.

Diese Unterschiede können laut Winther zu Spannungen und Missverständnissen zwischen entwicklungsbiologischen und evolutionären Forschungsfeldern führen (vgl. Winther 2001, S. 116). Entwicklungsbiologen sind eher am Zusammenspiel der verschiedenen, relativ autonomen Module während der Entwicklung interessiert und suchen nach den entsprechenden Mechanismen. Winther nennt dies eine „integrative Perspektive“. Dagegen sind Evolutionsbiologen eher an der Konkurrenz zwischen Modulen interessiert. Sie untersuchen die selektiven Kräfte, die zwischen Individuen und innerhalb von Individuen wirken und die Häufigkeit von Modulen und den zugrundeliegenden Genen verändern.

Nach Winther können wir dies als „kompetitive Perspektive“ bezeichnen (vgl. Winther 2001, S. 123).

Obwohl es theoretische Arbeiten gibt, die versuchen die unterschiedlichen Begriffe von Modularität zusammenzuführen und die Beziehungen zwischen Arten von Modulen zu bestimmen, muss festgestellt werden, dass eine einheitliche Theorie der Modularität noch nicht in Sicht ist. Wie im nächsten Abschnitt dargestellt wird, muss eine noch größere Pluralität von Modularitätsbegriffen berücksichtigt werden, wenn weitere biologische Disziplinen in den Blick genommen werden.

67

Neben seiner Rolle in der Evolutions- und Entwicklungsbiologie, sowie im Programm der evolutionären Entwicklungsbiologie, wurde der Begriff Modularität fast zeitgleich auch in der Molekular- und Systembiologie populär (vgl. Wagner, Pavlicev und Cheverud 2007).25 Im Fall der Molekularbiologie wurde vor allem ein funktionaler Modulbegriff interessant, der sich an den Computerwissenschaften orientiert (Hartwell et al. 1999). Module werden als funktionale Einheiten definiert, die sich aus vielen verschiedenen Arten von Molekülen zusammensetzen. Laut Hartwell et al. (1999) geht die molekulare Zellbiologie über von einer Wissenschaft, die Funktionen von einzelnen Proteinen oder Genen betrachtet hat, zu einer Wissenschaft, die Funktionen von komplexen Gruppen von interagierenden Molekülen in der Form von funktionalen Modulen untersucht. Die funktionalen Module bilden in gewisser Weise eine Organisationsebene zwischen Zellen und Molekülen. Die spezifische Funktion eines Moduls ergibt sich aus dem Zusammenspiel der molekularen Komponenten. Module in diesem Verständnis werden nicht als feste Strukturen aufgefasst, sondern Komponenten können zu unterschiedlichen Zeitpunkten an den Aktivitäten unterschiedlicher Module beteiligt sein. Für die Molekularbiologie ist zudem ein Interesse an Mechanismen charakteristisch. Damit einhergehend zeigt sich ein Interesse an physikalischen Komponenten, die wie weiter unten deutlich wird, als strukturelle Module interpretiert werden können.

Neben der Evolutions- und Entwicklungsbiologie lassen sich auch für andere biologische Disziplinen keine einheitlichen Definitionen von Modularität finden, sondern in den jeweiligen Disziplinen wird eine Vielfalt von Modularitätsbegriffen verwendet. Die Molekularbiologie brachte, wie die anderen bisher betrachteten biologischen Disziplinen, einen eigenen (und nicht mal einheitlichen) Modularitätsbegriff hervor. Wie in der Entwicklungsbiologie findet sich dort eine Vielzahl von operationalen Definitionen.

Zu Beginn des Kapitels wurde die Betrachtung des Begriffs Modularität auf die Biologie und die Lebenswissenschaften begrenzt. Doch selbst wenn man den Blick auf die Biologie beschränkt, ergibt sich eine Vielzahl von unterschiedlichen Verwendungen des Begriffs „Modularität“, eine Pluralität von Begriffen. Einige Autoren versuchen, diese Vielfalt von Verwendungen des Begriffs in der Biologie zu ordnen. Diese Versuche führen

25 Wagner, Pavlicev und Cheverud (2007) ordnen auch die kognitive Psychologie und die Kognitionswissenschaften zu den Disziplinen in denen Modularität fast zeitgleich zu den biologischen Disziplinen zu einem bedeutenden Begriff wurde. Gleichzeitig bestreiten sie einen Zusammenhang zwischen psychologischen und biologischen Modularitätsbegriffen. Diese Einschätzung halte ich allerdings für falsch, da in den Kognitionswissenschaften der Begriff viel früher verwendet wurde und die dortige Verwendung starken Einfluss auf den biologischen Begriff hatte. Mittlerweile berufen sich die Kognitionswissenschaften und ganz explizit die Evolutionäre Psychologie auf die Verwendung von Modularität als „biologischen Begriff“ (siehe Kapitel 1).

68

häufig zu der Aufstellung von Listen mit Unterbegriffen, die je nach Autor aber voneinander abweichen können. Beispiele für solche Bemühungen sind die Unterscheidungen von Arten der Modularität bei Winther (2001), Callebaut (2005) und Wagner, Pavlicev und Cheverud (2007). Die unterschiedlichen Listen mit den jeweiligen Unterscheidungen werden in der Tabelle 1 einander gegenübergestellt:

Winther (2001) Callebaut (2005) Wagner, Pavlicev und Cheverud (2007)

Entwicklungsmodul (developmental module)

Entwicklungsmodularität (developmental modularity)

Entwicklungsmodul (developmental module) strukturelle Module

(structural module)

morphologische Modularität - strukturell oder funktional (morphological modularity) physiologische Module

(physiological module)

funktionales Modul (functional module)

Evolutionäre Modularität

(evolutionary modularity)

Quasi-Autonomie

Modul der Variation

(variational module) funktionale Rolle

(functional role)

neurale und kognitive

Modularität (neural and cognitive modularity)

Tabelle 1: Gegenüberstellung von drei Einteilungen von Arten der Modularität in der Biologie.  Die Gegenüberstellung der verschiedenen Listen von Modularitätsbegriffen macht Übereinstimmungen und Unterschiede bei der Einteilung deutlich. Begriffe, die einander entsprechen, stehen in der Tabelle nebeneinander. Gibt es keine Entsprechung, so bleibt die Spalte an dieser Stelle leer und wird grau hinterlegt.

In allen drei Einteilungen findet sich der Begriff der Entwicklungsmodularität.

Entwicklungsmodule bezeichnen Teile, die ein besondere Funktion im Entwicklungsprozess ausüben oder sich relativ autonom zu ihrer Umgebung entwickeln.

Wobei weiter oben schon dargestellt wurde, dass es sich nicht um einen einheitlichen Begriff handelt. Physiologische Module in der Einteilung von Winther (2001) entsprechen in etwa dem Begriff des funktionalen Moduls bei Wagner, Pavlicev und Cheverud (2007).

69

In beiden Fällen wird durch den Begriff auf ein Teil des Organismus Bezug genommen, der eine spezifische physiologische Funktion erfüllt. Winther unterscheidet weiterhin strukturelle Module, womit Teile in der adulten Stufe eines Organismus bezeichnet werden, wie z.B. Knochen oder Organe. Bei Callebaut (2005) werden strukturelle und physiologische Module unter dem Begriff der morphologischen Modularität zusammengefasst. Morphologische Module werden nach Callebaut als strukturelle oder funktionale Einheiten des Organismus bestimmt.

Winther (2001, S. 118) führt den Begriff der funktionalen Rolle ein, um den selektiven Vorteil zu bezeichnen, den ein Modul dem jeweiligen Organismus geben kann.

Jede Art von Modul kann laut Winther eine funktionale Rolle haben oder nicht. Der Begriff der evolutionären Modularität dagegen entspricht in etwa der Idee der Quasi-Unabhängigkeit. Weiterhin wird bei Wagner, Pavlicev und Cheverud (2007) noch der Begriff des Moduls der Variation geprägt, womit eine Gruppe von Merkmalen bezeichnet werden soll, die als Einheit Variation zeigen, aber relativ unabhängig von anderen Einheiten variieren. Callebaut (2005) führt als einziger die Begriffe der neuralen und kognitiven Modularität an.

Es ist an dieser Stelle nicht nötig, alle die vielfältigen Beziehungen zwischen den einzelnen Begriffen von Modularität im Detail zu untersuchen. Die Pluralität von unterschiedlichen Begriffen der Modularität in der Biologie wird hier deutlich. Welcher Begriff von Modularität verwendet wird, ist zum Teil davon abhängig in welcher jeweiligen Disziplin wir uns bewegen. Darüber hinaus hat sich am Beispiel der Entwicklungsbiologie gezeigt, dass auch die jeweilige Fragestellung Einfluss auf die Wahl einer konkreten Definition von Modul haben kann.

Schon Winther (2001) bemerkt, dass ein biologisches System, abhängig von der gewählten theoretischen Perspektive, auf unterschiedliche Weise zerlegt werden kann. Die Wahl, Module auf eine bestimmte Weise zu definieren, führt zu unterschiedlichen Dekompositionen, die einander „widersprechen“ können. Beispielsweise können das Herz und die Augen bei Wirbeltieren als zwei unterschiedliche morphologische Module bestimmt werden. Sie sind sowohl strukturell als auch funktional voneinander getrennt.

Aber das Mesoderm, aus dem Herz und Augen hervorgehen, kann aus der Perspektive der Entwicklungsbiologie im Ganzen als Entwicklungsmodul identifiziert werden (vgl.

Winther 2001, S. 118).

Die theoretischen Arten von Modul sind nicht exklusiv und können sich überlappen oder überkreuzen. Verschiedene disziplinäre Perspektiven und verschiedene

70

Fragestellungen können Dekompositionen hervorbringen, die sich nicht ohne weiteres aufeinander abbilden lassen. Die Abhängigkeit einer Dekomposition von der gewählten Perspektive deutet darauf hin, dass es nicht eine korrekte Dekomposition für ein System gibt, sondern dass es für ein einziges System eine Vielzahl von möglichen Dekompositionen gibt.26 Welche Art von Modul in einer Analyse untersucht wird bzw.

verwendet wird, ist laut Winther eine pragmatische Wahl, die vor allem von der theoretischen Perspektive der jeweiligen Disziplin beeinflusst wird (vgl. Winther 2001, 117).

Um den Zustand der begrifflichen Vielfalt zu beschreiben, könnte man auf den Begriff des Partitionsrahmens (partitioning frame) zurückgreifen, den Winther (2006) einführt. Wie im ersten Kapitel dargestellt, ist der Partitionsrahmen Bestandteil der jeweiligen theoretischen Perspektive einer biologischen Disziplin. Durch den Partitionsrahmen wird festgelegt, nach welchen Kriterien Teile eines Systems zu identifizieren und zu individuieren sind. Module als Teile eines Systems werden über Kriterien definiert, welche durch den jeweiligen Partitionsrahmen einer Disziplin vorgegeben werden (vgl. Winther 2006, S. 475). Die Kriterien für die Identifikation von Modulen bilden einen Aspekt der theoretischen Perspektive einer Disziplin.

Es bleibt festzuhalten, dass eine Pluralität von Begriffen der Modularität in der Biologie besteht. Abhängig von der disziplinären Perspektive und der jeweiligen Fragestellung können Dekompositionen eines Systems, selbst auf dem gleichen Level der biologischen Organisation, sehr unterschiedlich ausfallen. Es gibt keinen Konsens bezüglich einer Einordnung der verschiedenen Arten von Modularität und Modul in der Biologie, sondern es finden sich auch in der Übersichtsliteratur sehr unterschiedliche Aufzählungen von Arten von Modulen (vgl. Winther 2001, Callebaut 2005 und Wagner, Pavlicev und Cheverud 2007).

Es hat sich aber auch angedeutet, dass alle Modulbegriffe die grundlegende Idee gemeinsam haben, dass Module als Teile zu verstehen sind. Wie ich im nächsten Abschnitt ausführen werde, liegt darin der Schlüssel zu einem begrifflichen Kern, der sich dann allerdings erst im Rahmen der mechanistischen Perspektive sinnvoll ausbuchstabieren lässt. Alle Arten von Modul in der Biologie beziehen sich auf die Teile eines biologischen Systems. Die Frage wie Teile zu identifizieren sind, wird aber ganz unterschiedlich beantwortet.

26 Die Idee, dass es für jedes System eine Vielfalt von möglichen Dekompositionen gibt, findet sich schon bei Kauffman (1970). Aus dieser Beobachtung heraus lassen sich interessante Fragen zum ontologischen Status von Modulen stellen (vgl. Wimsatt 1972).

71