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Bedürfnissituation älterer Menschen/Perspektive ExpertInnen

Aufteilung qualitative Interviews

Fragestellung 1: Bedürfnissituation älterer Menschen/Perspektive ExpertInnen

Vorerst ist es wichtig, die Bedürfnisse und Wünsche und die damit verbundenen Sorgen der älteren Menschen festzuhalten. Vor allem die unterschiedlichen Sichtweisen und beruflichen Erfahrungen der entstanden Typen sind dabei zu beachten bzw. ermöglichen es, unterschiedliche Perspektiven über die Bedürfnissituation der Zielgruppe zu erlangen.

- Wünsche und Bedürfnisse älterer Menschen

Zum einen sind es die Grundbedürfnisse, die gedeckt werden sollen. Das heißt, der ältere Mensch kann selbst entscheiden, wann er schlafen geht oder wann er wie viel isst. Diesen Freiraum zu geben, aber auch zu unterstützen, gehört ebenso zu den Aufgaben sozialer Dienstleistungen. Vor allem in stationären Einrichtungen ist es schwierig, dieses

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Grundbedürfnis zu gewährleisten. Dies konnte von den „distanzlosen Engagierten“, den

„reflektierten Distanzwahrenden“ sowie auch von den „distanzlosen PragmatikerInnen“

festgestellt werden.124

Alle interviewten ExpertInnen und somit auch alle vier gebildeten Typen sehen das Leben in der eigenen Wohnung als den größten Stellenwert bei älteren Menschen an. Dabei ist es der größte Wunsch, selbstständig in den eigenen vier Wänden leben zu können, ohne dabei auf Hilfe angewiesen zu sein und in Abhängigkeiten leben zu müssen.125

„[…] der Mensch soll dort leben, wo er sich am wohlsten fühlt und das ist eben zum Großteil daheim, in den vier Wänden.[…]“126

Somit stellt das Wohnen zu Hause eines der Hauptbedürfnisse dar. Dabei ist es den älteren Menschen auch ein Anliegen, dass der Wunsch, möglichst lange daheim wohnen zu bleiben, niemandem zur Last fällt. Dabei können aber eigene vier Wände auch so verstanden werden, dass es sich um ein betreutes oder barrierefreies Wohnen handeln kann. Auf jeden Fall sollte es jedoch keine Wohnsituation wie in einem Wohnheim bzw. Altenheim sein. Diese Wohnsituation wird meist erst dann gewählt, wenn der Leidensdruck für Betroffene sowie für Angehörige schon zu groß ist und kein anderer Ausweg mehr gesehen wird.127

Sowohl für „distanzwahrenden PragmatikerInnen“ als auch die „distanzlosen Engagierten“ ist neben dem Wohnen die soziale Integration älterer Menschen von essentieller Wichtigkeit.

Vor allem, dass sie das Gefühl haben, noch weiterhin eine Aufgabe zu haben und wertvoll für ihre Mitmenschen zu sein. Es ist ihnen wichtig, einen Platz in der Familie zu haben und dabei nicht als Last gesehen zu werden. Deshalb ist vor allem die Unterstützung bei der Pflege von sozialen Kontakten sehr wichtig und sollte von sozialen Dienstleistungen nicht vernachlässigt werden. Das heißt, dass auch in der Alltagsgestaltung Kontakte gepflegt werden können, denn dadurch wird die Zufriedenheit der älteren Menschen gefördert und diese haben das Gefühl, dass jemand da ist und Zeit für sie hat, wenn sie etwas brauchen.128

Ein selbstbestimmtes und selbstständiges Leben zu führen, ist ebenfalls von großer Bedeutung für die Zielgruppe und wurde von VertreterInnen aller entstandenen Typen genannt. Die „reflektierten Distanzwahrenden“ erachten es vor allem in stationären

124 Vgl.: Interview 2, Zeile 60 und Interview 10, Zeile 16.

125 Vgl.: Interview 3, Zeile 72.

126 Interview 7, Zeile 26.

127 Vgl.: Interview 6, Zeile 40; Interview 5, Zeile 88-90 und 84-86; Interview 9, Zeile 64; Interview 10, Zeile 16.

128 Vgl.: Interview 4, Zeile 78, 82; Interview 7, Zeile 18.

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Einrichtungen als wichtig, nicht die Pflegebedürftigkeit in den Vordergrund zu stellen, sondern, dass ältere Menschen so sein dürfen, wie sie sind und keine Hemmungen davor haben, ihre Bedürfnisse zu äußern.129

„[…] und dann kommen die Mitarbeiter zu einem und sagen, die kann jetzt auch schon ganz schön schimpfen, so war die nie. Sag ich, freut’s euch, wenn die Leute anfangen sich über irgendwas zum Aufregen oder wenn sie sich sagen trauen, dass was nicht passt, weil dann fühlen sie sich wohl und auch sicher.“130

Somit spielen die Selbständigkeit und ein eigenverantwortliches Leben eine sehr wichtige Rolle. Man kann hierbei auch vom Wahren der menschlichen Autonomie sprechen, die es aufrechtzuerhalten gilt, und die es eventuell ermöglicht, Aktivitäten zu entwickeln, an die der ältere Mensch vor seiner Pensionierung nicht annähernd gedacht hätte.131

- Sorgen älterer Menschen

Die genannten Bedürfnisse älterer Menschen gehen natürlich auch mit den damit verbundenen Sorgen einher. Soziale Risikofaktoren sehen alle vier Gruppierungen als eines der Hauptsorgen älterer Menschen. Das heißt, dass das Verlieren von Netzwerken, die man früher hatte, oft Ängste darstellen. Die Gesundheit bereitet dem älteren Menschen weniger Sorgen als das Verlieren von sozialen Kontakten, da diese unersetzbar sind. Im Weiteren stellt der Leidensdruck auf Seiten der eigenen Familie einen sozialen Risikofaktor dar. Oft wird das Aufsuchen von professioneller Hilfe erst dann getätigt, wenn der Betroffene selbst sowie die Angehörigen über deren Reserven hinaus Energie aufgebracht haben.132

Vor allem Probleme, bei denen es um die Existenzsicherung geht, sind von großer Wichtigkeit, wie beispielsweise Geld und Wohnungssicherung. Diese sehen alle ExpertInnen als große soziale Risikofaktoren, wenn es um das alltägliche Leben der älteren Menschen geht.133

Im Weiteren hat die Zielgruppe mit der Vereinsamung zu kämpfen, die auch manchmal dazu führt, dass der ältere Mensch verwahrlost und somit ein Wohnen zu Hause kaum mehr umsetzbar ist. Diesbezüglich wird von den „reflektierten Distanzwahrenden“ auch das

129 Vgl.: Interview 2, 10, Zeile 16; Interview 2, Zeile 58; Interview 8, Zeile 158 und 162.

130 Interview 8, Zeile 158.

131 Vgl.: Interview 3, Zeile 72.

132 Vgl.: Interview 9, Zeile 109-110; Interview 6, Zeile 28.

133 Vgl.: Interview 7, Zeile 16.

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Problem genannt, dass die SeniorInnen in ihren eigenen Wohnungen sitzen und nicht die Möglichkeit haben bzw. das Angebot nicht gegeben ist, sich an einem Gemeinschaftsort zu treffen. Dies wird vor allem von ÄrztInnen als besonderes Merkmal unseres Kulturkreises beschrieben.134

Sowohl für die „distanzlosen Engagierten“ als auch für die „reflektierten Distanzwahrenden“

stellt die Einschränkung der Autonomie ein Besorgnis älterer Menschen dar. Durch Betreuungsformen, die man in Anspruch nimmt, ist es für die Vertreter dieser zwei Gruppierungen (Arzt/Ärztin, HeimleiterInnen, SozialarbeiterIn, Krankenschschwester/Krankenpfleger) immer wieder eine berufliche Herausforderung, die Selbstständigkeit und Individualität der KlientInnen zu wahren und zu fördern. Dabei kommt hinzu, dass es dem älteren Menschen auch schwer fällt, seine Bedürfnisse überhaupt zu definieren, da er sich meist in seiner Situation gefangen fühlt. Dadurch, dass er/sie seine Wünsche nicht mehr artikulieren kann, weil er/sie es nicht mehr schafft, wird der ältere Mensch vom Subjekt immer mehr zum Objekt.135

„[…] weil die Leute bei uns […] als der typische alte Mensch in seiner Situation gefangen ist oder sich gefangen fühlt und nicht wirklich Wünsche definiert…eher jammert er.“136

Aus diesem Grund, dass es eines der Hauptbedürfnisse des älteren Menschen ist, seine Eigenständigkeit und Selbstständigkeit so lange es geht zu behalten, ist, nach Meinung der

„distanzlosen Engagierten“, die Abhängigkeit von Anderen eines der größten Ängste älterer Menschen. Dies ist auch der Grund, weshalb erst dann Hilfe in Anspruch genommen wird, wenn es wirklich nicht mehr geht.137

„[…]Wenn wirklich Feuer am Dach ist, fangen sie an, sich Gedanken zu machen, was brauche ich, weil sie wollen niemandem zur Last fallen.[…]“138

Auch die Scham, Hilfe überhaupt anzunehmen, spielt keine unwesentliche Rolle. Dies betrifft jedoch nicht nur die Betroffenen selbst, sondern auch deren Angehörigen. Meist sind es auch sehr komplexe Familiengeschichten, die die Inanspruchnahme von professioneller Hilfe blockieren.139

134 Vgl.: Interview 9, Zeile 66; Interview 5, Zeile 42-44.

135 Vgl.: Interview 2, Zeile 48; Interview 5, Zeile 60-62; Interview 7, Zeile 29.

136 Interview 5, Zeile 60.

137 Vgl.: Interview 2, Zeile 36.

138 Interview 10, Zeile 10.

139 Vgl.: Interview 7, Zeile 12-16.

50 Fragestellung 2: Aufsuchen professioneller Hilfe

Vorerst gilt es nun zu analysieren, wann Hilfsbedürftigkeit überhaupt erkannt wird und wer den ersten Schritt tätigt, um an professionelle Hilfe zu gelangen.

ExpertInnen, die den „distanzlosen Engagierten“, den „reflektierten Distanzwahrenden“ und den „distanzwahrenden PragmatikerInnen“ zugeordnet werden, äußerten, dass es vor allem die Angehörigen sind, die sich darum kümmern. Diese sind auch diejenigen, die erste Informationen darüber sammeln, wie es später mit älteren Angehörigen weitergehen soll, wenn Hilfe benötigt wird. 140

Alle drei ExpertInnengruppen vertreten die Meinung, dass es ebenfalls die Angehörigen sind, die Altenheime, mobile Dienste und SozialarbeiterInnen aufsuchen, wenn sie mit der Pflege und Betreuung zu Hause überfordert sind bzw. an ihre Grenzen stoßen. Für viele ist es jedoch eine riesige Hemmschwelle, Aufgaben an DienstleistungsanbieterInnen abzugeben, um damit auch Entlastung zu erhalten.141

Oftmals haben nicht nur die Betroffenen, sondern auch die Angehörigen einen Leidensdruck auf Grund jahrelanger Pflege zu Hause aufgebaut. Dieser ist irgendwann nicht mehr zu bewältigen, weshalb sie sich dann an eine Organisation wenden.142

„Und da kommen auch, wenn das innerhalb von einer Familie ist, die Leute so stark an ihre Grenzen und manchmal würde ich mir wünschen, sie wären schon ein halbes Jahr vorher da gewesen um einen Heimplatz, weil es halt oft so ist, dass sich das so aufschaukelt, weil die Überforderung auch so groß wird. Viele der Leute, die die Eltern betreuen, sind selber noch berufstätig […] Und wenn dann den ganzen Tag und die ganze Nacht abdecken soll, das geht an die Substanz.[…]“143

Alle drei zuvor genannten ExpertInnengruppen vertreten ebenfalls die Ansicht, dass Betroffene selbst sich dann Hilfe holen, wenn sie selbst einsehen, dass sie den Alltag alleine nicht schaffen können. Dies kann nach Verletzungen oder Krankheit passieren, bei denen derjenige/diejenige merkt, dass er/sie die nächsten Monate dringend Hilfe von außen braucht.

Dabei ist die Hemmschwelle dennoch sehr groß, sich dies selbst auch einzugestehen. Vor allem von dem Arzt/der Ärztin, der/die den „reflektierten Distanzwahrenden“ angehört, wurde

140 Vgl.: Interview 2, Zeile 44.

141 Vgl.: Interview 4, Zeile 50-52, 64, 116.

142 Vgl.: Interview 9, Zeile 90.

143 Interview 8, Zeile 140-142.

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geäußert, dass es vorwiegend die Betroffenen selbst sind, die die Arztpraxis aufsuchen. Das diesbezügliche Verhältnis für Betroffene und Angehörige wurde mit 9:1 deklariert.144

Des Weiteren sind es auch vorhandene Institutionen selbst, die innerhalb des Bezirks zusätzlich Hilfe für gewisse Problemlagen aufsuchen. So wurden HausärztInnen, Krankenhäuser, Gemeinden und das Sozialreferat der BH Weiz genannt, die die Bedürftigkeit von Betroffenen und Angehörigen erkennen und sich an andere Institutionen wenden, die für die vorherrschende Problemlage als passender empfunden werden. Diese Entwicklung konnte von ExpertInnen der „distanzlosen Engagierten“ beobachtet werden.145