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Die Ethnographie als Forschungshaltung und -methode

rekonstruktiver Forschung und methodisches Vorgehen der ethnographischen Studie

I. Qualitativ-rekonstruktive Forschung – Zielrichtungen, Methoden und Vorgehen der

4. Die Ethnographie als Forschungshaltung und -methode

Die breite Entdeckung der Ethnographie kennzeichnet in den letzten Jahren viele unterschiedliche Bereiche der qualitativen Forschung in Deutschland.

Ethnographie steht für ein

„Forschungsprogramm, das darauf abzielt, andere Lebensweisen, Le-bensformen, Lebensstile sozusagen ,von innen‘ her zu verstehen, d.h.

,fremde Welten‘ auf ihren Eigen-Sinn hin zu erkunden […]. Insofern […] ist damit folglich ein Programm anzuzeigen, das empirisch stark de-skriptiv orientiert ist – nämlich eben an den Erfahrungen, die Menschen machen“ (Hitzler 2011, S. 48, Herv. i. O.).

Die Bestrebung, an das Relevanzsystem der AkteurInnen des beobachteten Feldes anzuknüpfen, ist ein wesentliches Anliegen ethnographischer Studien.

Friebertshäuser und Panagiotopoulou (2009) definieren daher „Ethnographie“

bzw. „Ethnographische Feldforschung“ als „eine Forschungstradition, die Menschen in ihrem Alltag untersucht, um Einblicke in ihre Lebenswelten und Lebensweisen zu gewinnen sowie ihre Sinndeutungen und Praktiken kultur-analytisch zu erschließen“ (ebd., S. 301). Das von Amann und Hirschauer (1997) für die Ethnographie begrifflich geprägte Schlagwort Befremdung der eigenen Kultur verweist auf die Besonderheit einer ethnographischen For-schung in eigenen kulturellen Welten im Unterschied zu ethnologischen Studien fremder Kulturen. In einem solchen Forschungszugang ist sowohl eine distanzierende Befremdung des allzu Vertrauten (vgl. Amann/

Hirschauer 1997) als auch die Intention, schweigende Dimensionen des Sozi-alen zur Sprache zu bringen (vgl. Hirschauer 2001), erkenntnisleitend. Um dem weiter oben im Kontext rekonstruktiver Grundzüge genannten Prinzip einer Entselbstverständlichung (Kruse 2014, S. 147) von vermeintlich Selbst-verständlichem zu folgen, ist für ethnographische Forschung ein sogenannter befremdeter Blick leitend:

„Der soziologische Ethnograf, muss, sozusagen mitten im modernen Alltag, jene ,Fremde‘ überhaupt erst einmal wieder entdecken bzw.

sichtbar machen, die der ethnografisch arbeitende Ethnologe gemeinhin fast zwangsläufig existenziell erfährt, weil und indem seine alltäglichen Routinen ,im Feld‘ fremdartiger Kulturen oft ziemlich brachial erschüt-tert werden“ (Hitzler 2011, S. 48, Herv. i. O.).

Hier rekurriert Hitzler auf das für Ethnographien typische Prinzip des going native, einer Einsozialisation in das untersuchte Forschungsfeld. Trotz unter-schiedlicher Variationen von Ethnographien ist allen gemein,

„dass der Forscher mehr oder minder intensiv ,ins Feld‘ hineingeht und zugleich ,im Feld‘ so agiert, dass er es […] möglichst wenig beeinflusst.

Und symptomatisch ist die prinzipiell feldbedingungsreagible und situa-tionsflexible Form der Datenerhebung, bei der […] die Subjektivität des Forschenden nicht durch technische Maßnahmen ,maximal‘ eliminiert, sondern reflexiv als Datum anerkannt und berücksichtigt wird“ (Hitzler 2011, S. 49, Herv. i. O.).

Demnach ist ein ethnographisches Vorgehen durch eine offene und flexible Forschungsstrategie charakterisiert, die sich den Gegebenheiten des Feldes anpasst. Auch die Subjektivität der Forschenden wird besonders berücksich-tigt: ihre Rolle im Forschungsprozess wurde von Breuer (2003) gerade im Hinblick auf ihre Bedeutung und Funktion für Erkenntnisprozesse innerhalb qualitativer Forschungsprozesse diskutiert. Im Kontext eines befremdenden Blickes auf das zu beobachtende Feld verweist Hitzler (2011) auf „[d]ie be-sondere methodische Kompetenz des Ethnografen“, die darin besteht, „dass er in der Lage ist, erkenntnisoptimierend zwischen existentieller Nähe und analytischer Distanz zu changieren“ (ebd., S. 49). Die bisher genannten Grundprinzipien ethnographischer Forschung knüpfen daher direkt an die Leitgedanken ethnomethodologisch-sozialkonstruktivistischer Ansätze an, wie sie in meiner Studie verfolgt werden. So heben beispielsweise Kelle und Breidenstein (1996) mit Rekurs auf Thorne (1993) die Vorteile eines ethno-graphischen Vorgehens für Untersuchungen in Anlehnung an sozialkon-struktivistische Ansätze hervor:

„Soziologisch-ethnographische Ansätze verhalten sich […] gesellschafts- und subjekttheoretisch zurückhaltend und betonen die lokale, raum-/zeitlich verortete Erzeugung sozialer Wirklichkeit durch die Teil-nehmer, interessieren sich also für deren ,konstruktive‘ alltagskulturelle Aktivitäten“ (Kelle/Breidenstein 1996, S. 51).

Ein wesentlicher Ertrag des gewählten ethnographischen Zugangs besteht für meine am Doing-Gender-Ansatz ausgerichtete Studie somit darin, dass er

„methodische Angebote für die Aufgabe [macht], die Kategorie Geschlecht dort zu erforschen, wo sie Bedeutung erlangt, nämlich in der Alltagswelt der Beforschten“ (Kelle 2004, S. 636). Innerhalb einer sozialkonstruktivistischen Perspektive wird der Forschungsfokus demnach mithilfe eines ethnographi-schen Vorgehens auf die interaktiven Praktiken gelegt, in denen soziale Wirklichkeit erzeugt und aufrechterhalten wird. Gleichzeitig vermeidet ein solcher ethnographisch ausgerichteter Forschungsansatz „eine theoretische Vorüberfrachtung durch ,Modelle‘ und abstrakte Begriffe, die der empiri-schen Forschung nicht nur die Richtung weisen, sondern sie auch mit Scheu-klappen ausstatten“ (Kelle/Breidenstein 1996, S. 51). Laut Fritzsche und Tervooren (2012) eignet sich ein ethnographischer Zugang im Besonderen dazu, „die mit sozialen Kategorien verknüpften Differenzen zu analysieren,

insofern sie über eine lange Tradition der Reflexion eines angemessenen Umgangs mit ,dem Anderen‘ verfügt“ (ebd., S. 25). Für Kelle (2009) geht es in der qualitativen Forschung im Allgemeinen und in der Ethnographie im Speziellen vor allem um eine „Beschreibung allgemeinerer kultureller Mus-ter“, ohne jedoch bei deren Darstellung zu vernachlässigen, „dass alle kon-kreten Einzelbeispiele in ihrer Komplexität über diese Muster hinausragen“:

„Geertz betont, dass das Gültigkeitskriterium dichter Beschreibungen – man kann auch sagen: qualitativer Forschung allgemein – nicht die Ko-härenz einer Summe von Phänomenen ist (damit auch ihre Quantifizier-barkeit), sondern die Genauigkeit im Detail, die der empirischen Vielfalt und Heterogenität von Phänomenen gerecht wird“ (ebd., S. 109).

Es lässt sich folglich festhalten, dass die genannten Grundprinzipien ethno-graphischer Feldforschung deutlich anschlussfähig sind an die verfolgte eth-nomethodologisch-sozialkonstruktivistische Perspektive auf Geschlecht und die Verortung im empirischen Konstruktivismus. Während bisher zahlreiche Potenziale und der Mehrwert ethnographischer Studien im Allgemeinen und auch speziell für die Bearbeitung der empirischen Fragestellung im Hinblick auf methodologische Grundannahmen im Fokus standen, soll es im folgenden Abschnitt nun um das methodische Vorgehen der teilnehmenden Beobach-tung gehen.

4.1 Die Teilnehmende Beobachtung als Erhebungsinstrument

Da es sich bei dem Gegenstand meiner Forschungsbemühungen um Kon-struktionsprozesse von Geschlecht der AkteurInnen im Feld einer Kinderta-geseinrichtung handelt, musste das empirische Vorgehen so strukturiert sein, dass die untersuchten AkteurInnen die Möglichkeit erhielten, ihre Ge-schlechterkonstruktionen „in deren eigener Sprache, in ihrem Symbolsystem und innerhalb ihres Relevanzrahmens“ (Bohnsack 2010, S. 20) zu entfalten.

Wie bereits ausgeführt, ist die Ethnographie eine der Forschungsstrategien, die diesem Anspruch Rechnung tragen. An die Ethnomethodologie ange-lehnte Forschungen gehen des Weiteren davon aus,

„dass Teilnehmern ihre alltagsweltlichen Konstruktionen nicht (notwen-dig) reflexiv oder diskursiv verfügbar sind, sondern sie verfügen über jene Form von impliziten Wissen oder ,tacit knowledge‘: Die Teilnehmer ,wissen wie es geht‘, sich in der eigenen Kultur kompetent zu bewegen, aber sie wissen es nicht zu erklären – deswegen haben Beobachtungsver-fahren Priorität“ (Kelle 2004, S. 637, Herv. i. O.).

Da die Ethnographie an alltagsweltlichen Konstruktionen interessiert ist, wundert es nicht, dass die teilnehmende Beobachtung vielfach als

„Kern-stück“ (Kelle 2004, S. 636) der Ethnographie bezeichnet, zum Teil sogar mit ihr gleichgesetzt wird. Allerdings darf nicht vernachlässigt werden, dass durchaus unterschiedliche Methoden gebraucht werden, denn „die Ethnogra-phie [ist] eine flexible Forschungsstrategie, die sich verschiedener Einzel-methoden je nach Bedarf und Feldbedingungen bedient“ (ebd.). Neben der teilnehmenden Beobachtung kommen entsprechend den ethnographischen Prinzipien der methodischen Flexibilität und Offenheit im Forschungsprozess häufig bspw. auch Photo-, Audio- bzw. Videoaufnahmen, Artefakte und Dokumente, ExpertInnenbefragungen oder Gruppendiskussionen zum Ein-satz (vgl. Kelle 2004). Zur Auswahl der jeweiligen Methoden ist die von Bohnsack (2010) für qualitativ ausgerichtete Forschungszugänge konstatierte Gegenstandsorientierung erkenntnisleitend. Im Hinblick auf die Rekonstruk-tion von sozialen Praktiken konstatiert Reckwitz (2008) allerdings ein „Pri-mat der […] ethnographische[n] teilnehmenden Beobachtung“ (ebd., S. 196).

Daher wählte ich zur Untersuchung geschlechtlicher Differenzierungsprakti-ken von AkteurInnen die teilnehmende Beobachtung als Methode.

Anfang des Jahres 2011 begann ich mit der Akquise einer Kindertages-einrichtung, in der die teilnehmende Beobachtung durchgeführt werden konnte. Aus forschungsökonomischen Gründen wurden zunächst ortsnahe Einrichtungen angefragt, da eine wöchentliche teilnehmende Beobachtung möglichst kosten- und zeitökonomisch gewährleistet werden sollte. Die Su-che gestaltete sich zu Beginn schwierig, da für viele der kontaktierten Ein-richtungen eine teilnehmende Beobachtung des Alltags in ihrer Kindertages-einrichtung inklusive der geplanten Videoaufnahmen nicht infrage kam. Nach mehreren Vorgesprächen konnte im Mai 2011 allerdings eine kooperations-bereite ortsnahe Einrichtung gefunden werden. Im Juni 2011 begannen die teilnehmenden Beobachtungen im Alltag der Kindertageseinrichtung Schatzinsel und wurden bis Juli 2012 wöchentlich weitergeführt, wobei ich zum Teil mehrmals und zum Teil nur einmal wöchentlich vor Ort war. Die längerfristige, d.h. mehrmonatige Teilnahme und die subjektiven Erfahrun-gen im Feld verfolgten dabei das Ziel, die Perspektive der AkteurInnen mit ihren eigenen Relevanz- und Bedeutungssystemen sowohl kennen als auch verstehen zu lernen (vgl. Hirschauer 1994, Breidenstein/Kelle 1998, Kelle 2004). Dem Prinzip der Offenheit folgend und im Sinne eines reifizierungs-sensiblen Vorgehens, wurden im Vorfeld keine spezifischen Situationen des Kindergartenalltags für die teilnehmende Beobachtung ausgewählt. Orientiert an den Tagesabläufen der Kindertageseinrichtung und in Absprache mit den Fachkräften, etablierte sich im Laufe der Erhebung ein wöchentlicher Feld-aufenthalt im Umfang von zwei bis sechs Stunden. Bei der durchgeführten teilnehmenden Beobachtung wurde neben der Erstellung von Fieldnotes und anschließenden Beobachtungsprotokollen ein videographischer Zugriffsweg verfolgt, der die nachträgliche Rekonstruktion des Interaktionsgeschehens

und die Berücksichtigung von Mikroprozessen ermöglichen sollte (vgl.

Nentwig-Gesemann 2001). So konstatiert auch Reckwitz (2008), dass

„[d]ie ethnographische teilnehmende Beobachtung – die von Beobach-tungsprotokollen und einer Aufzeichnung von Handlungs- und Ge-sprächssequenzen etwa auf Film oder Tonband begleitet sein kann – […]

gewissermaßen die ,natürliche‘, ihr korrespondierende Methode der Pra-xeologie“ ist (ebd., S. 196).

Angelehnt an die ethnographischen Prinzipien der teilnehmenden Beobach-tung habe ich bei den Videoaufnahmen darauf geachtet, keine externe Positi-onierung einzunehmen, um neben den Aufnahmen auch weiter aktiv am Geschehen zu partizipieren und mit den AkteurInnen zu interagieren. Den Gütekriterien Offenheit und Flexibilität Rechnung tragend, veränderte sich im Laufe meiner teilnehmenden Beobachtung das Verhältnis der eingesetzten Methoden. Während ursprünglich die videographiebasierte Beobachtung als zentrale Erhebungsmethode geplant war, zeigte sich mir bereits in den ersten Wochen meiner Erhebungsphase, dass die Kamera eine Barriere darstellte, die mich daran hinderte, mit den AkteurInnen intensiv in Kontakt zu treten und am Alltag tatsächlich teilzunehmen. Daher ging ich im Laufe meiner vierzehnmonatigen Erhebungsphase immer mehr dazu über, ohne Kamera ins Feld zu gehen und meine Beobachtungen in Form von Fieldnotes festzuhal-ten, die direkt im Anschluss an die Beobachtungsphasen von mir verschrift-licht wurden. Des Weiteren zeigten erste Auswertungen der Beobachtungs-protokolle noch während des Erhebungszeitraums, dass die Protokolle eine geeignete und ausreichende Datengrundlage waren, um Geschlechterkon-struktionen empirisch rekonstruieren zu können. Der Mehrwert des Video-materials war demnach geringer als ursprünglich angenommen. Bevor ich allerdings unter Abschnitt B.I.5. ausführen werde, wie die umfangreichen Datenmaterialien empirisch ausgewertet wurden, möchte ich zuvor noch auf Kritikpunkte und Grenzen ethnographischer Forschungszugänge eingehen.

4.2 Kritik und Grenzen ethnographischer Forschungsperspektiven

Trotz einer breiten Entdeckung und der Anerkennung ihres wissenschaftli-chen Erkenntniswertes wird die Ethnographie seit den 1980er Jahren als sozi-alwissenschaftliche Forschungsstrategie verstärkt diskutiert. Ging es in den 1980er Jahren noch primär um das Verhältnis ForscherIn und Feld (vgl. Hir-schauer 2001), leiteten Berg und Fuchs (1993) unter dem Titel „Krise der ethnographischen Repräsentation“ eine Debatte um die sprachliche Verfasst-heit von Ethnographie ein. Zentraler Kritikpunkt war, dass Ethnographien mittels rhetorischer Mittel „an der Erschaffung fremder Kulturen beteiligt“

seien (Hirschauer 2011, S. 104). In seinem Artikel „Ethnografisches

Schrei-ben und die Schweigsamkeit des Sozialen“ setzt sich Hirschauer (2001) mit diesem „zentrale[n] Problem der Methodologie der Ethnografie“ (ebd., S. 429) auseinander. Gegenstand der Repräsentationskritik war das ethnogra-phische Schreiben hinsichtlich der Fragen: „Wie überzeugt man Abwesende von der Authentizität eines Berichts?“ bzw. wie können „Leser von der gülti-gen Repräsentation einer Kultur überzeugt werden“? (ebd., S. 430). Die Krise der Repräsentation, die laut Winter (2010) ursprünglich in der Philosophie diskutiert wurde, hatte zur Folge, dass man sich von der Ansicht verabschie-dete, dass Forschung und Wissenschaft „objektive Beschreibungen der Welt hervorbringen“ (ebd., S. 127). Demnach war die Ethnographie die „erste[…]

Forschungsstrategie innerhalb der empirischen Sozialforschung, der die Ehre einer texttheoretischen Dekonstruktion zuteil wurde“ (Hirschauer 2001, S. 429). Als Konsequenz der sogenannten „Krise der ethnographischen Re-präsentation“ (Berg/Fuchs 1993) kam es zu einer reflexiven Wende, in deren Folge neben den Konstruktionen des Feldes die eigenen Darstellungen von Forschenden ebenfalls als soziale Konstruktionen betrachtet werden müssen (vgl. Kelle/Breidenstein 1996, S. 49)108. Dies gilt es im Besonderen dann zu berücksichtigen, wenn man sozialkonstruktivistischen Grundannahmen folgt:

„Insofern steht der Konstruktivismus in der qualitativen Sozialforschung für ein Stück Selbstaufklärung der Sozialwissenschaften über ihre Betei-ligung an der (Selbst)Beschreibung sozialer Wirklichkeit“ (Hirschauer 2011, S. 104).

Für Kelle und Breidenstein (1996) ergibt sich daraus, dass sich ForscherIn-nen u. a. fragen müssen „wie ,aufgeklärt‘ ist der Blick auf die eigeForscherIn-nen Kon-struktionen und wie werden diese transparent gemacht?“ (ebd., S. 49). Des Weiteren spricht (Kelle 2004) analog zu der bereits von mir als positiv her-vorgehobenen ethnomethodologischen Indifferenz auch im Hinblick auf ethnographische Forschung von einer notwendigen „normativen Enthalt-samkeit“ als Prämisse, denn es kann und sollte im Forschungsprozess keines-falls darum gehen „die untersuchten Kulturen zu bewerten, vielmehr ist die ethnographische Einstellung in der Regel als eine deskriptive und analytische Forschungshaltung charakterisiert“ (ebd., S. 637).

Neben den genannten kritischen Anmerkungen ist die Ethnographie wie jeglicher Forschungszugang perspektivisch begrenzt. So formuliert Kelle (2009) den Umgang mit der Komplexität von Wirklichkeit als eine wesentli-che Herausforderung qualitativer Forschung und beschreibt die Notwendig-keit von Komplexitätsbearbeitungen in Forschungsprozessen. Kelle sieht das

108 Kelle und Breidenstein verweisen in ihrem Artikel darauf, dass innerhalb der Ethnographie-forschung (vgl. Clifford/Markus 1986) und der KindheitsEthnographie-forschung (vgl. Prout/James 1990a) die „Reflexionsdebatte“ im englischsprachigen Raum weit „artikulierter geführt“

werde (vgl. Kelle/Breidenstein 1996, S. 49).

Bestreben qualitativer Forschungsverfahren darin, „der Komplexität ihrer Gegenstände methodisch gerecht zu werden, […] diese nicht abstrakt [zu]

konstatieren, sondern konkret [zu] veranschaulichen“ (ebd., S. 101, Herv.

i. O.). Die Wahl der teilnehmenden Beobachtung als ethnographische Stan-dardmethode hat laut Kelle zur Folge, „dass bestimmte Komplexitätsproduk-tionen und -redukKomplexitätsproduk-tionen gegenüber anderen vorgezogen werden“ (ebd., S. 111). Aufgrund des spezifischen Erkenntnis- bzw. Forschungsinteresses wird beispielsweise die Aufmerksamkeitsrichtung der beobachtenden Person bereits im Vorfeld der Beobachtung eingegrenzt. Helga Kelle spricht hier von einer ersten methodischen Form der Komplexitätsreduktion:

„Wird über diese Selektionen die Komplexität des Beobachteten redu-ziert, ist das Feld wieder offen für Komplexitätsproduktionen in Bezug auf die selektiven Interessen. Die Schwierigkeit liegt allerdings darin, dass solche Selektionskriterien eine Orientierung, aber keine formalisier-bare Systematik bieten können, denn bei ethnographischer Forschung ist nicht vorab entscheidbar, was im Feld wichtig ist und wie Situationen beschaffen sind, die die spezifischen Interaktionen enthalten“ (ebd., S. 112).

Hieran schließen bei der Verschriftlichung des Beobachteten weitere Kom-plexitätsproduktionen bzw. -reduktionen an. Kelle sieht in diesem Zusam-menhang neben verschiedenen eingesetzten Medien wie bspw. Ton- oder Videoaufnahmen auch Relevanzen die Subjektivität der beobachtenden Per-son betreffend. Alles in allem ist die Ethnographie folglich durch Komplexi-tätsreduktionen und -produktionen notwendigerweise begrenzt. Werden diese offengelegt, ist dies kein Mangel, sondern letztlich nur eine Konturierung des spezifischen Zugangs (vgl. Abschnitt D). So betont Kelle (2009) beispiels-weise auch für die Rolle der Subjektivität von Forschenden eine personenab-hängige Kontingenz von Beschreibungen bzw. Darstellung von beobachteten Situationen, sieht diese aber nicht unbedingt als eine problematische Begren-zung des Zugangs:

„Der ethnographischen Forschung ist die Subjektivität der Beobachteten kein Mangel, sondern sie begreift Forscherinnen als Prozessoren der Forschung, die analog zu den Teilnehmerinnen im Feld subjektiven Sinn produzieren und zur Selbstreflexion fähig sind“ (ebd., S. 113).

Da es sich bei der Subjektivität von Forschenden um einen wesentlichen, zu reflektierenden Aspekt handelt, der bisher meines Erachtens zu wenig Be-rücksichtigung erfährt, habe ich dieser methodologisch-methodischen Her-ausforderung in meiner Dissertationsschrift einen eigenen Unterpunkt ge-widmet, in dem ich die Rolle meiner Subjektivität im Forschungsprozess an konkreten Materialbeispielen aus meiner empirischen Studie reflektiere (vgl.

Abschnitt B.II.2.2.). Zuvor steht allerdings zunächst mein spezifisches Aus-wertungsvorgehen im Fokus der Ausführungen.

5. Die Auswertungsschritte der Studie: Kodierung,