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In der Coronapandemie besteht trotz mittler- mittler-weile verfügbarer Impfstoffe nach wie vor

ein großer Bedarf an Arzneimitteln, die zur Behandlung betroffener Patientinnen und Patienten oder auch zur Prophylaxe von COVID-19 eingesetzt werden können.

Der Druck auf die forschenden Pharmaun-ternehmen ist groß, in möglichst kurzer Zeit wirksame und sichere Medikamente auf den Markt zu bringen. Bei der Entwick-lung neuer Arzneimittel vergehen jedoch von der Identifizierung einer Zielstruktur (zum Beispiel eines Rezeptors, der durch ein Arzneimittel so beeinflusst werden kann, dass er eine gewünschte Reaktion

auslöst oder eine unerwünschte Reaktion verhindert) bis zur Marktzulassung im Durchschnitt etwa zwölf Jahre (97, 98).

Von anfangs vielen Tausend Kandidaten erreichen dabei letztlich nur wenige die Phase 3 der klinischen Prüfung, von denen wiederum nur einer die Marktzulassung erhält (97) (siehe Abb. 4).

Abbildung 4: Prozess von den Arzneistoffkandidaten bis zum zugelassenen

struk-tur Klinische Entwicklung

Zulas- der klinischen Prüfung

Genehmigung der klinischen Prüfung

Antrag auf Marktzulassung

12 Zulassung

Drug Repurposing als Strategie zur Iden-tifizierung wirksamer Arzneimittel Um den Entwicklungsprozess zu beschleu-nigen, aber auch vor dem Hintergrund geringer Erfolgsquoten bei der Entwick-lung neuer Arzneimittel, enormer Kosten

und regulatorischer Hürden, konzentriert sich die Forschung nach Arzneimitteln ge-gen COVID-19 auf eine alternative Strate-gie der Arzneimittelentwicklung, die be-reits in den letzten Jahren immer populärer wurde: das Drug Repurposing (99).

Unter „Drug Repurposing“ (oder auch

„Drug Repositioning“, Neupositionierung von Arzneimitteln) versteht man einen Ansatz, der darauf abzielt, für bereits zuge-lassene Medikamente neue Anwendungs-gebiete außerhalb der ursprünglichen Indikation und Entwicklung des Arzneimittels zu identifizieren (98, 100). Es gibt einige Beispiele von Arzneimitteln, bei denen die Neupositionierung bislang erfolgreich war.

Zu den bekanntesten zählt der Wirkstoff Thalidomid, der früher als Mittel zur Beru-higung und gegen morgendliche Übelkeit in der Schwangerschaft angewendet wurde und für den Contergan®-Skandal Anfang der 1960er-Jahre sorgte. Nach seiner Marktrücknahme Ende 1961 ist Thalidomid in der Indikation Multiples Myelom derzeit jedoch unter strengen Sicherheitsvorkeh-rungen wieder zugelassen (99, 101, 102).

In den Vereinigten Staaten besitzt der Wirk-stoff bereits seit 1998 auch eine Zulassung zur Behandlung von Lepra (101, 102). Der unter dem Namen Viagra® bekannte Wirk-stoff Sildenafil, dessen Wirkung bei erektiler Dysfunktion zufällig im Rahmen seiner ur-sprünglich angedachten Entwicklung als Mittel zur Behandlung von Bluthochdruck

und Angina pectoris entdeckt wurde, ist ebenfalls als Vertreter im Bereich des Drug Repurposing zu nennen (99, 101-103).

Das älteste Beispiel für die Neupositio-nierung eines Medikaments ist wohl das Schmerzmittel Acetylsalicylsäure (Aspirin®), das 1899 auf den Markt gebracht wurde und seit den 1980er-Jahren auch niedrig dosiert als Thrombozytenaggregations-hemmer in der Prophylaxe kardiovaskulärer Ereignisse Anwendung findet. Aktuell wird auch der Einsatz des Wirkstoffs in der Onkologie, insbesondere zur Prävention von kolorektalem Karzinom diskutiert (102).

Drug Repurposing ist jedoch nicht immer erfolgreich; häufig können die Erwartungen an Wirkstoffkandidaten, die in präklini-schen Untersuchungen vielversprechende Ergebnisse zeigten, im Rahmen von klini-schen Studien (vor allem Phase 3) hin-sichtlich ihrer Wirksamkeit nicht bestätigt werden (101, 104).

Drug Repurposing Unter Repurposing versteht man die Identifikation neuer Anwendungsgebiete für bereits bei anderen Indikationen zugelassene Arzneimittel.

Drug Repurposing versus Ent-wicklung Gegenüber der De-novo-Entwicklung bietet Drug Repurposing einige wesentliche Vorteile (101, 103). Dadurch, dass die entsprechenden Arzneimittel bereits eine Marktzulassung besitzen, ist eine Indikationserweiterung mit einem vereinfachten Zulassungsverfahren ver-bunden. Dieses berücksichtigt nämlich bereits erhobene Daten aus vorangegangen klinischen Studien, insbesondere zur Sicher-heit und Toxizität eines Arzneimittels, was die Entwicklung eines neu positionierten Arzneimittels deutlich beschleunigt (101, 102). Aufgrund der bereits vorhandenen Daten zur Pharmakokinetik (das heißt dem Ausmaß und zeitlichen Verlauf von Auf-nahme, Verteilung, Verstoffwechselung und Ausscheidung von Arzneistoffen) und Sicherheit (das heißt unerwünschten Wirkungen) sind zudem erhebliche Kosten-einsparungen möglich, vor allem in der präklinischen Phase und gegebenenfalls auch den klinischen Phasen 1 und 2 (101).

Ein wichtiger Aspekt hierbei ist jedoch, dass unerwünschte Wirkungen immer im

Verhältnis zum Nutzen des Arzneimittels zu bewerten sind (102). Es muss also be-dacht werden, dass das Sicherheitsprofil eines Wirkstoffs nicht zwangsläufig auf sämtliche Indikationen übertragen wer-den kann. Untersuchungen zur optimalen Dosisfindung bezüglich des neuen Anwen-dungsgebiets sind in jedem Fall äußerst wichtig, um einen sicheren und effektiven Einsatz des Arzneimittels in weiterfüh-renden Studien zu gewährleisten (104).

Der entscheidende Vorteil des Drug Repur-posing ist also das bereits vorhandene Wissen über den Arzneistoff, das im Rah-men der Zulassungsstudien für das initiale Einsatzgebiet generiert wurde (105). Im Rahmen der Arzneimittelentwicklung kann Drug Repurposing im Vergleich zur De-novo-Entwicklung daher als risikoarmes und ressourcenschonendes Verfahren bezeichnet werden – in zeitlicher und finan-zieller Hinsicht (101, 103). Die Neupositi-onierung von Arzneimitteln ist

insbeson-54 COVID-19-Report – Entwicklung und Identifizierung neuer Wirkansätze

dere bei plötzlich auftretenden Infektionskrankheiten wie der Coronapan-demie, die möglichst schnell therapeuti-sche Lösungsansätze erfordern, der De-no-vo-Entwicklung deutlich überlegen (103).

Mögliche Vorgehensweisen bei Repur-posing Für die Erprobung von Arznei-stoffen im Rahmen des Repurposing gibt es verschiedene Vorgehensweisen bezie-hungsweise Ansatzpunkte.

Erprobung von Arzneistoffen aufgrund bekannter Haupt- oder Nebenwirkungen Ein naheliegender Ansatz zur Identifikation von Arzneimitteln mit potenziellem Nutzen in der Prävention oder Therapie von COVID-19 basiert auf Ähnlichkeiten der Erkrankung mit Indikationen bereits zuge-lassener Arzneimittel. Die Erprobung von Arzneimitteln, die zur Bekämpfung anderer Viren (wie zum Beispiel des HI-Virus einge-setzt werden) lag daher vor allem zu Beginn der Pandemie nahe. Als die Erkenntnis reifte,

dass schwere Verläufe von COVID-19 mit einer überschießenden Entzündungsreak-tion einhergehen, wurden dann vermehrt auch Arzneimittel erprobt, die bereits zur Behandlung von entzündlichen Erkran-kungen wie rheumatoider Arthritis oder Gicht eingesetzt werden.

Erprobung von Arzneistoffen aufgrund bekannter Nebenwirkungen Arzneimittel, die in ihrer Hauptwirkung die körpereigene Immunantwort gegen Viren oder andere Erreger stärken, sind zurzeit nicht bekannt.

Für einige Arzneistoffe (wie zum Beispiel Vitamin D oder Bisphosphonate) werden solche Wirkungen jedoch diskutiert, sodass ein Nutzen in der Prävention oder Therapie schwerer COVID-19-Verläufe möglich er-scheint.

Screening von Arzneistoffen auf Beein-flussung einer biologischen Zielstruktur Die Bindung eines Wirkstoffs an eine Ziel-struktur im Organismus ist in der Regel Voraussetzung für die Auslösung eines pharmakologischen Effektes, also einer Wirkung. Meistens begünstigt dabei eine möglichst starke Bindung den Effekt. Das Ausmaß beziehungsweise die Stärke dieser Bindung wird als Bindungsaffinität be-zeichnet. Ein weiterer möglicher Ansatz, bereits zugelassene Wirkstoffe mit antivi-raler Wirkung zu identifizieren, besteht darin, deren Affinität zu Zielstrukturen des Virus zu untersuchen, die als therapeuti-scher Angriffspunkt für einen Wirkstoff dienen können, um beispielsweise die Virusvermehrung zu hemmen. An der Universität Tübingen wurde hierzu zum Beispiel untersucht, welche Enzyme der menschlichen Zelle Coronaviren zur Vermehrung nutzen. Mithilfe eines Com-putermodells wurden sämtliche Stoff-wechselwege einer menschlichen Lungen-zelle analysiert, die häufig von SARS-CoV-2 befallen wird, um einen Schlüsselprozess

zu finden, dessen Beeinflussung zu einer Unterdrückung der Virusreplikation führt, aber den menschlichen Wirt nicht schädigt (106).

Ist eine aussichtsreiche Zielstruktur identi-fiziert, können mittels des sogenannten High-Throughput-Screenings (HTS) riesige Substanzbibliotheken mit zum Teil Hun-derttausenden bis Millionen unterschied-lichen Wirkstoffen automatisiert in soge-nannten „Assays“ (das heißt biologischen Tests) hinsichtlich ihrer Bindung an die Zielstruktur getestet werden (107, 108) (siehe Abb. 5). Am Hamburger Fraunhofer-Institut für Molekularbiologie und Ange-wandte Ökologie gibt es beispielsweise eine solche Substanzbibliothek, in der über 250.000 bekannte Wirkstoffe lagern, von denen viele bereits zugelassen sind (106).

Solche Affinitätsstudien können jedoch auch computerbasiert durchgeführt werden.

56 COVID-19-Report – Entwicklung und Identifizierung neuer Wirkansätze

Abbildung 5: Prinzip des Hochdurchsatzscreenings. Wirkstoffbibliotheken von mehr als 1 Mio. Substanzen werden automatisiert in einem biochemischen Assay auf die Bindung an das Wirkstoffziel getestet (107)

Wirkstoffbibliothek

biochemischer Assay

Hitidentifizierung

Die im HTS identifizierten Substanzen besitzen in den seltensten Fällen schon die benötigte Affinität für das Zielmolekül, sondern müssen anschließend noch ange-passt, also chemisch modifiziert, und in ihren pharmakologischen Eigenschaften optimiert werden (108). Bei chemischer

Modifikation kann jedoch nicht mehr von Repurposing im eigentlichen Sinne ge-sprochen werden, da hierbei die gleichen präklinischen und klinischen Prüfungen notwendig werden wie bei einer De-novo-Entwicklung.

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W

ie eingangs bereits erwähnt, bleibt die Entwicklung wirksamer Therapieansätze ein wichtiges Ziel, sowohl aufgrund der (aus globaler Perspektive) nach wie vor bestehenden mangelnden Verfügbarkeit von Impfstoffen als auch aufgrund der Möglichkeit von schwerwiegenden COVID-19-Erkrankun-gen trotz Impfung. Die bisheriCOVID-19-Erkrankun-gen Erfolge in der Behandlung von Patientinnen und Patienten mit schwerwiegendem CO-VID-19-Verlauf bleiben jedoch weit hinter präventiven Ansätzen zurück.

Zur klinischen Erprobung von Arzneimitteln sind randomisierte und kontrollierte klini-sche Studien (Randomized Controlled Trial RCT) der Goldstandard (109). Dabei wird eine möglichst homogene, nach bestimmten Kriterien ausgewählte Studienpopulation mit einer Kontrollgruppe verglichen, um beobachtbare Effekte möglichst aus-schließlich dem untersuchten Arzneimittel zuordnen zu können. Solche experimentellen

Studien sind allerdings zeit- und kostenin-tensiv und können nur für die vielver-sprechendsten Wirkstoffe zur Anwendung kommen. Darüber hinaus finden diese Studien unter bestimmten Bedingungen und unter besonderer Mitwirkung von Prüfärzten und -ärztinnen statt. Nach der Zulassung wird das Arzneimittel dann un-ter anderen Voraussetzungen im klini-schen Alltag angewendet.

Ergänzend zu den klinischen Studien können daher versorgungsnahe Daten (oftmals auch als Real-World Data oder Real-World Evidence bezeichnet) wichtige Erkenntnisse für die medizinische For-schung liefern. Darunter sind Daten über den Gesundheitszustand der Patientinnen und Patienten und/oder die Erbringung von Gesundheitsleistungen, die routine-mäßig aus verschiedenen Quellen erhoben werden, zu verstehen (110). Hierzu zählen zum Beispiel Informationen, die gegenwär-tig vor allem aus Abrechnungsdaten der

58 COVID-19-Report – Versorgungsdaten unterstützen bei Forschung und Entwicklung

Krankenversicherungen entnommen wer-den können und durch die verbesserte Di-gitalisierung im Gesundheitswesen zuneh-mend zur Verfügung stehen werden.

Jedoch sind diese Daten bislang nur auf-grund von freiwilligen, unterstützenden Kooperationsprojekten der Krankenkassen zugänglich.

Die zeitnahe Beantwortung versorgungs-relevanter Fragestellungen wird zukünftig von zunehmender Bedeutung für die Ak-teure und Akteurinnen im Gesundheitswe-sen sein, um auf globale Gesundheits-krisen wie die COVID-19-Pandemie ent-sprechend reagieren zu können. Daraus abgeleitet ergibt sich ein großer Bedarf an validen Daten, um die erforderlichen Ana-lysen und Studien zielführend bearbeiten zu können.

Auch im Rahmen der COVID-19-Pandemie können Versorgungsdaten wertvolle An-haltspunkte bei der Beurteilung der Effek-tivität von Impfungen (zum Beispiel Prä-vention von schweren Verläufen oder Todesfällen (111) oder Bestimmung des

Anteils der Neuinfektionen bei geimpften und nicht geimpften Personen (112)), medikamentösen Therapien (vergleiche Kapitel 3) und nicht-medikamentösen In-terventionen (zum Beispiel Kontaktbe-schränkungen (113)) liefern, da sie Einbli-cke in unterschiedliche Schweregrade und Verlaufsformen der COVID-19-Erkrankun-gen ermöglichen. So zeigten beispielsweise Kowall et al. (2021) anhand von anonymisier-ten Patienanonymisier-tendaanonymisier-ten aus Praxen niedergelas-sener Ärztinnen und Ärzte, dass der erste Lockdown in Deutschland im Zeitraum von März bis Mai 2020 keine nennenswerten negativen Auswirkungen auf den akuten Gesundheitszustand und die metaboli-schen Werte von Typ-2-Diabetes-Patien-tinnen und -Patienten hatte, was als An-haltspunkt dafü r gewertet werden kann, dass die ambulante Versorgung dieser Pati-entengruppe auch während dieser Zeit funktionsfähig war (114). Auch ist es prin-zipiell möglich, Effekte bestimmter Arznei-mittelgruppen auf das Risiko schwerwie-gender COVID-19-Erkrankungen zu untersuchen. Im Folgenden werden ausge-wählte Ansatzpunkte für die Nutzung von Versorgungsdaten im Kontext der CO-VID-19-Pandemie erörtert:

a) Verständnis des Krankheitsverlaufs (Epidemiologie): Hierzu zählt insbeson-dere die Identifikation von Risikofaktoren, die eine COVID-19-Erkrankung begünstigen können (zum Beispiel Asthma, Diabetes oder HIV), oder die Untersuchung der Auswirkungen einer Infektion auf vulnera-ble Bevölkerungsgruppen (zum Beispiel Patientinnen und Patienten mit einer onko-logischen Vorerkrankung (115) mittels Be-obachtungsstudien. Aber auch die Langzeit-folgen einer bereits überstandenen COVID-19-Infektion sind derzeit von be-sonderem Interesse. So zeigte das TriNetX Analytics Network (umfasst Daten von 81 Millionen Patientinnen und Patienten aus acht Ländern), dass COVID-19-Patientin-nen und -Patienten in den ersten sechs Monaten nach einer Infektion ein erhöhtes Risiko für neurologische und psychiatrische Störungen aufweisen, weshalb ein be-sonderes Gewicht auf die Nachbeobachtung dieser Patientinnen und Patienten gelegt werden sollte (116).

b) Indikationserweiterungen: Versor-gungsdaten können auch Hinweise für die Ausweitung der zugelassenen Anwendungs-gebiete eines Arzneimittels auf neue Krankheitsbilder liefern, um die Zulassung für neue Indikationen anzustreben (zum Beispiel Gabe von Rekonvaleszenten-Plasma zur Senkung der Sterblichkeit bei schweren COVID-19-Verläufen (117)). Die Repositio-nierung von bereits zugelassenen Arznei-mitteln für neue Anwendungsgebiete hat im Kontext der COVID-19-Pandemie eine zentrale Bedeutung erlangt. Insbesondere Beobachtungsstudien in weitverbreiteten Medikamentenklassen (zum Beispiel Stati-ne = Lipidsenker mit entzündungshem-mender Wirkung) werden zur Untersu-chung des Zusammenhangs zwischen Wirkstoffgabe (Exposition) und Wirkung (Outcome) herangezogen (118). Solche Studien können RCTs nicht ersetzen, sie können jedoch Hinweise darauf liefern, welche Arzneimittel für eine klinische Erprobung zu priorisieren sind. Die er-forderlichen Informationen können den

60 COVID-19-Report – Versorgungsdaten unterstützen bei Forschung und Entwicklung

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