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1 Die Bußbcher: Materielle und ethische Reinheit im Kult

Im Dokument Miriam Czock Gottes Haus (Seite 109-129)

Die Bedeutung der Bußbcher fr die Erforschung der Religiositt des Frh-mittelalters ist enorm, gelten sie doch mithin als Paradebeispiel fr eine spezi-fische frhmittelalterliche Religiositt, die sich im Gegensatz zum frhen Christentum von den ethischen Anforderungen des Neuen Testaments gelçst und zu einer von der Idee der kultischen Reinheit geprgten Religiositt ge-wandelt hat.2Die Bußbcher werden schon fast als programmatischer Ausfluss dieser religionsgeschichtlichen Wandlung gesehen, denn sie bestehen fast nur aus mehr oder minder langen Auflistungen der unterschiedlichsten Snden mit der fr den begangenen Tatbestand zu leistenden Buße, die die Reinheit wieder herstellen soll.3 Dabei ist die Forschung davon ausgegangen, dass die Reinheit gerade auf Kultgegenstnde und -handlungen bezogen gedacht wurde.4 Den Kultort betreffende Regelungen zu analysieren, scheint also besonders fruchtbar, da sich an diesem Ort das kultische Handeln verdichtet und sich gleichzeitig an den ihn betreffenden Normen besonders gut zeigen lsst, inwiefern er in ein Raster von Reinheit und Unreinheit gestellt wird. Die Frage nach der Bedeu-2 Angenendt/ Braucks/ Busch/ Lentes/ Lutterbach: Gezhlte Frçmmigkeit; Lut-terbach: Intentions- oder Tathaftung?; Lutterbach: Sexualitt im Mittelalter; Hu-bertusLutterbach: Die mittelalterlichen Bußbcher – Trgermedien von Einfachreli-giositt. In: Zeitschrift fr Kirchengeschichte 114 (2003), S. 227 – 244; Hubertus Lutterbach: Sexualitt zwischen kultischer und ethischer Reinheitsauffassung: Zur Rekonstruktion von Sprachangeboten und Sprachbarrieren in christlicher Tradition. In:

Kçrperlichkeit – Identitt, hrsg. v. Thomas Hoppe. Fribourg 2008;Lutterbach: The Mass and Holy Communion.

3 Siehe zu den Bußbchern allgemein RaymundKottje: Eine wenig beachtete Quelle zur Sozialgeschichte: Die frhmittelalterlichen Bußbcher – Probleme ihrer Erforschung. In:

Vierteljahrsschrift fr Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 73 (1986), S. 63 – 72;Meens: Het tripartite boeteboek; LudgerKçrntgen: Studien zu den Quellen der frhmittel-alterlichen Bußbcher. Sigmaringen 1993; Kçrntgen: Bußbuch und Bußpraxis. Die Bußbcher sind eine ursprnglich insulare Quellengattung, die im Laufe des 7. und 8.

Jahrhunderts weite Verbreitung auf dem Kontinent gefunden hat, siehe Paenitentialia minora Franciae at Italiae saeculi VIII-IX (Einleitung), hier S. VIII.

4 Lutterbach: Die mittelalterlichen Bußbcher, S. 237.

tung von Reinheit und Unreinheit in Bezug auf den heiligen Ort liegt auf der Hand, wird der heilige Ort in der Forschung doch hufig als eine reine Entitt konzipiert, die von ihrer profanen Umwelt abgegrenzt ist.5Ideengeber fr solche Interpretationsmuster ist hufig die Religionssoziologie, welche das Profane als etwas Unreines beschreibt, wohingegen sie das Heilige als durch Reinheit de-finiert charakterisiert.6Fr das geschichtswissenschaftliche Nachdenken ber die Kategorien „rein“ und „unrein“ sind dabei maßgebliche Impulse vom Werk der Ethnologin Mary Douglas ausgegangen, welche die Definition des Unreinen als kulturspezifischen und eben nicht auf hygienischen Vorstellungen basie-renden Gedanken betrachtet hat. Sie ging davon aus, dass Gesellschaften den-jenigen Vorgngen und Dingen Unreinheit beimessen wrden, die die kos-mologische Ordnung der Dinge stçren;7 Unreinheit habe also eine grenzber-schreitende Qualitt, die einen Bruch in der Welt(-vorstellung) hinterließe, den es zu verhindern bzw. ungeschehen zu machen glte. Das von ihr erarbeitete Welterklrungskonzept ist fr die Erforschung der frhmittelalterlichen Reli-giositt zu einem Angelpunkt der Interpretation geworden, da die Forschung das Verhltnis von Reinheit und Unreinheit in den Mittelpunkt eines Modells stellt, das eine grundstzliche Wandlung zwischen dem frhen Christentum und der frhmittelalterlichen Religiositt annimmt. So wurde ein religionsge-schichtliches Entwicklungsmodell formuliert, in dem sich die Parameter der Unreinheitsvorstellungen der alten Kirche von der ethischen Reinheit des Herzens im Frhmittelalter zu einer Dominanz der Kategorie der kçrperlichen Unreinheit verschoben haben. Die Hinwendung zur Normierung kçrperlicher Reinheit als kultischem Phnomen entspricht dem Forschungsstrang damit gleichzeitig als Abwendung von der ethischen Reinheit der alten Kirche. Aus dieser Perspektive verbindet sich mit der Zurckdrngung ethischer Modelle eine Vernderung der religiçsen Ausdrucksformen, in der nun nicht lnger eine unsichtbare innere Haltung im Zentrum steht, sondern eine ußerlich sichtbare Frçmmigkeit. Zum Schlsselbegriff dieses Modells der Transformation der Theologie wie der Religionspraxis ist der Terminus „Rearchaisierung“ avanciert.8 Die Bußbcher gelten als Musterfall der Rearchaisierung, da sich in ihnen der

5 In Bezug auf die Bußbcher so deutlichLutterbach: Sexualitt im Mittelalter, S. 76 – 80;Signori: Sakral oder profan?;Hamilton/Spicer :Defining the Holy.

6 Eliade: Das Heilige und das Profane.

7 Mary Douglas: Purity and Danger. An analysis of the Concepts of Pollution and Taboo. London u. a. 1966 (ND 1984).

8 Angenendt: Geschichte der Religiositt, S. 21 – 28, dort auch zur Buße und den Bußbchern, S. 626 – 644. Sein SchlerLutterbach: Sexualitt im Mittelalter, hat diese These zur Bearbeitung der Sexualittstabus im Mittelalter aufgegriffen.

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Gedanke der ußerlich sichtbaren Frçmmigkeit vermeintlich besonders ausge-prgt ausdrckt.9

Schon Nikolaus Staubachhat darauf hingewiesen, dass die Einschtzung, die frhmittelalterliche Religiositt htte die ethische Reinheit zu Gunsten der kultischen Reinheit aufgegeben, zu schematisch sei, da berlegungen zur ethischen Reinheit durchaus in die Konzeption des Kultes eingeflossen seien.10 Kritik am Modell der Rearchaisierung gibt es auch aus einer anderen Richtung.

So hat Maykede Jong in einer allgemeinen Auseinandersetzung mit der Reli-giositt im Frhmittelalter darauf hingewiesen, dass der Ansatz leicht dazu verfhrt, der frhmittelalterlichen Religiositt einen theologischen Hintergrund abzusprechen und folglich die theologischen Implikationen der jeweiligen Materie zu bersehen.11Bei der Interpretation der Bußbcher ist also darauf zu achten, in welchen theologischen Rahmen sich die Bestimmungen einfgen lassen und ob es wirklich nur die kçrperliche Unreinheit ist, die als kultisch problematisch empfunden wurde.

Die Bußsatzungen entfalten ein Panorama, das von Vergehen gegen Speisevorschriften ber liturgische Verstçße bis hin zu Kapitaldelikten wie Mord und Raub die unterschiedlichsten Tatbestnde umfasst.12Unter anderem finden sich viele Bußbestimmungen, die sich inhaltlich mit Sexualitt beschftigen.13 Zur als abweichend empfundenen Sexualitt zhlen die Bußbcher nicht nur bestimmte sexuelle Praktiken, sondern ebenfalls mangelnde sexuelle Enthalt-samkeit.14 Abstinenz war James A. Brundage zufolge notwendig, um den

9 Angenendt/ Braucks/ Busch/ Lentes/ Lutterbach: Gezhlte Frçmmigkeit; Lut-terbach: Intentions- oder Tathaftung?; Lutterbach: Sexualitt im Mittelalter; Lut-terbach: Die mittelalterlichen Bußbcher;Lutterbach: Sexualitt zwischen kultischer und ethischer Reinheitsauffassung;Lutterbach: The Mass and Holy Communion.

10 Staubach: „Populum Dei […]“, S. 27 – 54, S. 48 – 52; Staubach: Signa utilia, bes.

S. 42 Anm. 105;Staubach: ,Cultus divinus‘.

11 de Jong: Rethinking Early Medieval Christianity, bes. S. 267 – 271. Zweifel an einer Archaisierung drckt auchStaubach: „Populum Dei […]“, S. 48 – 51, in einer Studie zur karolingischen Pastoralreform aus. Er verweist darauf, dass die Ritualisierung Aus-fluss des Bemhens um spirituelle Deutungen und Erklrungen ist, deren Wurzeln letztlich in der allegorisch-typologischen Sinnbeziehung zur alttestamentlichen Religio-sitt stehen.

12 Vgl. Ludger Kçrntgen: Burchards „Liber corrector“ und seine Quellen. In: Bischof Burchard von Worms 1000 – 1025, hrsg. v. Wilfried Hartmann. Mainz 2000, S. 199 – 226, hier S. 201 f.

13 Die Sexualittstabus in den Bußbchern sind dementsprechend Thema vieler Studien, z. B. PierrePayer: Sex and the Penitentials. The Development of a Sexual Code 550 – 1150. Toronto 1984; James A.Brundage: Law, Sex, and Christian Society in Medieval Europe. Chicago/London 1987;Lutterbach: Sexualitt im Mittelalter.

14 Lutterbach: Sexualitt im Mittelalter, S. 64 – 195.

wirksamen Vollzug des jeweiligen Rituals zu garantieren.15Die enge Verzahnung von liturgischem Ritual und Reinheitsfragen ergibt sich letztlich aus dem grundlegenden Verstndnis von Geschlechtlichkeit als kultische Unreinheit verursachendem Geschehen. Der Zusammenhang zwischen Reinheit und Ritual entfaltet sich in den Bußbestimmungen allerdings primr in Bezug auf heilige Zeiten. So finden sich viele Bußbestimmungen, die sich mit der fehlenden Enthaltsamkeit an verschiedenen Wochentagen und an bestimmten kirchlichen Feiertagen beschftigen.16 Der Raum, in dem das Ritual stattfindet, spielt hingegen nur eine untergeordnete Rolle.17 Die besondere Bedeutung der heili-gen Zeiten ist nicht nur in Hinsicht auf die Bußbcher festzustellen, vielmehr ist sie auch in den Quellen der merowingischen Zeit greifbar, fllt doch schon in diesen auf, wie hufig sich kçnigliche Edikte und Kanones mit Bestimmungen zur Sonntagsheiligung und dem Schutz der kirchlichen Festtage im Gegensatz zu dem rituell genutzten Raum beschftigen.18

Wie sehr die Virulenz des Themas der sexuellen Verunreinigung in Hinsicht auf den Raum in den Bußbchern zunimmt, erhellt, wenn man bedenkt, dass eine Verknpfung von Raum, Ritual und sexueller Reinheit in den merowin-gischen Kanones allein einmal und dort nur implizit zu finden ist; verab-schiedeten die Bischçfe auf dem Konzil von Tours (567) doch einen Kanon, der den Laien grundstzlich den Zutritt zum Altar erlaubte, ihn jedoch whrend der Messe und der Vigilien untersagte.19Der Kanon fokussiert dabei auf die heilige Zeit und nicht den heiligen Ort. Die im Kanon vorgenommene Verknpfung der zeitlichen Ebene des Rituals und des rumlichen Kontextes liegt auch vielen Bußbestimmungen zugrunde. Kultische Unreinheit besaß ihnen zufolge Rele-vanz fr die Kommunion, die Taufe und den Zutritt zur Kirche.20 Trotz der offensichtlichen Unterordnung rumlicher Konzepte ist der heilige Raum in manchen Bestimmungen eigens benannt. Die Einbeziehung des Raums spricht m. E. eindeutig dafr, dass er als Bewertungsmaßstab der Tat eine Rolle spielte 15 Brundage: Law, Sex, and Christian Society, S. 157 – 164;Lutterbach: Sexualitt im

Mittelalter, S. 76 f.

16 Lutterbach: Sexualitt im Mittelalter, S. 76 – 79;Brundage: Law, Sex, and Christian Society.

17 Lutterbach: Sexualitt im Mittelalter, S. 79 f.

18 Zu den Bestimmungen der merowingischen Konzilien siehePontal: Die Synoden im Merowingerreich, S. 84, S. 165, S. 196, S. 254. Fr einen allgemeinen berblick siehe Thomas Bergholz: Art. „Sonntag. 3.1 Frhmittelalter“. In: Theologische Realenzy-klopdie, Bd. 31, S. 454 – 455.

19 Concilium Turonense A. 567, c. 4, Concilia Galliae A. 511-A. 695, S. 178:Vt laici secus altare, quo sancta misteria celebrantur, inter clericos tam ad uigiliis[sic!]quam ad missas stare penitus non praesumant, sed pars illa, quae a cancellis uersus altare diuiditur, choris tantum psallentium pateat clericorum. Ad orandum et communicandum laicis et foeminis, sicut mos est, pateant sancta sanctorum.

20 Lutterbach: Sexualitt im Mittelalter, S. 80 – 96.

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und damit als eigene Entitt mit besonderer Qualitt wahrgenommen wurde.

Neben der strkeren Beachtung des Raums als spezifischer Kategorie erweitert sich in den Bußbchern die Personengruppe, die den Reinheitsanforderungen unterworfen wird. So ergibt sich – anders als aus den Bußbchern – aus den merowingischen Kanones in Bezug auf den Raum kein allgemein fr Kleriker wie Laien geltender Anspruch, sich sexueller Handlungen zwecks kultischer Reinheit zu enthalten. Die Bußbcher sind in dieser Hinsicht ergiebiger und differenzierter, nehmen sie doch gerade auf die Laien und deren Befhigung zur Kultteilnahme Bezug.21 In diesem Rahmen setzen sie sich explizit mit der weiblichen Sexualitt auseinander. Konkret werfen die Bußbcher die Frage auf, ob eine menstruierende Frau oder eine Frau, die gerade ein Kind geboren hat, die Kirche betreten drfe. Interessanterweise findet das Thema in den Buß-bchern keine einheitliche Behandlung. Whrend eine Tradition beide Vor-gnge nicht als kultisch verunreinigend bewertet, findet sich auch eine Quel-lengruppe, die gerade das Gegenteil annimmt. Die ltere der beiden stammt eigentlich nicht aus einem Bußbuch, sondern aus dem sogenannten Libellus responsionum Gregors des Großen, nahm jedoch im 8. Jahrhundert Eingang in die Bußbuchliteratur.22 Die andere geht auf eine mit dem Bußbuch Theodors von Canterbury in Verbindung stehende Tradition zurck. Obwohl die Aus-fhrungen Gregors den Bußbestimmungen Theodors zeitlich vorausgehen, haben sie erst nach der Verbreitung der theodorischen Bußbcher ihren Weg in die frnkischen Bußbcher gefunden.

Fr rçmisches Material eigentlich untypisch beschftigt sich der Libellus responsionum mit Fragen der kultischen Reinheit. Das achte Kapitel enthlt Ausfhrungen vor allem zum Zusammenhang von Sexualitt als kultisch ver-unreinigendem Geschehen und dem Vollzug von Riten, wie der Taufe und der Eucharistie. Desgleichen wird in diesem Kontext der Zutritt zur Kirche the-matisiert. Die ungewçhnliche Materie desLibellus responsionum lsst sich wohl darauf zurckfhren, dass er auf Anfrage von Augustinus entstand, einem von Rom mit der Mission des noch primr heidnisch geprgten Kent in England betrauten Mçnch.23 Rob Meens hat in jngerer Zeit eine Deutung vorge-schlagen, die die Wurzeln der Fragen Augustinus’ in indigenen Vorschriften 21 Lutterbach: Sexualitt im Mittelalter, S. 76 – 96.

22 Eine verkrzte Darstellung findet sich in den folgenden Bußbchern: Paenitentiale Merseburgense a, c. 89, S. 152; Poenitentiale XXXV Capitulorum X § 5 und § 6, S. 513; Poenitentiale Martenianum, c. LXVI, § 1, S. 296 f. Die besondere Bedeutung des Libellus Responsionum spiegelt dessen Eingang in die Collectio Vetus Gallica, siehe Collectio Vetus Gallica, Capitulatio, LXVII De expositione diversarum rerum Papae Gregorii sunt tituli XIII, VIII, S. 353. Siehe hierzuMordek: Kirchenrecht und Reform im Frankenreich, S. 214.

23 HenryMayer-Harting: The Coming of Christianity to Anglo-Saxon England. London 1972.

sucht. Da sich in Rom keine diese Themen betreffende Tradition nachweisen lasse, scheine es ihm plausibel, das Entstehen der Fragen im Missionsumfeld Augustinus’ zu vermuten.24 Seine These wird zudem dadurch gesttzt, dass Gregor der Große die kçrperliche Reinheit nicht einfordert, sondern die spiri-tuelle Reinheit als das primre Ziel ansieht.

Im Mittelpunkt der augustinischen Frage standen die kultischen Rein-heitsanforderungen, die bei der Taufe, der Teilnahme an der Eucharistie und dem Zutritt zur Kirche zu beachten waren. Die kultische Unreinheit verursa-chenden Phnomene stehen dabei alle im Zusammenhang mit Sexualitt und Fortpflanzung.25 So stellte Augustinus die Frage, ob Schwangere und wann Neugeborene getauft werden drfen. Außerdem erkundigte er sich, ob Frauen, die ein Kind geboren haben oder menstruieren, sowie Mnner, die sexuellen Kontakt zu ihrer Frau hatten, die Kirche betreten drfen. Indem er die Fragen des Augustinus aufnimmt, bezeugt der Libellus responsionum, dass der Zugang von als unrein empfundenen Personen wenigstens im insularen Bereich schon am Ende des 6. Jahrhunderts problematisiert wurde. Ihre Grundlage haben die Forderungen der kultischen Reinheit, wie schon Gregor der Große in seiner Antwort bemerkte, in einer Hinwendung zu Vorschriften aus dem Alten Tes-tament. So wies er denn auch die Reinheitsvorschriften als alttestamentliche Bruche zurck, die im Neuen Testament ihren Boden verloren htten und deshalb nicht mehr gltig seien.26 Die sexuellen Befleckungen seien seinen Ausfhrungen zufolge nur ußerlichkeiten, die, solange sie nicht im Geiste verwurzelt wren, keine kultische Bedeutung htten. Nachdrcklich ordnet er das Kçrperliche dem Spirituellen unter. Sexualitt war fr ihn nur dann ver-unreinigend, wenn sie lustvoll oder begierig gewesen sei.27 Dennoch sind die Vorschriften Gregors ambivalent; so hielt er eine menstruierende Frau, die nicht kommuniziert, fr lobenswert,28 außerdem verlangte er vom Mann, der bei

24 RobMeens: Questioning Ritual Purity: The Influence of Gregory the Great’s Answer to Augustine’s Queries about Childbirth, Menstruation and Sexuality. In: St. Augustine and the Conversion of England, hrsg. v. Richard Gameson. Stroud 1999, S. 174 – 186, hier S. 176;Meens: „A Relict of Superstition“.

25 Zum Zusammenhang von Unreinheit und Sexualitt sieheLutterbach: Sexualitt im Mittelalter.

26 MGH Epp. II, Gregorii I Registri, S. 340:Sicut enim in testamento veteri exteriora opera observantur, ita in testamento novo non tam quod exterius agitur, quam id quod interius cogitatur sollicita intentione attenditur, ut suptili sententia puniatur.

27 Z.B. MGH Epp. II, Gregorii I Registri, S. 340:Sed quia ipsa licita admixtio coniugis sine voluptate carnis fieri non potest, a sacri loci ingressu abstinendum est, quia voluptas ipsa esse sine culpa nullatenus potest.

28 MGH Epp. II, Gregorii I Registri, S. 340: Sanctae autem communionis mysterium in eisdem diebus percipere non debet prohiberi. Si autem ex veneratione magna percipere non praesumit, laudanda est, sed si perceperit, non iudicanda.

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seiner Frau gelegen hat, die Waschung vor dem Eintritt in die Kirche.29 Zwar steht die kultische Unreinheit unbestritten im Mittelpunkt der Ausfhrungen, im Kern geht es jedoch darum, dass Sexualitt nicht an sich verunreinigend ist, sondern die Geisteshaltung des Menschen. Gregors berlegungen entspringen einer spezifischen exegetischen Tradition, in der die Vorschriften zur kultischen Reinheit des Alten Testaments durch Christi Wirken in der Welt berwunden worden sind. Im Rahmen seiner Interpretation ist es deshalb nicht ein mate-rieller Aspekt, der ein Hindernis fr den Kultvollzug darstellt, sondern nur die spirituelle Befleckung. Dennoch sind fr Gregor die prinzipielle Unreinheit von sexuellen Vorgngen wie der Menstruation und dem Samenerguss nicht getilgt, denn sie bleiben Symbole der spirituellen Verunreinigung.30 In die Bußbcher des 8. Jahrhunderts ist nicht die ganze Bandbreite von Gregors Argumentation eingegangen. Primr bernehmen die Bußbcher den Gedanken, dass einer menstruierenden Frau der Zutritt zur Kirche nicht verweigert werden darf, sie jedoch als lobenswert gilt, wenn sie sich des Eintritts in das Kirchengebude enthlt.31

Die generelle Zurckweisung der alttestamentlichen Normen durch Gregor scheint sich in der Folgezeit in England nicht vçllig durchgesetzt zu haben. So finden sich interessanterweise ausgerechnet in einem Bußbuch, das einem Nachfolger Augustinus’ aus dem spten 7. Jahrhundert, nmlich Theodor von Canterbury, zugeschrieben wird, den Ausfhrungen Gregors genau entgegen-gesetzte Anweisungen. Das theodorische Bußbuch ist wohl nicht von ihm selbst verfasst worden, jedoch geht man davon aus, dass die Bußbestimmungen auf mndliche Aussagen Theodors zurckgehen. Die schriftliche Tradition des theodorischen Bußbuchs hat wohl frhestens um 668/690, sptestens vor 753/

29 MGH Epp. II, Gregorii I Registri, S. 339:Vir autem cum propria coniuge dormiens nisi lotus aqua intrare ecclesiam non debet(…).

30 MGH Epp. II 2, Gregorii I Registri XI 56, S. 340.

31 Nur die Bestimmung nehmen auf: Paenitentiale Merseburgense a, c. 89, S. 152:Si qua mulier, dum menstruo patitur, prohiberi ab ecclesia non deberi, quia nature superfluitas in culpa non reputabitur. Sanctam autem communionem in hisdem diebus percipere non debit prohiberi. Si autem ex veneratione magna percipere non praesumit, ladanda est, et si per-ciperit, non est iudicanda. hnliche Regelungen finden sich in Poenitentiale XXXV Capitulorum X § 5 und § 6, S. 513. Wenn die Bestimmungen mehr aus der Beweis-fhrung Gregors entnehmen, so fhren sie als Begrndung das Beispiel der blutflssigen Frau an, die die Gewnder Christi berhren durfte. Auf das Beispiel der blutflssigen Frau gehen ein: Poenitentiale Pseudo-Gregorii 25; Poenitentiale Martenianum LXVI

§ 1, S. 296 f.:Novimus namque quod mulier, quae fluxum patiebatur sanguinis, post ter-gum Domini humiliter veniens, vestimenti ejus fimbriam tetigit atque ab ea statim sua infirmitas recessit. Si ergo in fluxu sanguinis posita laudabiliter potuit Domini vestimentum tangere, cur cui menstruam sanguinis patitur, non liceat Domini ecclesiam intrare?Siehe zur Frage von Menstruation und Kommunionsempfang auch Lutterbach: Sexualitt im Mittelalter, S. 83 – 86.

56 eingesetzt.32 Insgesamt gibt es fnf verschiedene berlieferungsstrnge, wovon der jngste wahrscheinlich der sogenannteDiscipulus Umbrensiumist.33 Das theodorische Bußbuch erhebt von den Darlegungen Gregors abweichend eine Buße fr menstruierende Frauen, die die Kirche betreten.34 Außerdem fordert es von Frauen, nach der Entbindung vierzig Tage die Kirche nicht zu betreten.35 An den Bestimmungen Theodors von Canterbury und an ihrer weiteren Verbreitung36veranschaulicht sich die Bedeutung des Alten Testaments als Vorlage fr die Ausgestaltung religiçser Normen. So stammen die Ideen ber kultische Reinheit, die den Bußnormen zu Grunde liegen, unter anderem aus den Reinheitsvorschriften des Buches Levitikus.37 Die Forschung hat die Dis-krepanz zwischen den Bestimmungen Gregors und Theodors lngst als erkl-rungsbedrftig erkannt und verschiedene Deutungsmçglichkeiten vorgeschla-gen. Rob Meens beleuchtet das Thema unter der Frage, ob Theodor von Canterbury der Libellus responsionum Gregors berhaupt bekannt war. Er kommt jedoch zu keinem abschließenden Ergebnis, da die handschriftliche Verbreitung des Libellus responsionum zu Theodors Zeit in England kaum zu rekonstruieren ist. Die Frage, ob Theodor die Einstellung Gregors bekannt war, ist jedoch obsolet, wenn man davon ausgeht, dass Gregors Meinung keinen ausschließlichen Geltungsanspruch hatte. Grundlegender erscheint die zweite These Rob Meens’, die die Besonderheiten der britischen und irischen Reli-32 Eine bersicht ber die verschiedenen Datierungsvorschlge bietet CyrilleVogel: Les

„libri paenitentiales“. Turnhout 1978, S. 69 f. Diese reichen von 668 als frhestem und 753/56 als sptestem Zeitpunkt.

33 Vogel: Les „libri paenitentiales“, S. 68 – 70. Zwei neuere Untersuchungen zur sehr komplexen Entstehungsgeschichte des Bußbuches sind Thomas Mowbray

33 Vogel: Les „libri paenitentiales“, S. 68 – 70. Zwei neuere Untersuchungen zur sehr komplexen Entstehungsgeschichte des Bußbuches sind Thomas Mowbray

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