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Die Auswertungsschritte der Studie: Kodierung, Kategorisierung und Sequenzanalyse

rekonstruktiver Forschung und methodisches Vorgehen der ethnographischen Studie

I. Qualitativ-rekonstruktive Forschung – Zielrichtungen, Methoden und Vorgehen der

5. Die Auswertungsschritte der Studie: Kodierung, Kategorisierung und Sequenzanalyse

Kelle (2009) spricht im Kontext von qualitativer Forschung von zwei grund-legenden Auswertungsstrategien. Zum einen verweist sie auf die Kodierung des Datenmaterials mit dem Ziel einer Kategorisierung, Typisierung oder gar Theoriebildung, wie es beispielsweise im Rahmen der Grounded Theory üblich ist (vgl. auch Strauss 1991, Strauss/Corbin 1996). Zum anderen be-nennt sie „sequentielle Detailanalysen“ bzw. „Zeile-für-Zeile-Interpretatio-nen“ mit Fallstrukturrekonstruktionen als Ziel (vgl. auch Bergmann 1988, Kruse et al. 2011). Kelle (2009) konstatiert, dass „[d]ie Entscheidung für eine Analyse auf der Basis von Kodierungen […] auch wieder eine Präferenz für bestimmte Komplexitätsbearbeitungen gegenüber anderen“ bedeutet, nämlich eine Präferenz für die „Analyse von zentralen Mustern kultureller Praktiken gegenüber der situationsspezifischen Interpretation von Einzelfällen“ (ebd., S. 114). Als Folge der regelmäßigen Feldaufenthalte im Laufe der vierzehn-monatigen Erhebungsphase ergaben sich etwas mehr als 100 Seiten Be-obachtungsprotokolle sowie über 30 Stunden Videomaterial. Wie in qualita-tiven und besonders in ethnographischen Forschungsprojekten derzeit gängig, wurden auch hier beide Auswertungsstrategien kombiniert angewandt, um das umfangreiche Datenmaterial auszuwerten. Entsprechend dem für qualita-tive Forschung leitenden Prinzip Zirkularität wurden parallel zu den Erhe-bungen zunächst erste Ausschnitte aus den Beobachtungsprotokollen sowie einzelne Videoszenen transkribiert und analysiert. Gerade die Gelegenheit, anhand der Videotranskriptionen sprachliche Interaktionen detailliert wieder-geben und der Analyse zugänglich machen zu können, bot neben den Be-obachtungsprotokollen eine wertvolle Datenbasis. Dabei dienten die Video-transkripte dazu, die Beobachtungsprotokolle zu ergänzen und zu verdichten, d.h. die videobasierten Transkriptionen sprachlicher Interaktionen wurden in die Beobachtungsprotokolle integriert, die dann letztlich den Schwerpunkt des auszuwertenden Datenkorpus bildeten.

Des Weiteren erstellte ich zu allen Videomaterialen inhaltliche Zusam-menfassungen, so dass mittels der Software MAXQDA für qualitative Daten-analysen das gesamte Material bestehend aus Beobachtungsprotokollen, Videotransskripten und Videozusammenfassungen während der Erhebungs-phase nach und nach sukzessive ergänzt, organisiert und aufbereitet wurde.

Mit Hilfe dieser Auswertungssoftware erfolgten entsprechend der von Kelle (2009) erstgenannten Strategie der Kodierung erste textnahe

Kategorisierun-gen. In Anlehnung109 an die Grounded Theory nach Strauss und Corbin (1996) wurde das Material erst offen kodiert, d.h. zahlreiche textnahe Kate-gorien, sogenannte „in-vivo-Kodes“ (Flick 1998, S. 198, Flick 2010b, S. 391) wurden gebildet. Kodierung wird in der Grounded Theory verstanden als:

„die Vorgehensweisen […], durch die die Daten aufgebrochen, konzep-tualisiert und auf neue Art zusammengesetzt werden. Es ist der zentrale Prozeß, durch den aus den Daten Theorien entwickelt werden“

(Strauss/Corbin 1996, S. 39).

Das offene Kodieren steht für einen „Analyseteil, der sich besonders auf das Benennen und Kategorisieren der Phänomene mittels einer einhergehenden Untersuchung der Daten bezieht“ (ebd., S. 44). Zu diesem Zweck wurde das gesamte Datenmaterial in das Programm MAXQDA eingepflegt, sukzessive vollständig durchgearbeitet und mit den unterschiedlichsten Kodierungen versehen. Im Sinne der Grounded Theory waren dabei „[z]wei analytische Verfahren“ wesentlich, zum einen das „Anstellen von Vergleichen“, zum anderen das „Stellen von Fragen“ (Strauss/Corbin 1996, S. 44, Herv. i. O.).

Beispielhafte Fragen lauteten hier u.a.: Worum geht es hier? Was passiert hier eigentlich?110 Durch das Vergleichen und Fragenstellen wurden somit nach und nach ähnliche Muster herausgefiltert. Dabei wird „[d]er Prozeß des Gruppierens der Konzepte, die zu demselben Phänomen zu gehören scheinen, […] Kategorisieren genannt“ (ebd., S. 47, Herv. i. O.).

„Das Aufdecken, Freilegen oder Kontextualisieren der enthaltenen Aus-sagen etc. führt in der Regel zu einer Vermehrung des Textmaterials – zu kurzen Passagen des Ursprungstextes werden seitenlange Interpretatio-nen geschrieben. Die andere Strategie zielt auf die Reduktion der Ur-sprungstexte durch Zusammenfassung, Kategorisierung etc. […] Insge-samt lassen sich als grundsätzliche Strategien im Umgang mit dem Text die Kodierung von Material mit dem Ziel der Kategorisierung und/oder Theoriebildung von der […] mehr oder minder streng sequenziellen Analyse mit dem Ziel der Rekonstruktion der Fallstruktur unterscheiden“

(Flick 2010b, S. 387).

Laut Flick (2010b) ist der Prozess der Kodierung geprägt von einem „ständi-gen Vergleich zwischen Phänomenen, Fällen, Begriffen etc. und die

Formu-109 In Anlehnung an Strauss und Corbin (1996) bedeutet, dass das sehr umfangreiche Verfah-ren der Grounded Theory aus forschungspraktischen Gründen in Reinform in der Regel nicht angewendet werden kann. In der vorliegenden Studie dienten einzelne Kodierungs-schritte der Grounded Theory als Rahmen für die Analyse.

110 Hier zeigt sich zwischen der Grounded Theory und der Ethnographie eine deutliche Über-schneidung, wenn Clifford Geertz die leitende Frage in ethnographischen Studien folgen-dermaßen formuliert: What the hell is going on here? (vgl. Geertz 1983).

lierung von Fragen an den Text“ gleicht einem „Prozess der Abstraktion“

(ebd., S. 388):

„Dabei werden dem empirischen Material Begriffe bzw. Kodes zugeord-net, die zunächst möglichst nahe am Text und später immer abstrakter formuliert sein sollen“ (ebd.).

Parallel zu fortlaufenden Kodierungen und Kategorisierungen wurde das vorstrukturierte Material mit einem sequenzanalytischen Vorgehen weiter aufbereitet, wie es u. a. in der Konversationsanalyse (vgl. Bergmann 1988), in der Objektiven Hermeneutik (vgl. Wernet 2000) bzw. im integrativen Basis-verfahren (vgl. Kruse et al. 2011, vgl. Kruse 2014) üblich ist.111 Eine Orientierung für die Auswahl der Sequenzen bot dabei zunächst die themati-sche Relevanz im Hinblick auf die Forschungsfrage nach den Prozessen der Geschlechterdifferenzierung im Alltag der Kindertageseinrichtung. Bei der Durchführung der Sequenzanalysen orientierte ich mich an fünf zentralen Regeln der Sequenzanalyse, die Behrend und Ludwig-Mayerhofer (2006) auf Basis der Ausführungen von Wernet (2006) zusammengestellt haben: Kon-textfreiheit, Wörtlichkeit, Sequentialität, Extensität und Sparsamkeit (vgl.

ebd., S. 3 f.).

Das erste Prinzip der Kontextfreiheit bezeichnet die analytische Anforde-rung „vom Wissen um den Kontext, aus dem eine ÄußeAnforde-rung stammt, zu abs-trahieren, mit dem Ziel, gedankenexperimentell mögliche Kontexte der Äu-ßerung zu entwerfen“ (ebd.). Das Prinzip der Wörtlichkeit bezeichnet die Vorgehensweise, die vorliegenden Datentexte trotz etwaiger Widersprüch-lichkeiten genauso wie sie sind als Auswertungsgrundlage zu nehmen. Das Prinzip der Sequentialität besagt, dass „[d]ie Analyse … in der Regel mit der ersten Äußerung eines Interaktions- oder Interviewsegments“ beginnt und zudem „für die Interpretation […] unter keinen Umständen Äußerungen herangezogen werden, die auf die erste Äußerung folgen“ (ebd., S. 4), um nicht möglichen Deutungsoptionen vorwegzugreifen. Dabei variiert je nach Umfang des Datenmaterials, ob Wort für Wort oder Satz für Satz sequenz-analytisch vorgegangen wird. Meine Sequenzanalysen erfolgten aufgrund der sehr großen Datenmenge jeweils Satz für Satz, ohne auf spätere Textstellen vorwegzugreifen, und wurden ausführlich schriftlich festgehalten. Mit der Größe des Datenkorpus hängt auch das vierte Prinzip der Sequenzanalyse

111 Innerhalb der vorliegenden Studie wurde sequenzanalytisch vorgegangen, ohne jedoch den methodisch strengen Anforderungen an die Datengrundlage und den Detaillierungsgrad der Analysen zu folgen, wie sie beispielsweise die ethnomethodologische Konversationsana-lyse, die Objektive Hermeneutik oder das integrative Basisverfahren nach Kruse et al.

(2011) formulieren. Denn ein strenges Einhalten der Verfahren ist in der Regel nur für eine quantitativ begrenzte Anzahl an Datenmaterialien (d.h. einzelne Interaktionssequenzen, einzelne Interviews) möglich.

zusammen, die Extensivität. Diese Regel besagt, dass „nur geringe Textmen-gen, diese aber höchst detailliert ausgewertet“ werden (ebd.). Das letzte Prin-zip ist das der Sparsamkeit, das besagt, dass „nur jene Deutungsmöglichkei-ten in Betracht gezogen werden, die vom Text ,erzwungen‘ werden“ (ebd.).

In Anlehnung an die genannten Prinzipien wurden zahlreiche Textstellen – zum Teil auch gemeinsam im Team, um dem Gütekriteriums der Intersubjek-tiven Nachvollziehbarkeit Genüge zu tun – sequenzanalytisch aufbereitet und auf diese Weise zahlreiche Deutungshypothesen generiert.

Auf Basis der ausführlichen Sequenzanalysen und den Kategorisierungen wurden im Sinne einer komparativen Analyse (vgl. Strauss/Corbin 1996) dann in einem nächsten Schritt weitere Materialsequenzen ausgewählt, die sich mit ähnlichen Themen befassten und ebenfalls zunächst sequenzanaly-tisch aufbereitet wurden. Die unterschiedlichen Materialsequenzen wurden dann mithilfe der detaillierten Sequenzanalysen im Hinblick auf Gemeinsam-keiten und Unterschiede kontrastiert, bis die unter Abschnitt C kondensierten Muster herausgearbeitet und verdichtet waren. Die vorläufigen Analyseer-gebnisse wurden dann wiederholt und in regelmäßigen Abständen in Kollo-quien präsentiert, diskutiert und anschließend weiter bearbeitet. Des Weiteren wurden einzelne Teilergebnisse im Rahmen von Methodenschulen sowie auf Tagungen präsentiert und unter verschiedenen Perspektiven zur Diskussion gestellt.

Im Kontext des bereits genannten Paradigmenwechsels „vom Was zum Wie“ sozialkonstruktivistisch informierter bzw. ethnomethodologisch orien-tierter Forschung machen Kruse et al. (2011) auf eine notwendige Unter-scheidung von Analyse und Interpretation im Forschungsprozess aufmerk-sam:

„Nimmt man ernst, dass Wirklichkeit stets sprachlich-kommunikativ konstruierte Wirklichkeit ist und nur als ,Vollzugswirklichkeit‘ (Garfin-kel 1973) existiert, ist es die Pflicht des Interpreten bzw. der Interpretin, zunächst diesen sprachlich-kommunikativen Vollzug von Wirklichkeit, also das Wie, umfassend zu beschreiben. Erst dann kann interpretiert werden, was damit an Bedeutung konstruiert worden ist. Jede rekon-struktive Auswertung beginnt somit mit einer deskriptiven Analyse, die erst zum Schluss in eine interpretative Schließung mündet. Dies macht notwendig, ‚Analyse‘ und ‚Interpretation‘ als unterschiedliche Dimensi-onen bzw. Phasen im Auswertungsprozess zu unterscheiden“ (ebd., S. 42).

Dabei definieren die Autoren den „gesamten rekonstruktiven Auswertungs-prozess“ als Analyse, das Ergebnis dieses Auswertungsprozesses, d.h. die

Deutungen bzw. jeweiligen Lesarten verstehen sie hingegen als die eigentli-che Interpretation:112

„Wir schlagen die Differenzierung vor, dass unter dem Begriff der

‚Analyse‘ der gesamte rekonstruktive Auswertungsprozess verstanden wird. Unter ‚Interpretation‘ wird das Ergebnis dieses rekonstruktiven Prozesses verstanden, wenn also die Analyse in eine Lesart, eine Deu-tung mündet“ (ebd.).

Dementsprechend lassen sich auch meine ausführlichen Auswertungen eintei-len, die allerdings bereits in sich diesem Zweischritt folgten. So habe ich meine Sequenzanalysen zunächst im Sinne einer Reflektierenden Analyse ausgerichtet, die in eine Gesamt-Interpretation in die von Kruse et al. (2011) benannte „interpretative Schließung“ mündete (ebd., S. 42). Im Rahmen mei-nes Auswertungsprozesses erfolgten analog dem zirkulären Vorgehen unter-schiedliche Phasen von Analyse und Interpretation, da jeweils auf Ebene einzelner Sequenzanalysen beide Phasen erfolgten, aber des Weiteren auch auf Ebene der Fallkontrastierungen und der komparativen Analyse beide Phasen notwendig waren.

Indem beide Auswertungsstrategien, d.h. sowohl eine Kodierung und Kategorisierung des Datenmaterials als auch detaillierte Sequenzanalysen kombiniert wurden, konnten die jeweiligen Vorteile der unterschiedlichen Strategien verknüpft werden. Demnach wurden auf Basis des umfangreichen Datenmaterials sowohl zentrale Muster kultureller Praktiken herausgearbeitet als auch besonders prägnante Einzelfälle berücksichtigt, die ich unter Ab-schnitt C ausführen werde.

112 In diesem Zusammenhang weisen Kruse et al. (2011) auch darauf hin, dass eine solche Unterscheidung insofern sinnvoll sei, da in der gängigen Methodenliteratur Prozesse der Deskription und Interpretation bisher häufig zu unspezifisch differenziert würden (ebd., S. 42).

II. Der Zugang zum Feld: Die