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Baustellen der Parteiengeschichte in der Nachkriegszeit in der Nachkriegszeit

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Die Parteiengeschichte der Schweiz gilt als unterentwickelt, weshalb Historike-rInnen regelmässig zu ihrer Erneuerung aufrufen.4 Sie leidet an der – je nach Partei sehr ungleichen – Quellenlage und an den unsicheren Einsichtsrechten in das Archivmaterial.5 Darüber hinaus wirken auch die Diskreditierung der poli-tischen Geschichte nach dem cultural turn und das Monopol der Politikwissen-schaft über die Parteienforschung seit den 1980er Jahren. So sind parteiverglei-chende Studien zu Fragen nach Listenverbindungen, Professionalisierung, Parteimitgliederaufschwung oder -fi nanzierung hauptsächlich bei den Politik- und Rechtswissenschaft en zu fi nden. Im Gegensatz zu historischen Forschun-gen weisen diese oft keine langfristige Perspektive auf.6 Seit Erich Gruners Werk von 1977 sind Überblicksdarstellungen zu Schweizer Parteien ein rares Gut

ge-3 Dazu Kap. I., Fn. 54.

4 Müller; David: Plädoyer für eine Erneuerung, 2007; Bott; Crousaz; Schaufelbuehl et al.: L’histoire politique en Suisse, 2013; Späti: Historische Parteienforschung in der Schweiz, 2013.

5 Dazu Amlinger: Im Vorzimmer zur Macht?, 2017, S. 38–41.

6 Lachenal: Le parti politique, 1944; Schmid: Die Listenverbindungen, 1962; Meynaud:

Les partis politiques vaudois, 1966; Ayberk; Finger; Garcia et al.: Les partis politiques à coeur ouvert, 1991; Geser (Hg.): Die Schweizer Lokalparteien, 1994; Ladner; Brändle: Die Schwei-zer Parteien im Wandel, 2001; Detterbeck: Der Wandel politischer Parteien in Westeuropa, 2002; Ladner: Stabilität und Wandel von Parteien und Parteiensystemen, 2004; Caroni: Geld und Politik, 2009; Knocks; Fraefel: Freiwilligenarbeit, 2013.

blieben.7 Etliche Studien widmen sich einzelnen Parteien, wobei ihre Anzahl umgekehrt zur Bedeutung der jeweiligen Partei steht. So sind zur FDP in der frühen Nachkriegszeit nur wenige historische Werke vorhanden.8

Bürgerliche Parteien und besonders der Freisinn galten angesichts ihrer strukturellen Schwäche in den Entscheidungsprozessen lange Zeit als reine Legitimationsfassaden für die viel mächtigeren Verbände.9 Ähnlich wie bei Wahlen relativiert der kulturhistorische Ansatz diese Opposition zwischen Zeigen und Machen. So liegt für Fabienne Amlinger die Bedeutung schweize-rischer Parteien gerade in der Funktion als «gesellschaft liche Deutungsins-tanzen».10 Anstatt die Parteien auf ihre Rolle in institutionellen Entschei-dungsprozessen zu begrenzen, lässt sich nach ihrer gesellschaft lichen Relevanz und ihrer Rolle als «kulturelle Unternehmen» (Frédéric Sawicki) fragen.11 Die-sem Ansatz folgten Arbeiten zur BGB, die im Zusammenhang mit der in den 1990er Jahren eingesetzten Umwandlung der Nachfolgepartei (SVP) in eine rechtspopulistische Partei die historischen Ursprünge ihrer Ideologie er-forschten.12 Weitere Studien untersuchten, wie sich die gesellschaft liche Ver-ankerung der Partei im Kanton Zürich ab den 1980er Jahren vom Bauern-milieu zu einer «Zivilgesellschaft von rechts» entwickelte.13 Die Frage nach der katholischen «Sondergesellschaft » und ihren Beziehungen zur CVP

beschäf-17 Gruner: Die Parteien in der Schweiz, 1977; Mazzoleni; Rayner (Hg.): Les partis poli-tiques suisses, 2009; Meuwly: Les partis polipoli-tiques, 2010; Mazzoleni; Altermatt; Epiney (Hg.):

Die Parteien in Bewegung, 2013; Vatter: Das politische System der Schweiz, 2016; Amlinger:

Im Vorzimmer zur Macht, 2017.

8 Meier: Der schweizerische Freisinn, 1978; Dietschi: 60 Jahre Eidgenössische Politik, 1979; Cassidy; Loser: Der Fall FDP, 2015.

9 Jost: Critique historique, 1986; Masnata et al. (Hg.): Le pouvoir suisse, 1995. Zu den Wirt-schaft sverbänden, Hürlimann; Mach; Rathmann-Lutz et al.: Lobbying in der Schweiz, 2016.

10 Amlinger: Im Vorzimmer zur Macht, 2017, S. 43.

11 Sawicki: Les partis politiques comme entreprises culturelles, 2001.

12 Jost: Tradition und Modernität in der SVP, 2007; Skenderovic: Th e Radical Right in Switzerland, 2009, S. 123–172; Skenderovic: Bauern, Mittelstand, Nation, 2013. Dazu Gstei-ger: Blocher, 2002; ZollinGstei-ger: Der Mittelstand am Rande, 2004; Zaugg: Blochers Schweiz, 2014; Hildebrand: Rechtspopulismus und Hegemonie, 2017. Diese Perspektive bestreit ein jüngstes, informationsdichtes aber hagiographisches Jubiläumsbuch über die Zürcher SVP, Mörgeli: Bauern, Bürger, Bundesräte, 2017, S. 15–16.

13 Hartmann; Horvá th: Zivilgesellschaft von rechts, 1995; Schnydrig: Aufstieg und Wandel einer Kantonalpartei, 2007.

tigten die Arbeiten von Urs Altermatt und seinen Mitarbeitenden an der Uni-versität Freiburg.14 Um die Verfl echtungen zwischen Parteien und einer «Son-dergesellschaft » oder auch Wirtschaft sverbänden besser zu verstehen, schlägt Pierre-Antoine Schorderet das soziologische Konzept des Handlungssystems vor. Damit wird die gesamte Akteurskonstellation bezeichnet, welche die Pfl ege der Identität, Kultur und inneren Kohäsion einer Referenzgruppe be-treibt.15 Das Handlungssystem steht nicht schon vorher fest, sondern ent-wickelt s ich erst aus diesen Handlungen. Im Vergleich zu Begriff en wie

«Milieu», «Ghetto», «Sondergesellschaft » oder «Subkultur» hilft das Konzept, die Vielfältigkeit und unterschiedlichen Konfi gurationen der Akteure, die neben den Parteien im Namen einer Gruppe zu sprechen beanspruchen, bes-ser zu berücksichtigen.16 So können im Fall der SP, deren Geschichte ver-gleichsweise gut erforscht ist,17 Beziehungen zu historischen Akteuren der Arbeiterbewegung, etwa den Gewerkschaft en, zusammen mit komplexen Verhältnissen zwischen Abgrenzung, Wettbewerb und Zusammenarbeit mit anderen Linksparteien betrachtet werden.18 Gerade weil sich bei

14 Altermatt; Fagagnini (Hg.): Die CVP zwischen Programm und Wirklichkeit, 1979;

Alter matt: Katholizismus und Moderne, 1989; Zenhäusern: Die Schweizerische Konserva-tive Volkspartei in den 1940er Jahren, 1993; Flury: Von der Defensive zur gültigen Präsenz, 1994; Altermatt: Der Weg der Schweizer Katholiken ins Ghetto, 1995; Altermatt: Die Christlichdemokratische Volkspartei, 2000; Zurbriggen: CVP und die soziale Mitte, 2004.

15 Schorderet: Crise ou chrysanthèmes, 2007, S. 91–92; Lagroye; François; Sawicki: So-ciologie politique, 2012, S. 266.

16 Dazu insb. Bartolini: Th e Political Mobilization of the European Left , 1860–1980, 2007 («social base»; «organisational network»); für die Schweiz Gruner: Die Parteien in der Schweiz, 1977, S. 134 («getto [sic]» oder «Subkultur»); Altermatt: Katholizismus und Mo-derne, 1989, S. 97 («Sondergesellschaft »).

17 Masnata: Le Parti socialiste, 1963; Scheiben: Krise und Integration, 1987; Dommer;

Gruner: Entstehung und Entwicklung der schweizerischen Sozialdemokratie, 1988; Hab-lützel et al. (Hg.): Solidarität, Widerspruch, Bewegung, 1988; Bollinger: Die sozialdemo-kratische Partei der Schweiz, 1991; Degen: Sozialdemokratie, 1993; Kunz: Polarisierung und Desintegration, 2000; Zimmermann: Von der Klassen- zur Volkspartei?, 2007; Degen;

Schäppi (Hg.): Robert Grimm, 2012; redboox; Sozialdemokratische Partei der Schweiz (Hg.):

Einig – aber nicht einheitlich, 2013; Rennwald; Zimmermann: Die SP als Arbeiterpartei, 2013; Rennwald: Partis socialistes et classe ouvrière, 2015.

18 Dazu Degen: Sozialdemokratie und Gewerkschaft en, 1988; Boillat; Degen et al.: La valeur du travail, 2006; Gunten; Voegeli: Das Verhältnis der Sozialdemokratischen Partei zu

fen parteiliche wie nichtparteiliche Akteure im politischen Feld neu positio-nieren, bietet sich ein solcher relationaler, gesellschaft lich verankerter Blick auf Parteien an.

2. Schwache Parteien, starke soziale Verankerung

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