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Definition und theoretische Konzeption von Stresserleben

2.3 Prüfungsängstlichkeit – ein Risikofaktor für die Motivation

2.4.1 Definition und theoretische Konzeption von Stresserleben

In der Stressforschung existiert kein einheitliches Grundverständnis von Stress und Stress-erleben (Jerusalem, 1990). Ähnlich wie bei dem Begriff Motivation handelt es sich bei dem Begriff Stress also auch um ein abstraktes Konstrukt, unter dem verschiedene Erle-bens- und Verhaltensaspekte subsumiert werden. Auch wenn manche Forscher die Unein-deutigkeit des Konzepts kritisieren, sehen wieder andere Wissenschaftler gerade in der Abstraktheit des Begriffs einen großen Vorteil: „Als übergreifendes Konzept [trägt der Stressbegriff] zum Verständnis eines großen Bereiches von Phänomenen [bei], die die in-dividuelle Konfrontation mit Problemen des alltäglichen Lebens und deren Bewältigung begleiten“ (Jerusalem, 1990, S. 1). Zur Ordnung der vielfältigen theoretischen Konzeptio-nen werden heute in Anlehnung an eine ursprünglich von Laux (1983) vorgeschlagene Taxonomie drei theoretische Stresskonzeptionen unterschieden: 1. reaktionsbezogene, 2.

reiz- beziehungsweise situationsbezogene und 3. relationale beziehungsweise interaktio-nistische oder auch transaktionale Ansätze (z. B. Beyer & Lohaus, 2007; Jerusalem, 1990).

Während Vertreter der reaktionsbezogenen Stresskonzeptionen die in der Person ablaufen-den Prozesse, also die Stressreaktionen, in ablaufen-den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interes-ses stellen und Stress als abhängige Variable betrachten, fokussieren Vertreter der reizbe-zogenen Ansätze auf Stressauslöser, die Stressoren, und betrachten Stress somit als unab-hängige Variable. Das transaktionale Verständnis von Stress integriert die reaktions- und reizbezogenen Ansätze und berücksichtigt darüber hinaus die Person-Umwelt-Interaktion (Beyer & Lohaus, 2007; Schwarzer, 2000). Nachfolgend werden die wichtigsten Vertreter der drei Ansätze überblicksartig vorgestellt und das transaktionale Stressmodell von Laza-rus und Folkman (1984), das dem in dieser Arbeit verwendeten Stressverständnis zugrunde liegt, erläutert.

Reaktionsbezogene Stresskonzeption

Im Fokus der reaktionsbezogenen Stresskonzeptionen stehen die physiologischen Reaktio-nen in Folge von Anforderungen (Thaker & Verma, 2014). Stress wird definiert als ein

„psychophysischer Zustand, bei dem Abweichungen von der Homöostase vorliegen, die durch die verfügbaren, routinemäßigen Reaktionen nicht kompensiert werden können“

(Kaluza, 2011, S. 15). Dieses Verständnis geht auf den Arzt und Chemiker Selye (1936) zurück, der im Tierbereich die physiologischen Reaktionen auf bestimmte physikalische Reize wie Lärm, Hitze und Verletzungen empirisch untersucht und diese dann auch auf den Menschen übertragen hat (The American Institute of Stress, 2013). Stress ist hiernach

ein unspezifisches allgemeines Adaptionssyndrom (Taché & Selye, 1985), das unabhängig davon auftritt, ob es sich bei den Stressauslösern, in Folge derer der adaptive Prozess in Gang gesetzt wird, um positiv oder negativ besetzte Reize handelt (Beyer & Lohaus, 2007). Auf unterschiedlichste Reize reagiert der Mensch also mit einem einheitlichen, reiz-unspezifischen Muster an physiologischen Reaktionen: Unterstützt durch eine höhere Ak-tivität der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse kommt es zu einer ver-stärkten Kortisol- und Adrenalinausschüttung (Nater, Ditzen & Ehlert, 2011). Dadurch verbessern sich beispielsweise die Durchblutung sowie die Sauerstoffversorgung und die Herzfrequenz steigt an. Das Immunsystem wird kurzfristig gestärkt und die Schmerztole-ranz erhöht (Beyer & Lohaus, 2007; für eine ausführliche Darstellung der körperlichen Prozesse siehe auch Kaluza, 2011). Bei dem beschriebenen Adaptionssyndrom handelt es sich vermutlich um ein altes phylogenetisches Muster an Reaktionen, das den Körper da-rauf vorbereitet, in bedrohlichen Situationen optimal zu reagieren und für Flucht oder Kampf bereit zu sein. Die Stressreaktionen sind also zunächst einmal Schutzfaktoren, die bei der Bewältigung spontaner Belastungen helfen. Halten die Reaktionen jedoch aufgrund von dauerhaften Belastungen an und werden die Stressreaktionen nicht mehr regelmäßig von Phasen der Entspannung unterbrochen, verliert der Körper die Fähigkeit zur Selbstre-gulation des Aktivierungsniveaus, sodass er schließlich auch in minder belasteten Zeiten mit Stressreaktionen reagiert. Eine solche dauerhafte Stressreaktion des Körpers kann sich dann auch negativ auf die psychische und physische Gesundheit auswirken (Beyer & Lo-haus, 2007; Kaluza, 2011; siehe auch Abschnitt 2.4.3). Die Annahme über die Unspezifität der Stressreaktion ist inzwischen bereits widerlegt worden. So konnte nachgewiesen wer-den, dass sich Personen in ihren physiologischen Stressreaktionen durchaus unterscheiden und sich je nach mit dem Stressauslöser verbundener vorherrschender Emotion (z. B. Är-ger, Angst oder Hilflosigkeit) ganz spezifische – sozusagen emotions-typische – physiolo-gische Prozesse bestimmen lassen (Kaluza, 2011).

Reizbezogene Stresskonzeption

Vertreter der reizbezogenen Stressansätze untersuchen vor allem die Stressoren. Ein sol-ches reizbezogenes Stressverständnis liegt beispielsweise der Lebensereignisforschung zugrunde (Beyer & Lohaus, 2007). Hiernach werden kritische Lebensereignisse wie der Tod eines Angehörigen, Krankheit, Heirat, Geburt eines Kindes oder Umzug als Stressoren betrachtet. Diesen Ereignissen ist gemeinsam, dass sie ein hohes Ausmaß an Adaption er-fordern und zu psychischen und oder physischen Beeinträchtigungen führen können (Beyer

& Lohaus, 2007; Jerusalem, 1990; Kaluza, 2011). Die Beispiele Heirat und Geburt eines Kindes verdeutlichen, dass kritische Lebensereignisse nicht zwangsläufig negativ bewertet werden, sondern auch positiv bewertete Ereignisse einschneidende Veränderungen im Le-ben nach sich ziehen können. Holmes und Rahe (1967) haLe-ben die „Social Readjustment Scale“ entwickelt, die 43 solcher ‚live events‘ auflistet. Die kritischen Lebensereignisse wurden von den Autoren auf der Basis empirischer Befunde hinsichtlich ihres Schwere-grads gewichtet, sodass sich für jede Person ein Summenwert der derzeitigen Belastungen berechnen lässt. Der Ansatz wurde vielfach kritisiert, da er die interindividuellen Unter-schiede in der Anpassung auf solche kritischen Lebensereignisse unberücksichtigt lässt und nicht zwischen negativen und positiven Ereignissen unterscheidet (Jerusalem, 1990). Zu-dem belegen inzwischen empirische Untersuchungen zur Bedeutung von alltäglichen, klei-neren Schwierigkeiten und Freuden (‚daily hassles and uplifts‘), dass diese bessere Prä-diktoren für das psychische und körperliche Wohlbefinden darstellen als die aufgrund von kritischen Lebensereignissen ermittelte Gesamtbelastung (z. B. DeLongis, Coyne, Dakof, Folkman & Lazarus, 1982; Kanner, Coyne, Schaefer & Lazarus, 1981).10

Transaktionale Stresskonzeption

Die relationalen, interaktionistischen beziehungsweise transaktionalen Stressansätze fokus-sieren auf die Person-Umwelt-Interaktion und berücksichtigen auch die Ressourcen einer Person. Das bekannteste Modell ist das transaktionale Stressmodell von Lazarus und Folkman (1984). Dabei handelt es sich um ein übergreifendes Modell, das reiz- und reakti-onsbezogene Stressansätze vereint und diese um Bewertungsprozesse erweitert. Die Au-toren definieren Stress wie folgt: „Psychological stress is a particular relationship between the person and the environment that is appraised by the person as taxing or exceeding his or her resources and endangering his or her well-being” (Lazarus & Folkman, 1984, S. 19).

Stress entsteht also bei einem empfundenen Ungleichgewicht zwischen Anforderungen einer Situation und den Ressourcen einer Person (Klein-Heßling & Lohaus, 2012). Somit sind nicht mehr allein äußere Reize für das Stressgeschehen verantwortlich, sondern auch kognitive Bewertungen und Bewältigungskompetenzen der Person, die wiederum auf die Situation zurückwirken können (Beyer & Lohaus, 2007). Entscheidend sind dabei drei

10 Auch in der Arbeits- und Organisationspsychologie werden vorrangig reizbezogene Stresskonzeptionen verfolgt. Da diese in der vorliegenden Arbeit jedoch keine Rolle spielen, werden die arbeits- und organisationspsychologischen Stressansätze hier nicht näher erläutert. Ein Überblick über die Konzeptionen findet sich beispielsweise bei Ulich (2011), bei Frieling und Sonntag (1999) oder auch bei Rohmert und Rutenfranz (1975).

Formen von Bewertungsprozessen, die sogenannte primäre Bewertung, die sekundäre Be-wertung und die NeubeBe-wertung:

Bei der primären Bewertung wird eine Situation zunächst hinsichtlich ihrer subjektiven Bedeutsamkeit für das eigene Wohlbefinden bewertet. Die Bewertung kann dabei ange-nehm positiv, irrelevant oder stressrelevant ausfallen (Beyer & Lohaus, 2007; Jerusalem, 1990; Klein-Heßling & Lohaus, 2012; Lazarus & Folkman, 1984; Lohaus et al., 2007).

Anforderungen, für deren Bewältigung eindeutig ausreichend Ressourcen zur Verfügung stehen oder Ereignisse, die per se mit positiven Gefühlen verbunden sind, werden als an-genehm positiv bewertet. Ein Ereignis, das keinerlei Bedeutung für das Wohlergehen einer Person hat, wird als irrelevant eingeschätzt und kann Gleichgültigkeit auslösen. Werden eine Situation und deren erfolgreiche Bewältigung hingegen als persönlich bedeutsam er-lebt, handelt es sich um eine stressrelevante Einschätzung, die drei Ausprägungsformen annehmen kann: die Bewertung einer Situation als Herausforderung (1), als Bedrohung (2) oder als Verlust beziehungsweise Schädigung (3) (Lazarus & Folkman, 1984).11 Die An-kündigung einer Klassenarbeit kann beispielsweise als Herausforderung betrachtet werden und würde in diesem Fall als Chance wahrgenommen, die eigenen Fähigkeiten unter Be-weis stellen zu können. Sehr viel häufiger jedoch wird die Ankündigung einer Klassenar-beit als Bedrohung betrachtet und ein negativer Ausgang, beispielsweise eine schlechte Note, befürchtet (Beyer & Lohaus, 2007; Lohaus et al., 2007). Eine bereits eingetretene Beschädigung des Wohlbefindens, z. B. die Scheidung der Eltern, würde als Verlust inter-pretiert (Lohaus et al., 2007). In diesem Sinne beinhaltet die Bewertung eines Ereignisses als Herausforderung die Hoffnung auf einen positiven Situationsausgang und die Erwar-tung, hierfür die eigenen Bewältigungsfähigkeiten nutzen zu können. Auch eine Bedro-hungseinschätzung richtet sich in der Regel auf zukünftige Ereignisse, entsteht jedoch in Folge der Befürchtung eines negativen Ereignisausgangs und damit verbundenen antizi-pierten Verlusten.12 Anders als die Herausforderungs- und Bedrohungseinschätzungen be-inhaltet die Bewertung einer Situation als Verlust oder Schädigung bereits eingetretene beziehungsweise nicht mehr abwendbare Beeinträchtigungen (Lazarus & Folkman, 1984).

Zu beachten ist, dass Situationen mehrdeutig sein können und die stressbezogenen

Bewer-11 Lazarus und Folkman (1987) haben die drei Ausprägungsformen der stressrelevanten Situationseinschätzung später noch ergänzt um den Nutzen (‚benefit‘) und um Attributionsprozesse (‚information‘), die Auskunft über die vermuteten Ereignisursachen geben. Diese werden jedoch bei der Rezeption des Modells in der heutigen Literatur nur selten berück-sichtigt.

12 Eine ähnliche Unterscheidung findet sich auch bei Selye (1978), der zwischen positivem und negativem Stresserleben (Eustress und Distress) unterscheidet.

tungen einer Anforderung als Herausforderung, Bedrohung oder Verlust sich abwechseln oder gar überschneiden können (Jerusalem, 1990).

Wenn die primäre Bewertung stressrelevant ausfällt, erfolgt im Rahmen der sekundären Bewertung eine Einschätzung der zur Bewältigung der Situation vorhandenen Ressourcen (Lazarus, 1999; Lazarus & Folkman, 1984):

„[Secondary Appraisal] is a complex evaluative process that takes into account which coping options are available, the likelihood that a given coping option will accomplish what it is supposed to, and the likelihood that one can apply a particular strategy or a set of strategies effectively“ (Lazarus & Folkman, 1984, S. 35).

Die beiden Wahrscheinlichkeiten in dieser Definition greifen die bereits beschriebene Er-gebniserwartung und auch die Kompetenz- beziehungsweise Selbstwirksamkeitserwartung nach Bandura auf (1977; Bandura, 1982; Jerusalem, 1990). Stressbezogen fällt die sekun-däre Bewertung aus, wenn die vorhandenen Ressourcen für die erfolgreiche Bewältigung der Situation als unzureichend eingeschätzt werden (Beyer & Lohaus, 2007) oder das Zu-trauen fehlt, die zur Bewältigung geeigneten Handlungen auch ausführen zu können (Jeru-salem, 1990). Ressourcen können materieller (z. B. technische Hilfsmittel, die zur Verfü-gung stehen), sozialer (z. B. Freunde), physischer (z. B. Gesundheit) und auch psychischer (z. B. Selbstwirksamkeitserwartung, Selbstregulationsfähigkeiten) Natur sein (Beyer &

Lohaus, 2007). Die Begriffe primär und sekundär erwecken den Anschein als sei die pri-märe Bewertung wichtiger als die sekundäre oder als würde mit den Begriffen eine zeitli-che Reihenfolge beschrieben. Eine solzeitli-che Konnotation der Begriffe ist jedoch nicht inten-diert. Vielmehr handelt es sich im Hinblick auf die Stressentwicklung um gleichgewichtige Bewertungsprozesse, die sich zeitlich überlappen oder auch gleichzeitig auftreten können (Jerusalem, 1990; Lazarus & Folkman, 1984). Beide Bewertungsprozesse sind „in einem transaktionalen Sinne miteinander verbunden“ (Jerusalem, 1990, S. 12).

Zu Neubewertungen der Situation kommt es schließlich immer dann, wenn sich die Aus-gangssituation verändert hat oder neue Informationen vorhanden sind, die eine Neubewer-tung erfordern (Beyer & Lohaus, 2007). Die NeubewerNeubewer-tungen unterscheiden sich somit qualitativ nicht von der primären und sekundären Bewertung, sie treten lediglich später auf und verdeutlichen, dass die Person-Umwelt-Interaktion ständigen Veränderungsprozessen ausgesetzt ist (Beyer & Lohaus, 2007; Jerusalem, 1990). Neben den verschiedenen ge-schilderten Bewertungsprozessen, beschreiben Lazarus und Folkman (1984) noch eine weitere wesentliche Komponente des Stressgeschehens, die sogenannte Stressbewältigung

(‚coping‘). Diese resultiert aus den Bewertungen und Stresseinschätzungen und dient der Reduktion des Stresserlebens (Beyer & Lohaus, 2007; Lazarus & Folkman, 1984; Schwar-zer, 2000). Auf die Stressbewältigung wird unter Abschnitt 2.4.4 gesondert eingegangen.

Das transaktionale Stressmodell wurde inzwischen mehrfach erweitert und in vielen An-wendungskontexten überprüft (Beyer & Lohaus, 2007).13 Es bildet die theoretische Grund-lage für zahlreiche Stresspräventionstrainings im Kindes- und Jugendalter (im deutsch-sprachigen Raum z. B. Beyer & Lohaus, 2006; Hampel & Petermann, 2003; Klein-Heßling

& Lohaus, 2012) und liegt auch dem in dieser Arbeit verwendeten Stressbegriff zugrunde.