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Den Körper verfluchen – Formeln und narrative Fortschreibungen

Im Dokument Frankfurt /New York (Seite 184-197)

Christian Jaser

2. Den Körper verfluchen – Formeln und narrative Fortschreibungen

Zu dieser amplifikatorischen Logik einer ubiquitären Gefährdung des Ex-kommunizierten gehörten auch Formeln, die den Körper und seine Glieder einzeln verfluchen. Wie in anderen Registern der spirituellen Gewaltspra-che griffen die Kompilatoren der Exkommunikationsformulare auch hier auf eine eine Stelle im Buch Deuteronomium zurück: »Von der Sohle bis zum Scheitel bist du krank.«32 Das »a planta pedis usque ad verticem« geriet im Kontext der rituellen Exkommunikation nicht nur zum Sammelfluch, der die im Deuteronomium 28 einzeln genannten Krankheiten – die Pest, Ge-schwüre, Schwindsucht, Fieber, Beulen, Krätze, Grind – generalisierend zu-sammenfasste. Vielmehr bildete es auch den gedanklichen Ausgangspunkt für eine anatomisch organisierte Körper-Kränkung im Modus der Sprache, für eine systematische Auflistung von Sinnesorganen, Gliedmaßen, Organen, so dass von Kopf bis Fuß jedes Körperteil einzeln verflucht und einer sugges-tiven Projektion von Schmerzen und physischer Dysfunktionalität ausgelie-fert wird. So heißt es etwa in einem um 1000 entstandenen Formular des normannischen Klosters Fécamp:

Verflucht seien ihre Körper. Verflucht seien sie im Kopf und im Hirn. Verflucht seien sie in ihren Augen und in ihrer Stirn. Verflucht seien sie in ihren Ohren und Nasen.

Verflucht seien sie in Mund und Kehle. Verflucht seien sie in ihrer Brust und in ihrem Herzen. Verflucht seien sie in ihrem Bauch. Verflucht seien sie in ihrem Schenkel.

Verflucht seien sie in ihren Händen und Füßen und in allen Gliedern ihres Körpers.33 Noch umfassendere Fluchformeln dieser Art weist ein im 12. Jahrhundert aufgezeichnetes Formular aus der englischen Abtei Abingdon auf:

Verflucht seien sie in ihren Köpfen, Augen, Ohren, Nasen, Mündern und Zungen, in ihrer Kehle und im Hals. Verflucht seien sie in der Brust und im Herzen, im Bauch und im Rücken. Verflucht seien sie in ihren Eingeweiden, Oberschenkeln, Knien,

32 Deut. 28,35.

33 Exkommunikationsformular des Klosters Fécamp, Ende 10., Beginn des 11. Jahrhun-derts, abgedr. in Martène, Bd. 2, 1736, S. 911–912: »Maledicta sint corpora eorum. Ma-ledicti sint in capite et cerebro. MaMa-ledicti in oculis et fronte. MaMa-ledicti in auribus, et naribus. Maledicti in ore, et gutture. Maledicti in pectore, et corde. Maledicti in ven-tre. Maledicti in cruribus. Maledicti in manibus, et pedibus, et in omni compagine membrorum.«

Beinen. Verflucht seien sie in ihren Händen, Füßen, Knochen und ihrem Mark. Ver-flucht und exkommuniziert seien sie von der Sohle bis zum Scheitel.34

Solche körperbezogenen Verfluchungen tauchen noch in elf weiteren For-mularen des Überlieferungskorpus auf, meistens in lateinischer, aber auch in mittelfranzösischer und mittelschottischer Sprache – »I curse thare heid and all the haris of ther heid, I curse thare face, thare ene, thare mouth, thare neyse, thare tounge, thare teith, thare cragis, thare schulderis, thare breystis, thare hartis, thare stomokis«, heißt es etwa noch 1525 in Glasgow in einem Bannfluch gegen schottische Grenzräuber.35 Diese Formelarchitektur ist re-präsentativ für die Mehrzahl der anatomischen Fluchlitaneien, die eher ad-ditiv als paarweise-kontrastiv organisiert sind und über den Modus der Ku-mulation die Auslieferung des ganzen Körpers an die spirituelle Gewalt zur

34 Exkommunikationsformular der Abtei Abingdon, 12. Jahrhundert, Paris, Bibliothèque Nationale, ms. lat. 1792, fol. 191v–192r: »Maledicti sint in capitibus in oculis in auribus in naribus in ore et lingua in gutture et in colla. Maledicti sint in pectore et in corde, in ventre et in dorso Maledicti sint in visceribus, in femoribus, in genibus et in cruribus.

Maledicti sint in manibus in pedibus in ossibus et medullis. Maledicti sint et excom-municati sint a planta pedis usque ad verticem capitis.« Vgl. dazu auch das wohl aus der Pfarrkirche St. Helen in Darley (Derbyshire) stammende Exkommunikationsformular aus dem 12. Jahrhundert (Cambridge, Corpus Christi College, ms. 422, S. 310): »Ma-ledictus sit in capite et in collo. Ma»Ma-ledictus sit in oculis et in naso et in auribus. Male-dictus sit in labiis et in dentibus. MaleMale-dictus sit in collo et in gutture. MaleMale-dictus sit in scapulis et in pectoribus. Maledictus sit in brachiis et in manibus. Maledictus sit in cor-de et in umbilico. Maledictus sit fructus uentris sui. Maledictus sit totum corpus eius.

Maledictus sit a vertice montium usque ad planctu pedis in terra […].«

35 Exkommunikationsformular gegen schottische Grenzräuber, 1525 (Donaldson/MacRae 1942, Nr. 229, S. 269): »I curse thare heid and all the haris of ther heid, I curse thare face, thare ene, thare mouth, thare neyse, thare tounge, thare teith, thare cragis, thare schulderis, thare breystis, thare hartis, thare stomokis, thare bakis, thare waymes, tha-re armys, thatha-re leggis, thatha-re handis, thatha-re feyt, and everilk part of thatha-re bodys fra the top of ther heides to the sole of ther feyt, before and behynde, within and without […].«

Siehe zu diesem Fall Jaser 2012. Vgl. das Exkommunikationsformular des Prämonstra-tenserstifts Cuissy (Aisne), 12. Jahrhundert, Laon, Bibliothèque Municipale, ms. 110, fol. 50r, abgedr. in: Beaulande 2006, S. 273–274: »Maudis soient il ou soumeron des tes-tes, maudis soient il es cervelet, maudis soient il es front, maudis soient il es eus, maudis soient il es sourcius, maudis soient il es cous, maudis soient il es oreilles, maudis soient il es narines, maudis soient il es lesfres, maudis soient il es dens, maudis soient il es langues, maudis soient il es joues, maudis soient il es gointrons, maudis soient il es pis, maudis soient il es espaules, maudis soient il es bras, maudis soient il es dois, maudis soient il es ongles, maudis soient il es mameles, maudis soient il es costes, maudis soient il ou ven-tres, maudis soient il es entrailes, maudis soient il es boudines, maudis soient il es rains, maudis soient il es cuisses, maudis soient il es piés, maudis soient il de la plante des piés dusques au soumeron de la teste.«

Geltung bringen – in deutlicher Analogie zu frühmittelalterlichen Gebets-praktiken, die den einzelnen Körpergliedern sowie ihren Funktionen galten und deren Sünden bekannten.36 Dass eine Verfluchung dabei neben Krank-heiten37 – »[die Dreifaltigkeit] bringe über sie […] die schlimmsten Krank-heiten«, ist in einem Genter Formular aus dem 14. Jahrhundert zu lesen38 – vor allem auf die dauerhafte Beeinträchtigung sämtlicher Körperfunktionen abhob, geht besonders anschaulich aus dem Exkommunikationsformular des normannischen Klosters Lyre hervor: »Ihre Augen seien blind, ihre Oh-ren seien taub, ihr Mund verstumme, ihre Zunge klebe an ihrem Rachen, weder sollen ihre Hände tasten noch ihre Füße laufen. Verflucht seien alle ihre Körperteile.«39

Auch das erste überlieferte Exkommunikationsformular, das im Juli 900 in Reims gegen den Bischofsmörder Winemar und dessen Komplizen verle-sen wurde, enthielt einen herablasverle-senden Angriff auf desverle-sen Körper, inklu-sive eines Verweises auf das Schicksal des »meistverfluchten Ketzers«40 der Spätantike, Arius: »Seine Eingeweide sollen sich in die Latrine ergießen, wie es dem treulosen und unglücklichen Arius erging.«41 Die Reimser Historio-graphie nahm nicht zuletzt diese eminent invektive Fluchformel zum An-lass, um das weitere Schicksal des exkommunizierten Winemar im Motiv der körperlichen Entstellung zu entfalten, gleichsam im Sinne einer invektiven

»Anschlusskommunikation«.42 So liest man etwa in der zwischen 948 und 952 entstandenen »Geschichte der Reimser Kirche« (Historia Remensis Eccle-siae) Flodoards von Reims:

Er wurde daraufhin von Gott mit einer unheilbaren Wunde geschlagen, so dass sein Fleisch verfaulte, aus seinem Körper blutiger Eiter ausdrang und er lebend von 36 Siehe dazu Liebermann 1903, S. 435 (Excommunicatio IV, Anm. g).

37 Zur Krankheit als Fluchmotiv vgl. zum Beispiel das aus der Genter Abtei St. Peter stam-mende Exkommunikationsformular des 14. Jahrhunderts (Brüssel, Bibliothèque Royale, ms. 1505–1506, fol. 49v–51r): »Augeat super eos plagas magnas et infirmitates pessimas.«

38 Siehe das Quellenzitat in der vorigen Anm.

39 Exkommunikationsformulat aus Lyre, 2. Hälfte des 12. Jahrhundert, Rouen, Biblio-thèque Municipale, ms. A 425, fol. 2v, abgedr. in Martène, Bd. 2, 1736, S. 911: »Ocu-li eorum caeci fiant, aures eorum surdescant, os eorum obmutescat, »Ocu-lingua faucibus adhae reat, manus non palpent, nec pedes illorum ambulent.«

40 Loofs 1897, Sp. 7.

41 Exkommunikation der Mörder Erzbischofs Fulco von Reims, 6. Juli 900: Berlin, Stif-tung Preußischer Kulturbesitz, Staatsbibliothek Berlin, Phill. 1765, fol. 95r–95v: »Intes-tina in secessum fundant, sicut perfidus et infelix Arrius.«

42 Vgl. hierzu Ellerbrock/Koch/Müller-Mall/Münkler/Scharloth/Schrage/Schwerhoff 2017, S. 10f.

mern zerfressen wurde; niemand konnte ihm aufgrund des unerträglichen Gestanks näher treten, so dass er sein elendiges Leben mit einem elenden Tod beendete.43 Das Faulige, Eitrige, Blutige, von Würmern Befallene – wir haben es mit je-nen optischen, taktilen und olfaktorischen »metaphors of sensation«44 zu tun, die William Ian Miller als allgemeine Kennzeichen einer Rhetorik des Ekels festgehalten hat und die seit der patristischen Zeit zum Kernbestand der kirchlichen Feind- und Häretikerbeschreibungen gehörten.45 Noch spe-zifischer mit den Wirkungen der kirchlichen Exkommunikation gleichzuset-zen ist der »Gestanksradius« der Wunde, der jede Annäherung ausschließt und damit gleichsam den »Bannkreis« der spirituellen und sozialen Margi-nalisierung beschreibt.

Rund fünfzig Jahre nach Flodoard baute Richer von Saint-Remi, des-sen Historien generell ein Interesse für medizinische Details offenbaren46, das Thema der grotesken Körperlichkeit Winemars zu einer umfassenden klinischen Anamnese aus. Nachdem Winemar mit dem furchterregenden Anathem belegt worden war, sei er diesem Geschichtswerk zufolge

nach kurzer Zeit krank und von Gott mit der unheilbaren Wassersucht geschlagen [worden]. Sein Bauch blähte sich auf, während er außen von einem langsamen Feu-er, innen von einem schrecklichen Fieber ergriffen wurde. Auch seine Füße wurden von einer großen Geschwulst nicht verschont. Sein Schambereich war voller Würmer, seine Füße schwollen an und sahen teigig aus, sein Atem roch faulig. Seine Eingewei-de flossen nach und nach aus seinem Darm, und ihn ergriff ein unerträglicher Durst.

[…] Niemand konnte seine Anwesenheit aushalten, und jedem war er verhasst. Ent-sprechend hielten seine Freunde und seine Familie Abstand von ihm, denn von sei-nem Körper ging ein derart unerträglicher Gestank aus, so dass nicht einmal Ärzte ihn behandeln wollten. Geschwächt von all diesen Dingen, jeglicher christlicher Ge-meinschaft beraubt und zum Teil verzehrt von Würmern, wurde dieser schändliche und sakrilegische Mensch aus dem Leben gerissen.47

43 Flodoard von Reims 1998, lib. IV, c. 10, S. 403: »Denique Winemarus, eius interemptor, ab episcopis regni Francorum cum suis complicibus excommunicatus et anathematiza-tus insuper insanabili a deo percussus est vulnere ita, ut computrescentibus carnibus et exundante sanie vivus devoraretur a vermibus et, dum propter immanitatem fetoris nul-lus ad eum accedere posset, miserrimam vitam miserabili decessu finivit.«

44 Miller 1997, S. 218.

45 Vgl. als patristisches Vorbild Laktanz 2003, c. 33,1/6–8/10, S. 176/178/180.

46 Barthélemy 2004, S. 25.

47 Richer von Saint-Remi, 2000, lib I, c. 18, S. 55–56: »Qui [das heißt Winemar, Anm. d.

Verf.] in brevi deficiens, insanabili ydropis morbo a deo percussus est. Ventre itaque tur-gidus, exterius quidem lento igne, interius vero immani incendio urebatur. Ingens tumor pedum non deerat. Verenda vermibus scaturiebant. Crura tumentia ac lucida, anelitus

Die bereits in den Exkommunikationsformularen angelegte Gewaltsemantik, die dem Körper des Gebannten Dysfunktionalität, ekelerregende Krankheit und Tod zurechnete, wurde dementsprechend auch in der Historiographie fort-geschrieben, um eine abschreckende Wirkung zu erzielen. Die Formularspra-che wie auch ihre chronikalisFormularspra-che »Anschlusskommunikation« zeigt unmissver-ständlich, dass der Effekt spiritueller Gewaltakte im Diesseits und Jenseits nur mit einem physischen Beschreibungskanon, mit einer Motivik des Schmerzes und des Ekels, konkretisiert werden konnte.48 Hiervon legen auch spätere Pre-digtexempla Zeugnis ab, die die Unheilswirkung des Kirchenbanns ebenfalls am liminalen Körper des Exkommunizierten exemplifizieren: Schwere Krank-heiten und ständige Unglücksfälle bedrückten den hartnäckig Gebannten, weiß Stephan von Bourbon im 13. Jahrhundert, andere berichten von einem erdrosselten Verfluchten oder von einem fettleibigen Wucherer, dessen hämi-sche Ignoranz gegenüber dem Bann mit einem plötzlichen Tod bestraft wurde.49 Da verstorbene Exkommunizierte überdies meistens irregulär bestattet wurden, galten sie in der Exempelliteratur als prädestinierte Wiedergänger, deren toter Körper mit Unruhe und Unverweslichkeit in Verbindung ge-bracht wurde und entweder demütig um Absolution bat oder gefährlich als posthumer ›Stalker‹ sein Unwesen unter den Lebenden trieb.50 Ein beson-ders blutrünstiges Beispiel liefert das schottische Chronicon de Lanercost aus der zweiten Halfte des 14. Jahrhunderts: Ein Mönch, der im Kloster einige sakrilegische Taten begangen hatte und daraufhin in der Exkommunikati-on verstorben war, terrorisierte zunächst seine früheren Mitbrüder, bevor er das Haus eines gewissen Ritters belästigte. Mit seinem »hässlichen, schweren und berührbaren« Körper und bekleidet im Habit eines schwarzen Mönches, saß dieser filius tenebrarum nach Art der skandinavischen Wiedergängerpro-tagonisten »auf den Dächern von Häusern und Scheunen«, verletzte einige

fetidus. Viscera etiam paulatim per colum diffluebant. Super hec omnia sitim intolerabi-lem sustinebat. Appetitum vero comedendi aliquanto habebat, sed cibi illati fastidium in-ferebant. Insomnietatem iugem patiebatur. Omnibusque factus intolerabilis, omni<bus>

habitus est <odio>. Itaque amici atque domestici ab eo dimoti sunt, multo eius corporis fetore confecti, in tantum ut nullus medicorum, saltem medendi causa ad eum accedere posset. Quibus omnibus dissolutus, omni christianitatis communione privatus, a vermi-bus ex parte iam consumptus, flagiciosus ac sacrilegus ab hac vita pulsus est.«

48 Vgl. hierzu Böhme 2000.

49 Lecoy de la Marche 1877, c. 302, S. 254–255. Vgl. Jaser 2013, S. 322–334; Schmitt 1996, S. 159–165; James 1922.

50 Jaser 2013, S. 347–359. Vgl. Watkins 2002; Angenendt 1994; Angenendt 1991; Murray 1991, S. 21; Caciola 1996.

kampfbereite Männer und tötete schließlich den erstgeborenen Sohn des Ritters, was den monastischen Autor zu einer unmissverständlichen Schluss-folgerung veranlasste: »Der Teufel erhält nur über denjenigen Gewalt, der wie ein Schwein gelebt hat [porci more vixerit]«.51 Auch im Jenseits war für den exkommunizierten Körper ein besonders exponiertes Strafregister vor-gesehen: In der zwischen 1332 und 1342 entstandenen Höllendarstellung von Buonamico Buffalmacco auf dem Pisaner Camposanto ist es zwangsläu-fig ein namenloser scomunichato, dessen nackter, wehrloser Körper von ei-nem Höllendiener in den weit geöffneten, mit Raubtierzähnen bewaffneten Schlund geschleudert wird – eine Inkarnation aller jenseitigen Höllenstrafen, die ein hartnäckiger Exkommunizierter zwingend zu erwarten hatte.52

3. »The Popes Dreadful Curse« – das lange Nachleben einer spirituellen Körper-Kränkung

Zum Abschluss sei nochmals an den Ausgangspunkt unserer Überlegungen zurückgekehrt, zu Dr. Slops Verlesung eines lateinischen Exkommunikati-onsformulars aus dem sogenannten Textus Roffensis, einer Sammlung von Rechts- und Urkundentexten der Kathedrale von Rochester, die zwischen 1122 und 1124 unter Bischof Ernulf von Rochester kompiliert wurde.53 Aus dessen umfangreicher Fluchlitanei stechen nochmals 36 Formeln heraus, die den Körper des Betroffenen in all seine anatomischen Einzelteile zerlegen und das spirituelle Gefährdungsmoment damit auf die Totalität der äußeren Gliedmaßen, physischen Qualitäten und inneren Organe projizieren:

Verflucht sei er in allen Kräften des Körpers. Verflucht sei er innen und außen. Ver-flucht sei er in den Haaren; verVer-flucht sei er im Gehirn. VerVer-flucht sei er auf dem Scheitel, den Schläfen, auf der Stirn, in den Ohren, an den Augenbrauen, in den Augen, Wangen, Kinnbacken, Nasenlöchern, Vorder- und Backenzähnen, Lippen, in der Kehle, den Schultern, Ellbogen, Armen, Händen, Fingern, in der Brust, im Herzen und in allen Eingeweiden, die der Bauch enthält, in den Nieren, im Becken, im Oberschenkel, in den Genitalien, der Hüfte, den Knien, Beinen, Füßen,

51 Stevenson 1839, S. 163–164; Schmitt 1996, S. 165, 216; Lecouteux 1987, S. 122–145.

52 Wille 2002, S. 71; Baschet 1993, S. 300.

53 Vgl. Little 1993, S. 4; O’Brien/Bombi 2015.

gliedern und Fingernägeln. Verflucht sei er an allen Gelenken, vom Scheitel seines Hauptes bis zur Sohle des Fußes! Keine Gesundheit sei in ihm.54

Wie im Zuge einer verbalsuggestiven Vivisektion bemächtigt sich hier die geistliche Gewalt eines aus ihrer Sicht delinquenten Körpers, und zwar im Medium eines potentiell verletzenden und pathologisierenden Sprechmodus, der mit der Aussicht auf physische Schmerzen und Dysfunktionalität ope-riert.55 Hier tritt die mittelalterlich-kirchliche Version einer invektiven »hate speech« vor Augen, die allerdings, was Sprecherkompetenz, rituelle Rahmung und Formularinhalte anbelangt, hochautorisiert, ex officio und in Form eines verbindlichen Rechtsakts der kirchlichen potestas erfolgt. Dabei verkörperten die rituellen Akteure eine traditionell legitimierte und beanspruchte Fluch- und Exkommunikationsgewalt, die in actu der betroffenen Personen die Kontrolle über den eigenen Körper entzog und – im Falle anhaltender Ob-stinanz  – einer diesseitigen wie jenseitigen Unheilsperspektive anheimstell-te. Dabei wurde von den kirchlichen Akteuren zumindest metaphorisch die kirchliche Verfluchung mit physischer Gewaltanwendung gleichgestellt: »Wir durchbohren (die Betroffenen) mit dem Schwert des Anathems« – »anathe-matis gladio transfigimus« –, heißt es 977 in einem Formular aus Sens56, und nicht von ungefähr verglich Erzbischof Alfanus von Salerno zum Ende des 11. Jahrhunderts die auf Sprache und Gesten basierende Durchschlagskraft des Anathems mit den Legionen des römischen Weltreiches:

Welch Gewalt des Anathems! / Was auch immer Marius früher, / was auch immer Ju-lius [Caesar] / mit dem heftigsten Morden der Soldaten geleistet haben, / schaffst du mit der Sprache nur [quanta vis anathematis! / quidquid et Marius prius, / quodque Julius egerant / maxima nece miltitum, / voce tu modica facis].57

54 Exkommunikationsformular aus Rochester, 1122–1124, Maidstone, Kent County Ar-chives, DRc/R1, fol. 98r–98v, Liebermann 1903, S. 439–440: »Maledictus sit in totis viribus corporis! Maledictus sit interius et exterius. Maledictus sit in capillis! Maledictus sit in cerebro. Maledictus sit in vertice, in temporibus, in fronte, in auriculis, in super-ciliis, in oculis, in genis, in maxillis, in naribus, in dentibus mordacibus, in labris siue molibus, in labiis, in gutture, in humeris, in harmis, in brachiis, in manibus, in digitis, in pectore, in corde et in omnibus interioribus stomacho tenus, in renibus, in inguinibus, in in femore, in genitalibus, in coxis, in genibus, in cruribus, in pedibus, in articulis et in unguibus. Maledictus sit in totis compaginibus membrorum: a vertice capitis usque ad plantam pedis non sit in eo sanitas.«

55 Vgl. Butler 2006, S. 26–27.

56 Exkommunikationsformular von Sens, Juni-September 977, St. Petersburg, Nationalbi-bliothek, lat. 4° v.l. 35, fol. 105v–107r, abgedr. in d’Achery 1732, S. 320.

57 Alphanus von Salerno, Ad Hildebrandum Archidiaconum Romanum (Carme 22), in:

Lentini/Avagliano 1974, S. 156. Vgl. dazu Raby 1953, S. 236–249, bes. S. 247.

Noch Laurence Sternes Roman bietet ein satirisches Echo jener Phantom-schmerzen, die einen beim Hören dieser amplifizierten sprachlichen Ver-wundung überkommen kann: »Das ist ein trauriger Fluch«, »Gott soll uns bewahren« und »Mein Vater schüttelte den Kopf«, lauteten die Reaktionen, als Dr. Slop den Scheitel, den Oberschenkel und die Genitalien verfluchte.58

Der langfristige Nachhall dieses sehr besonderen Textzeugen der mittelal-terlichen ›Ecclesia maledicens‹ zeigt sich auch in der Überlieferungsgeschichte:

Im Jahr 1681, als eine Sukzessionskrise um einen katholischen Prätendenten auf die englische Krone aufflammte, wurde das Formular in einer englischen Übersetzung in London unter dem Titel The Popes Dreadfull Curse nachge-druckt.59 Damit wurde ein Text indigen-mittelalterlicher Provenienz nicht nur antipapalistisch aktualisiert und konfessionspolitisch aufgeladen, sondern auch als ein typisches Produkt einer aggressiven, auf Drohungen und Ein-schüchterung beruhenden römischen Papstkirche hingestellt. In der Konse-quenz heißt es in einem Nachwort zu dieser Ausgabe: »This Publication of this is to shew what is to be expected from the Pope, if he come to be Su-preme Head of the Church in this Nation.«60 Um die Thronansprüche des katholischen Prätendenten Charled Edward Stuart zu delegitimieren, wurde die englische Übersetzung des Formulartextes 1745 abermals in verschiede-nen Zeitschriften wie The Harleian Miscellany und Gentleman’s Magazine un-ter demselben Titel nachgedruckt.61 In dieser Stoßrichtung verwandelte sich ein Zeugnis der mittelalterlichen ›Ecclesia maledicens‹ in ein anstößiges, alte-ritär wahrgenommenes historisches Zitat, das seinerseits zur Herabwürdigung des konfessionellen Gegners, in diesem Fall der römisch-katholischen Kirche, genutzt werden konnte. In den Händen des anglikanischen und antikatholi-schen Landpfarrers Laurence Sterne, der das Rochester-Formular wohl durch die Nachdrucke von 1745 kennengelernt hatte, geriet der Text dann

Im Jahr 1681, als eine Sukzessionskrise um einen katholischen Prätendenten auf die englische Krone aufflammte, wurde das Formular in einer englischen Übersetzung in London unter dem Titel The Popes Dreadfull Curse nachge-druckt.59 Damit wurde ein Text indigen-mittelalterlicher Provenienz nicht nur antipapalistisch aktualisiert und konfessionspolitisch aufgeladen, sondern auch als ein typisches Produkt einer aggressiven, auf Drohungen und Ein-schüchterung beruhenden römischen Papstkirche hingestellt. In der Konse-quenz heißt es in einem Nachwort zu dieser Ausgabe: »This Publication of this is to shew what is to be expected from the Pope, if he come to be Su-preme Head of the Church in this Nation.«60 Um die Thronansprüche des katholischen Prätendenten Charled Edward Stuart zu delegitimieren, wurde die englische Übersetzung des Formulartextes 1745 abermals in verschiede-nen Zeitschriften wie The Harleian Miscellany und Gentleman’s Magazine un-ter demselben Titel nachgedruckt.61 In dieser Stoßrichtung verwandelte sich ein Zeugnis der mittelalterlichen ›Ecclesia maledicens‹ in ein anstößiges, alte-ritär wahrgenommenes historisches Zitat, das seinerseits zur Herabwürdigung des konfessionellen Gegners, in diesem Fall der römisch-katholischen Kirche, genutzt werden konnte. In den Händen des anglikanischen und antikatholi-schen Landpfarrers Laurence Sterne, der das Rochester-Formular wohl durch die Nachdrucke von 1745 kennengelernt hatte, geriet der Text dann

Im Dokument Frankfurt /New York (Seite 184-197)