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Wikis können im Rahmen dieser Arbeit nicht umfassend in die Medientheorie eingeordnet werden. Bevor die Barriere der Medienwahl näher thematisiert wird, sollen dennoch einige Bezüge hergestellt werden.

Marshall McLuhan, der eingangs bereits mit seinem Buch „The Medium is the Massage“

zitiert wurde, hat als „Botschaft“ jedes Mediums oder jeder Technik die Veränderung des Maßstabs, Tempos oder Schemas angesehen, die es der Situation des Menschen bringt [152, S. 113]. Die „Botschaft“ eines Wikis wäre somit z.B. die Veränderung der Produzenten- und Rezipientenrollen gegenüber „klassischen“ Massenmedien.

Hans-Dieter Kübler zählt drei große Phasen der Mediengeschichte auf: beginnend bei der Erfindung des Buchdrucks (1) über die Phase der Massenmedien (2) hin zum Aufkommen der Computer (3), die durch Entwicklungen von Alan M. Turing und Konrad Zuse ihren Anfang nahm. Wichtig ist hierbei, dass alle drei Phasen weiterhin parallel existieren:

„Mit jedem neuen technischen Schub haben sich funktionale Differenzierun-gen, veränderte Formen und Inhalte sowie gewandelte Nutzungsweisen erge-ben, aber keines der substantiellen Medien ist gänzlich verschwunden.“ [122, S. 5]

Kübler nimmt hier Bezug auf Wolfgang Riepl, der 1913 behauptete, dass ein neues Medium ein altes nicht komplett verdrängt6 [198]. Nach dem Riepl’schen Gesetz würde also auch ein Wiki keine „älteren“ Medien – wie beispielsweise E-Mail – verdrängen, sondern sich als Komplementär etablieren.

Mediale Kommunikation – wie sie auch mit Wikis bestritten werden kann – definiert Kübler wie folgt7:

„Unter medialer Kommunikation verstehen wir die [...] Form der Kommuni-kation, bei der Zeichen privat oder öffentlich durch technische Verbreitungs-mittel analog oder digital anonym, verschlüsselt oder explizit bei räumlicher Distanz ein- oder wechselseitig an einzelne, mehrere oder viele (Adressa-ten/Zielgruppen) vermittelt werden“ [122, S. 15]

Alexander Richter und ich haben die Medienvielfalt als eine wichtige Barriere der Wiki-Nutzung in Unternehmen identifiziert8. Im Folgenden soll ihr Argumentationsweg nachgezeichnet werden.

Nicola Döring umschreibt Medienwahl damit, „[...] dass der computervermittelten Kommunikation bei gegebenem Kommunikationsanlass immer eine Entscheidung für das Netzmedium bzw. für einen bestimmten Netzdienst und damit gegen ein anderes Medium (z.B. Telefon, Brief ) bzw. gegen das persönliche Gespräch vorausgeht.“ [48, S. 131]. Sie identifiziert weiter die elf wichtigsten Theorien der computervermittelten Kommunikation [48, S. 127ff.], welche sich in technikdeterministisch (medienzentriert) und kulturalistisch (nutzerzentriert) unterteilen lassen. Technikdeterministischen Theorien liegt die Annahme zugrunde, dass die objektiven technischen Medienmerkmale das Verhalten und Erleben der Nutzer bestimmen. Kulturalistische Ansätze betonen demgegenüber, dass Mediennutzer Technologien souverän für ihre Zwecke einsetzen [48, S. 186]. Diese beiden Extreme werden von Döring in ein medienökologisches Rahmenmodell (siehe Abbildung 2) überführt.

Effekte werden hier nicht einseitig auf das Medium oder seine Nutzer bezogen, sondern auf deren Zusammenspiel in der jeweiligen Nutzungssituation. Dieses Rahmenmodell ist nicht

6Riepl schreibt hierzu: „Denn nicht nur die Nachrichtenmittel, ihre Leistungen und Verwendungsmöglich-keiten vermehren und steigern sich unausgesetzt, auch das Gebiet ihrer Verwendung und Ausnützung ist in fortwährender Erweiterung und Vertiefung begriffen. Sie machen einander die einzelnen Felder dieses Gebiets streitig, finden aber in dem fortschreitenden Prozeß der Arbeitsteilung alle nebeneinander genügend Raum und Aufgaben zu ihrer Entfaltung [...]“ [198, S. 5]. Die technischen Träger der Nachrich-tenmittel bzw. Medien wurden allerdings im Zeitverlauf durch leistungsfähigere und billigere abgelöst.

Beispiele sind Schellackplatten, Videokassetten oder Lochkarten [122].

7Kübler legt damit eine „zeitgemäße Fassung“ einer Definition von Gerhard Maletzke [146] vor und trennt nicht mehr grundsätzlich zwischen Massen- und personaler Kommunikation.

8Vgl. [197, S. 429-445] und [196, S. 321-334].

Abbildung 2: Medienökologisches Rahmenmodell nach [48, S. 128]

als eine universelle sozialpsychologische Theorie der Computervermittelten Kommunika-tion zu verstehen. Es will vielmehr dafür sensibilisieren, je nach Fragestellung verschie-dene Theorien gleichzeitig zu berücksichtigen und von ihrer – isoliert jeweils begrenzten – Erklärungskraft zu profitieren. Für den Wiki-Einsatz in Unternehmen sind fünf der elf erwähnten CvK-Theorien9 relevant10(siehe Tabelle 3).

9„CvK“ steht für Computervermittelte Kommunikation, „also die zwischenmenschliche Internet-, Netz-bzw. Online-Kommunikation“ [48, S. 43].

10Nicht relevant in diesem Zusammenhang sind die Theorien, die von anonymen Nutzern ausgehen (Her-ausfiltern sozialer Hinweisreize, Simulation und Imagination, Soziale Identität und Deindividuation), die für Wikis nicht spezifisch genug sind (Digitalisierung) oder für die bisherige Wiki-Erfahrung (noch) zu weit gehen (Soziale Informationsverarbeitung, Wiki-Sprache).

Tabelle 3: CvK-Theorien bezogen auf Unternehmenswikis [48, S. 186f.], [197, S. 437]

Theorie Ansatz Perspektive Erläuterung im Wiki-Kontext1 Rationale technik- Medienwahl Wiki-Einsatz ist nur für einfache Medienwahl deterministisch (nicht: komplexere)

Kommunika-tionsaufgaben geeignet. Ange-messen eingesetzt, ist Wiki eine Bereicherung.

Normative technik- Medienwahl Wiki-(Nicht-)Einsatz wird durch Medienwahl deterministisch soziale Normen im Unternehmen

beeinflusst und erfolgt deshalb oft irrational und dysfunktional.

Interpersonale technik- Medienwahl Wiki-Einsatz wird durch die Me-Medienwahl deterministisch dienpräferenzen der Beteiligten

mitbeeinflusst, wobei die Kommu-nikationspartner sich wechsel-seitig abstimmen müssen.

Kanal- technik- Medien- Wiki ist wegen fehlender Sinnes-reduktion deterministisch merkmale kanäle im Vergleich zu

Face-to-Face-Kommunikation defizitär und unpersönlich.

Wiki-Kultur2 kulturalistisch Mediales Nutzer erschaffen im Wiki eigene Kommunika- Kulturräume mit spezifischen tionsverhalten Werten, Normen, Konventionen

(„Wikiquette“) usw., die ihr Verhalten im Wiki beeinflussen.

1 Der Inhalt dieser Spalte ist mit der Darstellung bei Döring identisch – allerdings wurde „CvK“ durch

„Wiki“ ersetzt [48, S. 187].

2 Bei Döring entspricht dies dem theoretischen Modell „Netzkultur“ [48, S. 187].

Beispielhaft wird nun eine Theorie zur rationalen Medienwahl, die Media-Synchronicity-Theorie, näher auf konkrete Wiki-Praxiserfahrungen bei Bosch bezogen und hinterfragt.

Bei der Entscheidung, welche Medien in einem Unternehmen zum Einsatz kommen sollen, steht man vor einer großen Auswahl: Die sog. „neuen Medien“ wie z.B. Wikis, Blogs, Fo-ren oder Chats stehen in einem harten Wettbewerb zu etablierten Kommunikationsformen wie Telefonie, E-Mails, Face-to-Face (F2F), Intranet oder Dokumentenmanagement-Systemen. Zusätzlich gilt es abzuwägen zwischen synchronem (z.B. Telefonie) und asynchronem Austausch (z.B. Forum). Dabei verfügen synchrone Medien über eine hohe mediale Reichhaltigkeit: Mehrdeutigkeiten und Komplexität können effektiv aufgelöst werden. Für weniger komplexe Situationen produzieren solche Medien dagegen zu viel Mehraufwand, und in diesem Fall wäre z.B. eine asynchrone E-Mail effektiver. Dieser

Korridor effektiver Kommunikation ist also durch eine sog. „Media Appropriateness“

gekennzeichnet, d.h. die Kompatibilität von Medium und Aufgabe. Zum ersten Mal verfügen neue Medien nicht mehr über ein scharf konturiertes Alleinstellungsmerkmal.

Gerade ein Wiki bietet fast alle Merkmale asynchroner Medien.

Aufmerksamkeit in elektronischen Umgebungen

In der heutigen Medienwelt ist nicht mehr die Verfügbarkeit eines Mediums ein knappes Gut (wie früher bei den Broadcasting-Medien Fernsehen und Radio), sondern die Auf-merksamkeit, die der jeweilige mediale Kanal erreichen kann. Inhalte, die früher exklusiv über ein Medium distribuiert werden konnten, finden sich heute in einer Vielzahl von Me-dien wieder, auf die sich die Aufmerksamkeit des Publikums verteilt.

Mediensynchronität

Mediensynchronität ist definiert als das Ausmaß, in dem Individuen zur gleichen Zeit an der gleichen Aufgabe zusammenarbeiten [48, S. 136]. Die in der Media-Synchronicity-Theorie [42], [176, S. 37f.]) für die Medienwahl herangezogenen Unterscheidungsmerk-male verlieren für das Medium Wiki deutlich an Klarheit. Insofern lässt sich die Schwie-rigkeit der Medienwahl bei Wikis im Unternehmenskontext mit der Media-Synchronicity-Theorie begründen. Denn ein Medium, das fast alle fünf im Folgenden genannten Un-terscheidungsmerkmale gleichermaßen erfüllt, muss den Benutzer zwangsläufig vor eine schwierige Wahl stellen.

Geschwindigkeit des Feedbacks Wie schnell kann auf Botschaften reagiert wer-den? Im Wiki ist die Aktualität der Informationen teilweise sehr hoch – dies kann als die grundlegende Eigenschaft dieses Mediums angesehen werden. Ein bekanntes Beispiel innerhalb der Wikipedia ist die Nachricht vom Tod des Enron-Managers Lay. Die Ursa-che seines Todes wurde in seinem Wikipedia-Artikel11eine zeitlang quasi im Minutentakt überarbeitet.

Symbolvarietät Wie viele Symbolsysteme stehen für die Informationsübermittlung zur Verfügung? Dazu zählen nicht nur Grafiken, Tabellen u.ä., sondern auch sozio-emotionale Informationen wie Mimik, Gestik usw. In Anlehnung an die Sprechakttheorie von Sear-le [215] könnte in Wikis zusätzlich noch der „illokutionäre, direktive Akt“ identifiziert werden, wenn eine neu anzulegende Seite vorbereitet und der Link auf sie farblich hervor-gehoben wird – als Aufforderung an den Leser, diese noch fehlende Seite anzulegen und

11Die Todesmeldung von Kenneth Lay in der Wikipedia hat Frank Patalong am 06.07.2006 auf Spiegel Online beschrieben. Vorrangig ging es bei diesem Artikel um ein „Grund-problem der Wikipedia“, den Zielkonflikt zwischen Aktualisierung und Verlässlichkeit. Vgl.

http://www.spiegel.de/netzwelt/netzkultur/0,1518,425351,00.html, letzter Abruf: 15. November 2010.

Tabelle 4: Unterscheidungsmerkmale nach der Media-Synchronicity-Theorie Medium Geschwin- Symbol- Parallelität Überarbeit-

Wiederver-digkeit des varietät barkeit wendbarkeit

Feedbacks

F2F hoch mittel-hoch niedrig niedrig niedrig

E-Mail niedrig- niedrig- mittel-hoch mittel-hoch hoch mittel mittel

... ... ... ... ...

Wiki mittel-hoch mittel hoch hoch hoch

zu beschreiben. An eine Face-to-Face-Umgebung reicht ein Wiki – was die Symbolvarietät angeht – natürlich nicht heran.

Parallelität Manuela Paechter erläutert als Parallelität „die Anzahl an unterschiedlichen Nachrichten, die an einen oder mehrere Empfänger gleichzeitig versandt werden können und welche zur selben Zeit von anderen eingegeben werden können“, und bezeichnet E-Mails und Newsgroups als Medien mit hoher Parallelität [176, S. 36f.]. In diesem Sinne ist auch ein Wiki ein Medium von hoher Parallelität. Verschiedene Mitglieder einer Gruppe können gleichzeitig unterschiedliche Wiki-Artikel eingeben.

Überarbeitbarkeit Wie häufig kann ein Sender seine Botschaft überarbeiten, bevor sie verschickt wird? Im Wiki ist dies beliebig oft möglich: Auch nach dem Speichern kann die Botschaft im Wiki-Artikel noch überarbeitet werden, während eine E-Mail nach dem Versenden nicht mehr geändert werden kann.

Wiederverwendbarkeit Die Wiederverwendbarkeit ist – zusammen mit der Überar-beitbarkeit – eine Kerneigenschaft eines Wikis. Die Empfänger bzw. Leser können die er-haltene Botschaft ohne Medienbrüche gut wiederverwenden, die Verlinkung und Mash-ups sind einfach.

Die genannten Unterscheidungsmerkmale sind bei einem Wiki fast alle „hoch“ ausge-prägt, was die Entscheidung für die Wahl dieses Mediums erschwert und im Folgenden näher ausgeführt wird (vgl. Tabelle 4). Die Media-Synchronicity-Theorie wird, was ihre Grundvoraussetzung der Gegensätzlichkeit von Geschwindigkeit des Feedbacks und Par-allelität angeht, durch Wikis insofern in Frage gestellt, als beide Merkmale gleichermaßen zutreffen. Dass die Medienwahl für den Wiki-Einsatz in Unternehmen eine Barriere dar-stellt, könnte also – aus Sicht der Media-Synchronicity-Theorie – daran liegen, dass sich die Wiki-Merkmale nicht in dem Maß in ihrer Ausprägung voneinander unterscheiden, wie dies bei anderen Medien, z.B. bei Face-to-Face oder E-Mail-Kommunikation, der Fall ist.

Barriere der Medienwahl bei Bosch

Im vorangegangenen Kapitel wurde versucht, anhand der Media-Synchronicity-Theorie zu erklären, warum die Medienwahl im Unternehmen eine Barriere für die Wiki-Nutzung darstellen könnte. In der Praxis bei Robert Bosch hat sich gezeigt, dass als mediale Hauptkonkurrenten der Wikis Face-to-Face-Besprechungen – alternativ dazu Online-Konferenzen – mit Präsentationen, Intranet-Seiten, Fileserver-Ablagen, webbasierte Team-Räume und vor allem die E-Mail-Kommunikation gelten können. Zwischen dem Einsatz dieser sich in ihrer Funktionalität überlappenden Systeme gilt es also klar abzugrenzen. Face-to-Face-Besprechungen und auch Online-Konferenzen werden vor allem dann zu Recht einem Wiki vorgezogen, wenn ein komplexes Sachgebiet mit großem Abstimmungsbedarf verhandelt wird und wenn Präsentationen Teil der Besprechung sind. Der Versuch, in diesem Fall Teile einer Face-to-Face-Besprechung – oder auch eine Online-Konferenz – durch den Einsatz eines Wikis zu ersetzen, hat sich als ungünstig erwiesen.

Die Gewohnheit spielt dagegen gerade bei der E-Mail-Kommunikation eine wesent-liche Rolle. Hier zeigt sich, dass die Nutzer immer wieder daran erinnert werden müssen, die in den Mails gekapselten Informationen im Wiki anderen konsolidiert und aufbereitet zur Verfügung zu stellen. Teile der Intranet-Seiten und der Fileserver-Ablage sind in einem Wiki besser aufgehoben, wenn direkte Interaktion, Verlinkungen ohne Medienbrüche (z.B. zwischen Tabellenverarbeitungs- und Präsentationssoftware) oder eine einheitliche Verknüpfung zwischen Text und Kommentar angestrebt werden.

Webbasierte Team-Räume kommen bei Bosch seit 2006 zum Einsatz. Sie werden vorwiegend für die dokumentenbasierte Projektablage genutzt und bieten gegenüber der Fileserver-Ablage z.B. eine vereinfachte Benutzerverwaltung, Versionierung der Doku-mente, einen editierbaren News- und FAQ-Bereich, individuelle Benachrichtigungsoptio-nen für die Raummitglieder bei Änderungen, Diskussionsforen und Aufgabenverfolgung.

Die Medienwahl im Unternehmen wird außerdem dadurch erschwert, dass die zahl-reichen Kommunikationspartner, also Abteilungen und Projekte in verschiedenen Unternehmensbereichen und Ländern, Kunden, Lieferanten und externe Partner, nicht zwangsläufig dieselben medialen Rahmenbedingungen und Präferenzen aufweisen.