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9. Ausblick

9.1 Die Ko-Aktivierung von Hamstrings und Quadrizeps 190

Die Ko-Aktivierung von Hamstrings und Quadrizeps und ihre Beziehung zur Kniesta-bilität und Belastung auf das vordere Kreuzband ist in den letzten Jahren intensiv untersucht worden. Auch in der vorliegenden Untersuchung zeigte sich, dass die Ko-Aktivierung bei den durchgeführten dynamischen Testbewegungen eine nicht unbe-deutende Rolle spielt. Eine große Anzahl von Studien haben diese Ko-Aktivierung mittels Elektromyographie untersucht. Diese Untersuchungen der antagonistischen EMG-Aktivität während Knieextensions- und flexionsbewegungen haben gezeigt, dass sie von dem Anstrengungsgrad, dem Typ der Muskelaktion, der Winkelstellung und der Winkelgeschwindigkeit der Bewegung abhängt. Jedoch haben elektromyo-graphische Messungen ihre Nachteile in diesem Zusammenhang (Probleme der Re-liabilität, Cross-talk, Normalisation und ihre Beziehung zur Kraft) und sollten mit Vor-sicht interpretiert werden. Die Größen des Cross-talk zwischen Hamstrings und Qua-drizeps hängt von der Elektrodengröße und –lokalisation ab, von der Fettschicht die die Muskeln umgibt und der Technik, die zur Reduzierung des Cross-talks eingesetzt wird. Die Techniken die zur Aufnahme, Analyse, Bearbeitung, Quantifizierung und Präsentation der EMG-Daten eingesetzt werden, unterscheiden sich signifikant in den Studien, welches einen Vergleich schwierig macht. Weitere Untersuchungen sind notwenig, um die Ko-Aktivierung zu analysieren.

Neben der Elektromygraphie gibt es weitere Ansätze die Aktivität des Quadrizeps und der Hamstrings zu quantifizieren (mathematische Modellierung, Kadaver-Experimente, etc.). Wissenschaftlern sollten der Limitationen dieser Methoden be-wusst sein. Die antagonistische Funktion wird besser repräsentiert, wenn das ant-agonistische Moment, das auf das Knie ausgeübt wird, bestimmt wird. Eine direkte Messung antagonistischer Momente oder Kräfte ist sehr schwierig. Studien, die ge-nau das antagonistische Moment von Hamstrings und Quadrizeps quantifiziert haben mittels mathematischer Modelle sind gering. Aufgrund der Komplexität des Kniege-lenkes mit seinen Muskeln und Strukturen gestaltet sich die Quantifizierung von ant-agonistischen Momenten und Kräften sehr schwierig. Trotzdem ist es offensichtlich, dass antagonistische Kräfte einen Effekt auf Kraftgröße und –verteilung auf das Kniegelenk haben, abhängig von der untersuchten Aktivität. Die präzise Verteilung der Antagonisten während verschiedener Bewegungen verbleibt unklar. Weitere Un-tersuchungen, die die Quantifizierung von antagonistischen Momenten / Kräften ana-lysieren, sind notwendig. Die Entwicklung neuer Computertechnologien, die Realisie-rung neuer Techniken (z.B. MRT und neurale Netzwerke) in Verbindung mit gegen-wärtigen Methoden und der Einsatz von angemessenen Methoden zur Validierung der Ergebnisse würden dazu beitragen, die antagonistischen Funktionen besser zu verstehen.

In der vorliegenden Untersuchung konnten bei beiden Untersuchungsgruppen (VKB-Patienten mit Rekonstruktion unter Verwendung des mittleren Patellarsehnendrittels und des vierfachen Semitendinosussehnentransplantat Unterschiede festgestellt werden. Es kommt zum einen zu Veränderungen von Bewegungsstrukturen (Sprungverhalten, Gangbild, u.a.) und damit zu Abweichungen von normativen Be-wegungsstrukturen und zum anderen zu Veränderungen der neuronalen Ansteue-rungsmuster der Oberschenkelmuskulatur.

Untersuchungen von FREIWALD et al.1999 haben gezeigt, dass die sensorischen Fähigkeiten des Organismus bei Verletzungen des vorderen Kreuzbandes nicht ein-geschränkt sind. Nach einer Operation sind die spezifischen, an den Verletzungstyp bzw. operativen Eingriff gebundenen Veränderungen der neuromuskulären Aktivie-rung besonders ausgeprägt. Ursache dafür ist die Tatsache, dass die Sensorik intakt ist und durch die perioperative Anästhesie keine Unterbrechung der intakten periphe-ren Affeperiphe-renzen bewirkt wird. Alle traumatisieperiphe-renden operativen Schritte werden an spinale und zentrale Zentren weitergeleitet. Wenn der Patient nach erfolgreichem operativen Eingriff mit biomechanisch stabilisierten Kniegelenkstrukturen aufwacht, hat er Lernprozesse durchlebt. Das operative Vorgehen wird als Trauma wahrge-nommen und evolutionär-phylogenetisch bewährte Strategien beginnen zu greifen.

Der Patient entlastet z.B. durch Minderaktivierung der Antigravitationsmuskulatur (vor allem in der frühen postoperativen Phase) und durch erhöhte Hamstringaktivitäten (Ko-Kontraktion) sein scheinbar massiv traumatisiertes Kniegelenk. Nach Freiwald et al.1999 entsteht hier der `sensorische Widerspruch`zur Realität. Durch die Operation ist das Gelenk tatsächlich massiv traumatisiert und trotzdem belastbar. Es entsteht ein Widerspruch zwischen sensorischer Information (massives Trauma) und tatsäch-licher Situation (stabilisierte Kapsel-Bandverhältnisse mit biomechanischer Beanspruchbarkeit). Die postoperativ veränderten neuromuskulären Aktivierungen der Kniegelenkstreck- und beugemuskulatur bei submaximalen Beanspruchungen sind damit nicht primär von morphologisch-strukturellen Defiziten, sondern stellen eine aktive, antizipative `Konstruktion` der neuromuskulären Ansteuerung dar. Glei-ches gilt für die veränderte Muskelselektion und für verstärkte Abweichungen und Varianzen von normativen Bewegungsstrukturen. Die grössere Varianz von Bewe-gungsstrukturen bei Patienten kann als aktives Suchen nach sensorischer Erfahrung interpretiert werden.

In der Rehabilitationsforschung und in der Bewertung von Bewegungsstrukturen, die mit biomechanischen Messverfahren erhoben worden sind sollten nicht ausschliess-lich als Defizite bezeichnet werden. Die Veränderungen der Bewegungsstrukturen und neuromuskuläre Ansteuerungsmuster, die in dieser Untersuchung festgestellt wurden, sollten als sinnvolle Anpassungen, als kompensatorische Strategien aufge-fasst werden. Ferner muss unterschieden werden, ob die veränderten Bewegungs-strukturen als `Zielfehler`(das Bewegungsziel wird nicht erreicht) oder als Abwei-chung von einer `idealen Technik`(Technikfehler) in Erscheinung treten. In der Re-habilitation sind Zielfehler von grösserer Bedeutung als Technikfehler. Von entschei-dender Bedeutung für den Patienten ist jedoch der Aspekt der motorischen Äquiva-lenz. Der Patient muss Zielfunktionen realisieren – z.B. eine Treppe hinauf - und he-rabsteigen – und nicht Bewegungstechniken.

Evolutionär und phylogentisch bewährte, ontogenetisch ausgeprägte Bewegungsmu-ster sind immer individuell (SCHÖLLHORN 1999). Während rehabilitativer Trainings-prozesse muss eine Abkehr von der Dominanz eines externen Beobachters (KLAES et al.1995) und einem dichotomen Verständnis von Techniklernen (richtig/falsch) er-folgen. Priorität hat demnach die Zielerreichung (Funktion) vor technischen Aspekten der Bewegungsausführung.

Dieser Ansatz sollte durch weitere Untersuchungen verfolgt werden. Trainingsthera-peutische Nachbehandlungskonzepte müssen sich diesen Überlegungen stellen.

Folgende Faktoren sollten bei zukünftigen Maßnahmen mitberücksichtigt werden : Maßnahmen im perioperativen Bereich

§ Negativ konditionierende, den Widerspruch zwischen sensorischer Informati-on und peripherer SituatiInformati-on verstärkende Signale sollten unterdrückt werden.

§ Periphere Anästhesie bzw. Verwendung von entzündungs- und schmerz-hemmenden Medikamenten

§ Pharmakologischer Einsatz zur Hemmung der sensiblen Neuronenverbände auf spinaler Ebenen

§ Peri- und postoperative Bekämpfung von Schwellung, Erguss und Schmerz

§ Postoperativer Einsatz mentaler Trainingsformen (idemotorische Trainings-formen, Einsatz von Subliminals

§ Intraoperativ positive Suggestionen (Kopfhörer) Trainingstherapeutischer Bereich

§ Durch Trauma und Operation veränderte propriozeptive Informationen müs-sen in zentralnervöse Ansteuerungsmuster integriert werden. Insbesondere wenn phylogenetisch nicht vorgesehene Widersprüche zwischen sensorisch gestützter Wahrnehmung und tatsächlicher Beanspruchbarkeit vorliegen, müssen geeignete Methoden zum Aufdecken der evolutionär und phylogen-tisch nicht vorgesehenen Widersprüche entwickelt und verwendet werden.

§ Postoperative Übungen müssen so ausgewählt werden, dass es dem Patien-ten ermöglicht wird, positive sensorische Erfahrungen (Gedächtnisinhalte) zu sammeln. Gleichzeitig muss verstärkt die Spezifik der Rehabilitationsübungen betont werden (ADL, sofortige Vertikalisierung, etc.) um einen Transfer von Rehabilitationsübung auf Aktivitäten des täglichen Lebens (Alltag, Sport) zu gewährleisten.

§ Bewegungsstrukturen, die subjektiv, als variabel und bequem empfunden werden, müssen genau analysiert werden (vgl. VAN HUSEN 1998).

§ Die Variabilität von Bewegungsstrukturen ist u.a. als Suchstrategie zu analy-sieren und zu interpretieren und nicht primär als Diskoordination (_FREIWALD et al.1999, LOOSCH 1997). Die Variabilität der Messwerte – und damit die biologische Variabilität – ist immer unter dem Gesichtspunkt zu analysieren, dass die Entstehung neuer bzw. veränderter Bewegungsstrukturen auch von Variabilität geprägt wird (BLASER 1996, LOOSCH 1997). Wie sollte der Mensch bequemere, schmerzreduzierte und damit passendere , variablere Bewegungsmuster `in Erfahrung bringen` wenn nicht durch aktives Bewegen mit zeitgleicher Wahrnehmung ? Als Konsequenz sind nicht durch aktives Be-wegen mit zeitgleicher Wahrnehmung ? Als Konsequenz sind dem Patienten verstärkt Freiheitsgrade in zielorientierten Bewegungsaufgaben einzuräumen.

Das Hauptaugenmerk der Untersuchungen liegt im Verstehen der Wichtigkeit des vorderen Kreuzbandes in vivo und in der Rehabilitation und dem Heilungsverhalten nach der Rekonstruktion. Biomechanische Studien des vorderen Kreuzbandes und von VKB-Rekonstruktionen sind traditionell an Leichen vorgenommen wurden. Diese Resultate sind sehr wichtig. Jedoch sind diese Informationen schlecht auf das in vivo Verhalten übertragbar.

In vivo Belastungen (BEYNNON et al.1998) und Ganganalysen (BULGHERONI et al.1997, KOWALK et al.1997, WEXLER et al.1998) sorgen für wertvolle Informatio-nen, die für modifizierte Rehabilitationsprotokolle, operative Verfahren und präopera-tiver Planung genutzt werden können. Diese Informationen liefern uns gründliche Informationen über VKB-Rekonstruktionen im Kniegelenk.

Ein anderer Fokus der wissenschaftlichen orthopädischen Untersuchungen ist die Applikation von neuen Technologien in der Molekularbiologie um die Heilung des Weichteilgewebes zu beschleunigen und zu unterstützen. Wachstumsfaktoren sind als spezifische Signalmoleküle identifiziert worden, die zu Veränderungen im Prolife-rations- und Migrationsverhalten der verschiedenen Zellen führen. Eine neue Studie hat gezeigt, dass Wachstumsfaktoren, wie der grundsätzliche Fibroblastfaktor und der Wachstumsfaktor b das Heilungsverhalten von Bändern in vitro und in vivo unter-stützen (HILDEBRAND et al.1998, SCHERPING et al.1997). Vielversprechende Be-richte sind publiziert worden über das verbesserte Heilungsverhalten an der Inserti-onsstelle des Bandes nach der Applikation von Wachstumsfaktoren, bekannt als Dif-ferenzierungsfaktoren (WOLFMAN et al.1997).

Obwohl einiger Erfolg in Tierversuchen erzielt wurde nach direkter Applikation von Wachstumsfaktoren bei Bandverletzungen, bestehen Probleme mit der direkten Ü-bertragung. Diese Probleme beinhalten die Kurzzeitaktionen und die äußerst hohe lokale Proteinkonzentration. Die Entwicklung von Übertragungstechniken ist notwen-dig. Die Gentherapie ist ein vielversprechender Ansatz um dieses Problem zu lösen.

Der Einsatz von viralen und nichtviralen Vektoren, die die notwendige genetische Information, welches Protein benötigt wird entschlüsselt ist von großem Interesse.

Die genetisch modifizierte Zelle hat das Potential, jenes Protein zu empfangen, wel-ches benötigt wird. Diese Gentransfer-Methode ist ein potentielles Transportmittel für eine zielgerichtete Langzeitlieferung von Protein für die Heilung des vorderen Kreuz-bandes (EVANS et al.1995, GERICH et al.1996).

Orthopädische Chirurgen stehen einige gut untersuchte Techniken und Transplantat –materialien zur Verfügung um ein verletztes vorderes Kreuzband zu versorgen.

Klinische Langzeit-Studien die objektive und subjektive Evaluationen beinhalten ha-ben in 80 % bis 90 der Patienten günstige Resultate gezeigt ( BACH et al.1998, FEAGIN et al.1997, SHELBOURNE et al.1997). Eine Studie, die eine Nachuntersu-chung nach 64 Monaten durchführte, verglich Knochenscans und Röntgenuntersu-chungen von VKB-Rekonstruktionen (91 Patienten) und VKB-defizitären Kniegelen-ken ( 145 Patienten). Die Patienten mit VKB-Rekonstruktion hatten einen höheren Grad einer Kniearthrose (DANIEL et al.1994). Dieser störende Befund scheint zu zeigen, dass trotz der Vermeidung von Knieinstabilität immer noch eine frühe Dege-neration im verletzten Kniegelenk stattfindet. Langzeit-Studien, die