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INFORMATIONEN / INSPIRATIONEN

UNTERNEHMERIN KOMMUNE + FORUM NEUE LÄNDER • MÄRZ 2011

Personalien / Veranstaltungen / Bücher

Das Gespenst des Kapitals

Teure Bücherwürmer, verehrte Leseratten,

das Fazit jeder Rezension sollte eine Lese-empfehlung sein. Sie können unter jeder Buch-besprechung mit einem Blick feststellen, ob sich der Weg zur nächsten Buchhandlung oder der Klick bei amazon.de lohnt. Und was die Symbolik – vom Fünf-Sterne-Gütesiegel bis zur Blauen Tonne – bedeutet, verrät Ihnen die folgende Legende:

Labsal für Grips und Seele.

Man wird deutlich schlauer.

Ganz nützlich, aber es reicht, auf‘s Taschenbuch zu warten.

Unschädlich, und hier und da erbaulich.

Bevor man Anne Will schaut...

Segensreich – aber nur für die Recyclingwirtschaft!

Personalien / Veranstaltungen / Bücher

Diaphanes, Zürich Auflage 2011

ISBN 978-3-03734-116-2 www.diaphanes.net

Vom Privileg des Vergleichs

In jedem Jahr erscheinen in Deutschland rund 80.000 Bücher. Wer behauptet, dass er sich in diesem gigantischen Berg noch zu Recht findet, oder gar in der Lage ist, die wirklichen Rosinen zu picken, ist ein Scharlatan. Ohne Glück hat die Suche nach dem, was wirklich lesenswert ist, die Trefferquote des Lotto-spiels. Hier rede ich nicht vom Sechser mit Zusatzzahl. Auch Dreier sind rar.

Ich hatte das seltene Glück und habe gerade wieder einmal gewonnen. Dank eines Kollegen, der mir „Vom Privileg des Ver-gleichs“ empfahl. Dieser Titel gibt eines meiner wichtigsten Wendegefühle und –erkenntnisse

punktgenau wieder: Ja, ich empfinde es als ein Privileg, dass ich als erwachsener Mensch in Deutschland theoretische und praktische Erfahrungen mit zwei ganz unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen machen konnte, und immer noch machen kann. Nun will ich Sie an dieser Stelle nicht mit meinen Befunden malträtieren. Dieses Fazit werde ich aus der Distanz des Ruhestandes ziehen. So lange dauert’s damit nicht mehr, und so Gott will habe ich die Kraft, es aufzuschreiben, und das Glück, einen Verleger zu finden.

Dieses Glück war Adelheid Wedel und Heike Schneider bereits hold. Sie haben mit dem Leipziger Militzke-Verlag einen sensiblen Partner gefunden, der dem Projekt dieser beiden Autorinnen eine Heimat gab.

Adelheid Wedel und Heike Schneider haben 16 Interviews mit Menschen geführt, die wesentliche Teile ihres Lebens in der DDR verbrachten, und diese Erfahrungen mit jenen in Beziehung setzen konnten, die sie in knapp zwei Jahrzehnten im geeinten Deutschland sammeln konnten. Natürlich ist diese Auswahl höchst subjektiv, und man könnte sich ganz viele andere Mixturen von Interviewpartnern vorstellen. Aber genau darin liegt für mich der Reiz, aber auch die Qualität des Buches. Es sind im besten Sinne Intellektuelle, die sich auf rund 360 Seiten artikulieren. Das Spektrum ist wunderbar farbig, ganz unterschiedlich, und deshalb zeichnen die Interviews auch ein wirklich differenziertes Bild.

Da ist die überzeugte Sozialistin und Wirt-schaftswissenschaftlerin Christa Luft. Da ist der begnadete Regisseur Egon Günther, der ab 1978 wegen der immer rigideren SED-Kulturpolitik sein Schaffen vorwiegend in der Bundesrepublik verlegen musste. Da ist Wolfgang Engel, ebenfalls Regisseur, ebenfalls systemkritisch, aber bis zuletzt versuchend, in der DDR etwas zu ändern. Da sind, um noch einige weitere Namen zu nennen, der Regisseur Andreas Dresen, der Hallenser „Wendepsycho-loge“ Hans-Joachim Maaz, die Kabarettistin Gisela Oechselhäuser, in beiden „Welten“

erfolgreich bis sie 1998 mit ihrer Tätigkeit als MfS-IM konfrontiert wurde, da ist die Schau-spielerin Käthe Reichel, die die legendäre Berliner Großdemonstration am 4. November 1989 maßgeblich mit organisierte, da ist ihr Kollege Peter Sodann, Tatort-Kommissar und PDS-Bundespräsidenten-Kandidat, und da ist schließlich und endlich Friedrich Schorlemmer, der dem neuen großen und geeinten Deutsch-land die Kritik genauso wenig erspart, wie seiner früheren Heimat DDR.

Der älteste Interviewpartner, der Historiker Kurt Pätzold, wurde 1930

geboren, und hat bewusst sogar drei Systeme erlebt. Der jüngste, Andres Dresen, Jahr-gang 1963, vergleicht aus einer ganz anderen Perspektive. Er wurde mitten in die DDR hineingeboren, und hat weder deren Anfänge, noch die widersprüchlichen 50er und 60er Jahre bewusst erlebt.

Der Rezensent dieser Interview-Antho-logie verzichtet ganz bewusst darauf, Ihnen Auszüge aus den Antworten dieser gottlob so verschiedenen Wanderer von Ost nach West als Leseanreiz zu notieren. Das wäre ein Sakrileg. Das Buch ist ja deshalb so stark, so überzeugend, weil es Platz bietet für viele Fragen und für lange und deshalb auch differenzierte Antworten.

Fazit:

Kluge Fragen, mit denen ebenso kluge Antworten „provoziert“ werden, verhelfen uns zu einem wahrhaft intelligenten und dazu auch ästhetischen Lesevergnügen. Einmal mehr wird uns nach der Lektüre bewusst: Mit der vor-herrschenden holzschnittartigen „Bewältigung“

der DDR-Geschichte werden wir auch künftig ebenso wenig einen Blumentopf gewinnen wie mit den platten Vergleichen von Systemen und Diktaturen auf deutschem Boden. Was ich mir wünsche: einen zweiten Teil von „Privileg des Vergleichs“. Mit der Befragung von Menschen, die in Politik und Wirtschaft ihre vergleichenden Erfahrungen gemacht haben.

Rezensent: Michael Schäfer

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Militzke Verlag, Leipzig Wedel/Schneider (Hg.): Vom Privileg des Vergleichs Auflage 2009

ISBN 978-3-86189-822-1 www.militzke.de

Das Ende der Geduld

Kirstens Heisigs Analyse zur Situation jugend-licher Gewalttäter in Deutschland bildete im späten Frühjahr des vergangenen Jahres den Aufgalopp zur Integrationsdebatte. Heute steht ihre Auseinandersetzung mit Problemen und Dysfunktionen der Jugendgerichtsbar-keit in Deutschland zu Unrecht im Schatten Thilo Sarrazins. Heisigs Buch unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht deutlich von den Szenarien, die der ehemalige Bundesbanker zum Untergang der deutschen Nation fand.

Heisig berichtet direkt von der Front und des vergangenen Jahrhunderts zu Fragen der

Nicht-Vorhersagbarkeit von Preisen. „Es steht das Konsistenzverlangen ökonomischer und finanzökonomischer Theorie auf dem Spiel, es geht um die Gestalt ökonomischen Wissens als Wissenschaft überhaupt, ...“.

Fazit:

Anregende, wissenschaftlich fundierte Streit-schrift, die ein Mindestmaß wissenschaftlicher Kenntnisse des Lesers und dessen konsequente Auffassungsgabe zugrunde legt.

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INFORMATIONEN / INSPIRATIONEN

UNTERNEHMERIN KOMMUNE + FORUM NEUE LÄNDER • MÄRZ 2011 nicht aus der gemütlichen Offiziersstube. Sie

macht kein Tabula rasa, sondern begibt sich en detail ins Dickicht kniffliger rechtlicher und institutioneller Zusammenhänge zwischen Polizei, Staatsanwaltschaft, sozialen Ein-richtungen, Jugendgerichtshilfe und Jugend-gerichten. Schließlich entwickelt die Autorin mit dem Neuköllner Modell auch noch ein sehr konkretes, an realistischen Annahmen aus-gerichtetes Lösungskonzept.

Die Vorabdrucke in diversen Tageszeitungen und im Spiegel ließen vermuten, dass auch Heisig sich an einer Zustandsbeschreibung aufhält, die dem sozialen Umfeld im Berliner Problembezirk Neukölln gemäß recht drastisch ausfallen musste. Doch dies ist nur der erste Teil. In der zweiten Hälfte macht sie sich und dem Leser die Mühe einer kleinteiligen Analyse zur Optimierung rechtlicher Instrumente und des Zusammenspiels der Institutionen. Heisig versucht, Wege darzulegen, wie Verfahren gestrafft und damit der Zeitraum zwischen Tat und Urteilsvollstreckung verringert werden kann. Zweite zentrale Forderung ist eine bessere Kooperation zwischen den verschiedenen Institutionen. Schulverweigerung und Straf-fälligkeit gingen in den meisten Fällen Hand in Hand. Seien die Eltern nicht willens oder nicht fähig, positiven Einfluss auf ihre Kinder auszu-üben, müssten die ersten Alarmzeichen eben in den Schulen konsequent aufgenommen und kommuniziert werden.

Der Anteil türkischer und arabischer Jugend-licher an der Gesamtheit junger Intensivtäter in Deutschland ist ungleich höher, als das Quantum, welches diese Migrantengruppen

an der Gesamtbevölkerung Deutschlands ein-nehmen. Auch Heisig zitiert statistische Wahr-heiten, die vor der Integrationsdebatte politisch nicht en vogue waren. Sie pflegt dabei die gleiche schonungslose Offenheit wie der in ihrem Buch oft zitierte Neuköllner Bürgermeister Heinz Buschkowsky. Er war ihr wohl auch ein enger persönlicher Freund. Dennoch zeigen beide nicht mit dem Finger auf einzelne ethnische oder religiöse Gruppen, sondern haben konkrete Vorschläge für ein besseres Miteinander der ver-schiedenen Kulturen im Blick.

Angesichts des Suizids der Autorin unmittelbar nach Veröffentlichung des Buches und im Feuer der heftig tobenden Integrationsdebatte mag es überraschen: Doch „Das Ende der Geduld“ ist eine konstruktive, manchmal fast optimistische Auseinandersetzung mit dem Phänomen jugendlicher Intensivtäter. Allgemeiner Kultur-pessimismus ist Heisigs Sache nicht, obgleich es auch ihr schwerfällt, die insgesamt seit Jahren deutlich rückläufigen Fallzahlen in der Jugend-kriminalität so zu interpretieren, dass wir einer Dramatisierung unterliegen.

Schließlich muss sich eine gestiegene mediale Aufmerksamkeit nicht zwingend in realen Trends abbilden. Kirsten Heisig gehörte aber immerhin zur verschwindend kleinen Gruppe politischer Disputanten, die sich nicht in bildungsbürgerlich und auch ethnisch sehr homogenen Milieus aufhält und daher aus eigener Anschauung aus ihren Erfahrungen zu fehl geschlagener Integration berichten kann.

Fazit:

„Das Ende der Geduld“ ist eine insgesamt sehr lesenswerte Analyse zur Jugendgewalt in Deutschland. Wer eine globale Abrechnung und allgemeine Volten erwartet, wird ent-täuscht werden. Bei aller Sympathie für den persönlichen Einsatz der Autorin wird die mangelnde Distanz zum Thema aber auch zum Problem. Vor allem im zweiten Teil fehlt es Heisigs Buch an Struktur. Der rote Faden geht in verfahrenstechnischen Details verloren. Hier kann sich Heisigs Werk nicht ganz entscheiden, ob es Fachliteratur oder Sachbuch sein will.

Rezensent: Falk Schäfer

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Herder Verlag, Freiburg im Breisgau Heisig: Das Ende der Geduld Auflage 2010

ISBN: 978-3-451-30204-6 www.herder.de

In der Mitte des Lebens

Im Leben Margot Käßmanns haben sich in den vergangenen Jahren eine Reihe von dramatischen Wendungen ereignet. 2006 gab sie bekannt, dass sie an Brustkrebs erkrankt sei und ihr Amt als Hannoversche Landes-bischöfin für zwei Monate ruhen lassen werde.

Nach geglückter Operation und vollständiger Genesung folgte 2007 die Scheidung von ihrem Mann, dem Pfarrer Eckhard Käßmann – ein Schritt, der auch in der eher liberalen evangelischen Kirche einem Tabubruch gleichkam. Dennoch wurde Käßmann von den sie tragenden Gremien weiter unterstützt und vom Rücktritt abgehalten.

Im Oktober 2009 folgte gar der über-raschende Aufstieg zur Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland.

Die damals 51jährige wurde damit zur obersten Repräsentantin der 25 Millionen evangelischen Christen in der Bundes-republik gewählt. Im Februar 2010 folgte

dann ihre verhängnisvolle Alkoholfahrt mit einem breiten Echo in den bundesweiten Medien. Käßmann fuhr mit 1,25 Promille Alkohol im Blut über eine rote Ampel und wurde von der Polizei überführt. Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland sprach seiner Vorsitzenden zwar das volle Vertrauen aus, dennoch entschied sie sich für einen Rücktritt. Sie nannte ihren Fehler „schlimm, gefährlich und unverantwortlich“. Ihre Ämter seien dadurch beschädigt, weshalb sie sie nicht mehr mit der notwendigen Autorität Personalien / Veranstaltungen / Bücher

ausüben könne. Die Konsequenz und Ehr-lichkeit, mit der sie die Verantwortung für ihr Handeln übernahm, brachten ihr eine breite gesellschaftliche Anerkennung. Ohne ihre Spitzenämter arbeitet Käßmann nun wieder als einfache Pastorin der Hannoverschen Landeskirche.

Inmitten dieser dramatischen Wandlungen und angesichts ihres 50. Geburtstages nahm sich die Theologin im Jahre 2009 die Zeit, Herausforderungen und Ängste, Ziele, Zwänge und Träume in der Mitte ihres Lebens zu reflektieren. Angesichts ihrer gerade überstandenen Krebserkrankung sind die Gedanken Käßmanns von einem tiefen Wissen um die Endlichkeit des Lebens getragen. Diese Haltung eines aktiven Bewusstmachens der eigenen Wünsche und Verantwortlichkeiten zieht sich als prägende Konstante durch das gesamte Buch.

Käßmann möchte ihre Gedanken nicht als Lebenshilfe-Ratgeber, sondern eher als theologische Auseinandersetzung mit einem Alter verstanden wissen, in dem die Zeit langsam und immer stärker zum prägenden Faktor für alle Lebensentscheidungen wird.

Angenehm ist an ihrem Buch, das es nicht missionieren will und sich die Autorin nicht als leuchtendes Vorbild, als Supermutti von vier gut geratenen Kindern und als erfolgreiche Karrierefrau präsentieren will.

Käßmann geht mit ihren Selbstzweifeln und ihrer Verletzlichkeit sehr offen und sehr ehr-lich um. Man spürt dies insbesondere, wenn sie über ihre Krankheit und die hämischen Reaktionen nach dem Zerbrechen ihrer Ehe reflektiert. Selbstgerechtigkeit ist Käßmanns Sache nicht. Sie weiß um ihre Defizite.

Unheimlich sind ihr nur jene, die mit Arroganz und Unverständnis die persön-lichen Mängel anderer beurteilen.

Fazit:

„In der Mitte des Lebens“ ist an die Menschen gerichtet, die sich wie Käßmann in einer Phase zwischen Jugend und Alter befinden. Denjenigen, die danach suchen, kann es durchaus Orientierung geben.

Insgesamt zieht sich eine sehr positive, offene, manchmal auch etwas naive Grund-haltung durch Käßmanns Reflexionen.

Leider kommt aber auch sie nicht ohne die üblichen, verschwurbelten Ratgeber-Phrasen aus. Möglicherweise eine Berufskrankheit, sorgt dieser Umstand für unnötige Längen.

Rezensent: Falk Schäfer

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Herder Verlag Freiburg im Breisgau Käsmann:

In der Mitte des Lebens 5. Auflage 2010 ISBN 978-3-451-30201-5 www.herder.de

Die Mutter des Erfolgs / Lob der Disziplin

Ausnahmsweise packen wir aus inhaltlichen Gründen, die Ihnen nach der Lektüre der folgenden Texte sofort aufgehen werden, ein-mal zwei Bücher in eine Rezension.

In den Vereinigten Staaten hat das „Tiger-mutterbuch“ der sino-amerikanischen Autorin Amy Chua eine heftige Kontroverse ausgelöst.

Darin kritisiert die Tochter einer chinesisch-stämmigen Einwandererfamilie eine vermeint-lich verweichvermeint-lichte westvermeint-liche Erziehungsmoral, die aus Angst vor Verantwortung die Potentiale ihrer Kinder nicht mehr heben kann. Kinder seien keine gleichberechtigten Partner, sondern müssten auch mit Strenge und Disziplin an die kommenden Herausforderungen herangeführt werden. Überbordendes elterliches Verständ-nis in vielen westlichen Familien würde den Herausforderungen im späteren Leben dia-metral entgegenstehen. Kinder seien nur dann ausreichend auf die kommenden Härten des Lebens vorbereitet, wenn sie schon in der Familie lernen würden, was Leistungsdruck bedeutet, so Chua.

Die öffentliche Empörung, die sich in den Vereinigten Staaten nach Erscheinen ihres

Buches regte, richtet sich vor allem gegen die Methoden, die Chua selbst bei der Erziehung ihrer Töchter anwendet. Ihre Töchter durften keine Freunde ins Haus bringen, sich ihre Hobbies nicht selbst aussuchen und wurden beständig auf schulischen und gesellschaft-lichen Erfolg getrimmt. Die Jura-Professorin an der amerikanischen Spitzenuniversität Yale beschreibt, dass es ihr niemals in den Sinn gekommen wäre, eine andere Zensur, als eine Eins Plus zu akzeptieren. Ständige Wieder-holung würde schließlich zur Perfektion führen und so gibt es in der Familie Chua erst Essen und Schlaf, wenn ein Musikstück fehlerfrei sitzt. Es entspricht dem Klischee, dass beide Töchter das in doppelter Hinsicht klassische Instrument Klavier lernen mussten.

Schließlich studieren unzählige ostasiatische Künstlerinnen mit Inbrunst an amerikanischen und europäischen Musikhochschulen, um die Stücke europäischer Komponisten endlich in Perfektion aufführen zu können. Das dies nicht umgekehrt ist, hat vielleicht auch etwas damit zu tun, dass der Drang zur Perfektion mit sturer Wiederholung irgendwann die Kreativität tötet. Zugebenermaßen etwas polemisch und bösartig, doch es zeigt letztlich nur die gleiche kulturelle Arroganz, die sich – natürlich aus gegenläufiger sinozentristischer Perspektive – wie ein roter Faden durch Chuas Buch zieht.

Nun ist das von Amy Chua propagierte chinesische Erziehungsideal nicht unbedingt chinesisch, sondern im westlichen Kontext betrachtet, schlicht altmodisch. Auch in Deutschland bildeten Drill und bedingungs-lose Unterordnung einst die Basis einer Erziehungskultur. Es waren die Konzepte derer, die begütert genug waren, sich Bildungs-konzepte leisten zu können, sich mit ihrem sozialen Status aber noch nicht zufrieden gaben oder darum fürchteten, ihn zu verlieren.

Es war das Erziehungsideal einer wirtschaftlich wie technologisch aufstrebenden, hinsicht-lich eines allgemein akzeptierten Wertekanons aber noch unreifen und höchst verunsicherten Nation. Parallelen zum heutigen China sind vielleicht nicht zufällig. Fakt ist, dass die freien Entfaltungsmöglichkeiten, die Kinder heute genießen, eine deutlich lebenswertere und freiere Gesellschaft kreieren, als noch vor hundert Jahren. Nun wird jede soziale Ent-wicklung in regelmäßigen Abständen von den Apologeten der „guten alten Schule“ wieder in Frage gestellt. Wird der richtige Zeitpunkt erwischt, lässt sich mit ein wenig Provokation eine enorme Auflage erzielen. Der in der gesättigten westlichen Welt verbreitete Kultur-pessimismus bildet dafür einen fruchtbaren Boden.

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UNTERNEHMERIN KOMMUNE + FORUM NEUE LÄNDER • MÄRZ 2011 Richtig ist, dass Schüler und Studenten aus

ostasiatischen Elternhäusern in vielen Ländern des so genannten Westens teilweise bessere Ergebnisse erzielen, als die jeweilige Mehr-heitsbevölkerung. In Deutschland sind es die Vietnamesen, die nahezu jedes Ranking in Bezug auf den Bildungserfolg verschiedener Volksgruppen in der Bundesrepublik anführen.

Was wir und andere von ostasiatischen Kulturen lernen können, ist die enorme Ver-ehrung von Bildung und Weisheit sowie der ihnen inne wohnende Aufstiegswille. Die chinesischen „Tigermütter“, wie die Autorin selbst die Protagonistinnen ihres Erziehungs-konzeptes nennt, sind allerdings weniger ein kulturelles, sondern eher das Phänomen einer bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungs-stufe. Und es ist vor allem eine soziale Frage.

In den meisten Familien scheitert der Klavier-unterricht allein am finanziellen Aufwand.

Das gerade in akademischen Elternhäusern zu wenig in die Bildungskonkurrenz mit anderen Kindern investiert wird, lässt sich kaum halten. Vielmehr geht mit der Einkommens- und Vermögensschere auch die Bildungs-schere immer weiter auseinander. Während im Bildungsbürgertum auf frühkindliche Bildung gesetzt wird, Kinder sogar in ethnisch homogenen Familien zweisprachig erzogen werden und großer Wert auf frühe kulturelle Inspiration gelegt wird, macht sich anderswo eine zunehmende Bildungsfeindlichkeit breit.

Möglicherweise erzieht Chua ihre Töchter noch gnadenloser, als ihre Professoren-Kollegen. Doch das die Bildungskonkurrenz bereits an der Wiege beginnt, wurde in diesem Milieu weitgehend verinnerlicht. Bei Neu-ankömmlingen in diesem bildungsbürger-lichen Establishment scheinen der Wille zum weiteren Aufstieg und die Bereitschaft zum Bruch politisch korrekter Normen nur noch etwas stärker ausgeprägt zu sein, als bei etablierten Familien

Fazit:

All dies sind Gründe, weshalb sich Chuas kulturalistische Argumente eines chinesischen Sonderweges nicht halten lassen. Die extrem hohe Selbstmordrate unter koreanischen, japanischen und chinesischen Jugendlichen sollte zudem ein Grund sein, eine immer früher beginnende und immer härter werdende Bildungskonkurrenz kritisch zu hinterfragen. Vor allem in den noch recht jungen Tigerstaaten Korea und China fallen jeden Tag Kinder einem übermäßigen Druck zum Opfer, bringen sich selbst um oder sterben schon in jüngsten Jahren den Stress-Tod. Angesichts dieser in Ostasien weit verbreiteten Phänomene wirken Chuas Ratschläge für noch mehr Härte und Rücksichtslosigkeit einfach unappetitlich. Ihr

Werk ist ein gutes Beispiel für mangelnde Selbst-reflexion und messianische Anwandlungen, die sich bei jungen Aufsteigerfamilien immer dann einstellen, wenn sie den Boden unter den Füßen verlieren. In der Funktion eines Erziehungs-ratgebers ist von diesem Buch nur abzuraten.

Gleiches gilt für Chuas sozio-ethnologische Analyse zur „westlichen“ Erziehungskultur.

Interessant ist eigentlich nur der medien-psychologische Aspekt, wie sich mit geschickt inszenierter Skandalisierung sehr viel Geld und Aufmerksamkeit verdienen lässt.

Rezensent: Falk Schäfer

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Und noch ein Erziehungsratgeber, der im Kern mehr Autorität und Disziplin in der Kindererziehung fordert. Der Autor, Bernhard Bueb, leitete lange Jahre das Elite-Internat Schule Schloss Salem. Die Bildungsstätte am Bodensee kann mit einiger Berechtigung als die renommierteste deutsche Privatschule beschrieben werden. In puncto Erziehung hält Bueb das 20. Jahrhundert für eine Epoche der Extreme. Die pervertierte Disziplin der kaiserlichen Kadettenanstalten und des nationalsozialistischen Erziehungs-ideals hätte ihren Gegenpol in der anti-autoritären laissez-faire-Haltung der 68er Reformbewegten erhalten. Es gelte nun, den Mittelweg zwischen beiden Maßlosigkeiten zu finden.

Die Streitschrift ist ein Appell an die Erwachsenen, mehr Verantwortung für ihre Kinder zu übernehmen und „wieder Mut zur Erziehung“ aufzubringen. Sie fordert dazu auf, die Begriffe Autorität und Disziplin wieder in der pädagogischen Kultur zu etablieren. Bueb hält Ordnung, Selbstüber-windung und Gehorsam für wichtige Stützen junger Menschen auf dem Weg zu innerer Freiheit. Entlasse man Kinder und Jugend-liche zu früh in eine nicht altersgemäße Unabhängigkeit, überfordere man sie. Dies sei schädlich für den Erwerb von Freiheit, denn Freiheit bedeute Selbstbestimmung als „eine spät erworbene Tugend, die viel Disziplin erfordert“. Bis Kinder und Jugendliche diese Selbstdisziplin erwerben, müsse man ihnen Orientierung und Führung geben und auch bereit sein, zu strafen.

Daneben plädiert Bueb nicht ganz uneigennützig für eine verpflichtende Gemeinschaftserziehung durch pädagogische Fachleute. Kinder sollten schon ab dem dritten Lebensmonat ihren überbetreuenden Müttern entzogen werden. Sie würden es viel zu gut mit den Kleinen meinen und sie zu lauter Egoisten erziehen. Ohne Gemein-schaft mit anderen Kindern, werden keine Eifersucht, kein Neid und kein Teilen erlebt.

„Sie erfahren keine Ungerechtigkeit, deshalb bleibt auch Gerechtigkeit für sie ein Fremd-wort“. Aufbauend auf dieser Argumentation fordert Bueb verpflichtende Ganztagsschulen, um Schüler aller Schichten das Glück der Anstrengung sowie des Eingebundenseins in Autorität und Mannschaftsgeist erfahren zu lassen.

Gerade die Forderung nach mehr Disziplin, Autorität und Mut zur Strafe stieß in erziehungswissenschaftlichen Fachkreisen mehrheitlich auf Ablehnung. Die von Bueb propagierte Disziplinierung durch Bestrafung führe eben nicht zu einem positiv veränderten Sozialverhalten, schreibt der Entwicklungs-psychologe Wolfgang Bergmann. Und dazu – das Buch sei in vielen Passagen ungehemmt totalitär. Insgesamt ist es durchaus eine Nach-frage wert, woher Bueb die Expertise nimmt, um sich in der in Deutschland seit Jahren schwelenden Bildungsdebatte zum Welt-erklärer aufzuschwingen.

Die Klientel der ihm in den Internaten Salem und vorher an der Odenwaldschule anvertrauten Kinder ist sicherlich nicht jene, die exemplarisch für die an den Pisa-Studien abzulesende Bildungsmisere verantwortlich gemacht werden kann. Eher schon könnte sich im Verhalten der ihm anvertrauten Oberschicht-Kinder eine zunehmende Ent-kopplung von den Sorgen einer breiten Personalien / Veranstaltungen / Bücher