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Aus grauer Vorzeit

Im Dokument Wolter Plettenberg. (Seite 21-33)

Kein Heldenlied, kein Geschichtsschreiber erzählt uns Nachlebenden von jenen uralten Zeiten, da die Ostküsteu der Ostsee zuerst besiedelt wurden. Nur mühsame Untersuchungen der vergleichenden Sprach-forschnng, die Ergebnisse von Gräberfunden und hier und dort zerstreute knappe Bemerkungen später lebender Chronisten lassen uns durch den dichten Nebel, der die Urzeit deckt, einen nicht gerade weiteindringenden Blick thun.

Kaum in Betracht kommt, was der erste große Reisende, den seine Fahrten über die Säulen des Herkules hinaus führten, der Grieche Pytheas von Marseille, von der großen Insel Baltia erzählt, die sich drei Tagereisen von der seythischen Bernsteinküste ausdehne; auch das, was Tacitus und Pliuius, die beideu römischen Historiker, uus über-liefern, beschränkt sich auf die Nachrichten, daß die Ästier jene entlegenen Gebiete innehaben. Auch die skandinavischen Sagas enthalten kein einheitliches Bild von den Ästuern, deu Ostleuten.

Die Bevölkerung unserer baltischen Heimat vor Ankunft der Deutscheu ist keine national gleichartige gewesen. Während im Süden, also im heutigen Kurland und Semgallen und dem südlichen Teil des eigentlichen Livland, Stämme lettisch-litauischer Rasse siedelten, drangen von Nordosten her, von ihren Sitzen am Ural, sinnisch-ugrische Völkerschaften ein, die Jngermannlaud und Karelien, Est-laud und Nordlivland besetzten, sich au der Küste LivEst-lauds süd-wärts bis über die untere Düna ausbreiteten und wohl zur See auch au bit 2i>cjtfüjte Kurlands gelaugten, wo sie die schwächern und weichern Letten landeinwärts drängten und, von der Küste

Be-sitz nehmend, dem Windau- und Abaufluß folgend, sich ins Innere vorschoben.

Früh schon, wohl im ersten Jahrhundert nach Christo, sind diese Völker mit germanischen Stämmen in Berührung gekommen. Nachweis-bar finden sich im Sprachschatz der finnisch-ugrischen Stämme zahlreiche Anklänge an das Altgothische und so mancher germanische Familienbrauch stößt uns in Sage und Gebräuchen der Esten aus1). In welcher Art freilich diese allenthalben vorhandenen Spuren germanischer Knlturele-mente zu erklären sind, wissen Archaeologen so wenig wie Ethnologen zu sagen. Einige bedeutende schwedische Forscher glauben eine förmliche Be-siedelnng unseres Landes durch Gothen annehmen zu können. Es muß, ist diese Annahme richtig, das gewaltige Reich gewesen sein, welches vom Pontus weit nach Norwesten reichte und unter seinem sagenhaften Ober-könig Hermannerich höchste Blüthe uud zugleich den Sturz durch die Hunnen erlebte. Erst der Einbruch der Hunnen (c. 375) wird den Finnen und Letten die Ostseelande zur Beute gegeben habeu, da die Gothen sie aufgaben. Andere meinen wieder, daß — offenbar als Herrscher — zwischen der finnischen Bevölkerung gothische Stämme ge-sessen haben, noch andere endlich führen die gothischen Kulturelemente ans mercantile Berührung der Jndigenen mit germanischen Kaufleuten zurück.

Wie man sieht, hat die Phantasie freien Spielraum und der Histo-riker muß, da jede Spur an historische Vorgänge, bis jetzt wenigstens, ver-weht ist, will er offen sein, gestehen, daß er nichts von der Gothenzeit weiß.

So ist es denn auch nur unsichere Hypothese, wenn er im Bestreben den Schleier zu lüften uud auch für jenen Zeitraum unsere Lande mit den großen und elementaren Vorgängen in Verbindung zu setzen, das Ende der Gothenherrschaft mit der grausig gewaltigen Gestalt der Gottesgeißel Attila verknüpft. Nur im Zusammenhang mit dieser An-nähme könnte dann wohl auch der weitere Schluß gezogen werden, daß die Befreiungsstunde der Ästner von hunnischer Oberherrschaft fern von den heimischen Fluren auf den katalaunifcheu Gefilden schlug. (451).

Tiefes Dunkel deckt nun auf zwei Jahrhunderte unser Land. Als der Schleier sich langsam hebt, sehen wir normannische Herrschaft, wenig-stens auf den nördlichen Teilen, lasten. Wie hätte auch ein Land,

!) Vergl. L. Schroeder, in den Berichten der Gelehrten estn. Gesellschaft 1887 und Astas von Transehe „Die Eingeborenen Alt-Livlands im 13. Jahrh. in B.

M. 1896 pag. 219ff.

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dessen geographische Lage es zum wichtigen Durchgangspunkt alles Handels machte, der von Persien uud halb Asien durch Rußland nach Skandinavien ging, in Vergessenheit gerathen können? So wurde es das Ziel vielfacher Wikingerzüge und nur zu oft mögen die Hochschnäb­

ligen Meerrappeu an unfern Küsteu gelegen oder die Normannen mit den gewaltthätigeu und seegewandten Kuren und Oeselanern die Massen gekreuzt haben. Als gar die Waräger sich in Nowgorod und Kiew festfetzten und das goldene Byzanz ihnen verlockend winkte, wurde der Weg über Estlaud oder durch die Düua immer wieder von beutelustigen Nordmännern betreten. „In (diesen) längst verschwundenen Jahrhun­

derten durchfurchten die Böte kühner Wikinger die feuchte Straße der Ostsee. Von Skandinaviens Küste setzen die unternehmenden Nord-mannen ans und fahren zu Eysißla's (Oesel) und Tagaithi's (Dagden) Ufern hinüber. Häufig erblicken sie Finnlands Scheeren und lenken in die Mündung der Nu (Newa). Die Düna trägt oft den Verwegenen auf dem Rücken. Kampf und Beute ist fein Ziel, doch auch kostbare Waren führt er ans dem fernen Griechenland in die nordische Heimat.

Es war die Zeit, da nach der alten Sage Gothland des Tages unter-sank, des Nachts aber auf dem Wasser schwamm; noch fehlte der Mann, der das Feuer auf das Land brachte, damit es fortan niemals mehr sinke. Auch an der Küste der heimischen Halbinsel entlang eilte das Boot pfeilschnell dahin und trug den Nordmann zu Kampf und Raub.

Allerorten betrat er das Land und verbreitete Schrecken vor sich her an der ganzen Ostseeküste. Durch das Kattegat drang er vor und richtete seine Fahrt weithin an der Nordsee Usern1)."

Im einzelnen freilich läßt sich für unsere Vergangenheit nur Weniges festhalten: so hören wir, daß 870 skandinavische Scharen ausziehen, um die mächtige Kurenstadt Apule (wohl bei Grüsen in Südkurland) zu erobern. Doch mit Gleichem vergelten die Besiegten. Von manch and mit Zug berichten die eagas, der sich chronologisch nicht einreihen läßt, wie etwa von der Plünderungsfahrt der Esten gegen die Schwedenstadt Sigtuna am Mälarfee, die dem wilden Angriff nicht Stand halten kann und in Flammen aufgeht.

Aber auch zu friedlichem Handelsaustausch kanten die Nor­

1) Konstantin Höhlbanm. „Die Gründung der deutschen Kolonie an der Düna" in den Hansischen Geschichtsblättern Jahrg. 1871/72.

mannen ins Land und noch heute meldet ein in Södermanland ge-fundener Runenstein, den Gigris ihrem Manne Swen errichtet, daß derselbe oft mit reichbeladenem Schiff um Domesnäs herum zu den Semgallern gesegelt sei.

Um die Wende des Jahrtausends wurde Skaudiuavien dem Christentum gewonnen und nun begannen die Normannen auch ihrerseits die Mission. Kanud der Große (f 1030), dem Norwegen, Dünemark und England nnterthänig waren, unterwarf sich Estland und eine zeitlang scheint der Embach die Grenze zwischen dem dänischen Gebiet und dem den Russen zinsenden Landstrich gewesen zu sein.

Aber selbst bis nach Kurland griff die Mission hinunter: König Swen Estridson gründete hier, wahrscheinlich bei Domesnäs, um 1048 eine christliche Kirche. Es wird endlich berichtet, daß kurz vor dem Er-scheinen der Deutschen in Livland Papst Alexander III. den Mönch Fnlco zum Bischof von Estland ernannt und 1171 den skandinavischen Königen die Bekehrung der Esten ans Herz gelegt hat1).

Doch von wirklichen Erfolgen der skandinavischen Priester weiß die Geschichte so wenig zu berichten, wie von glücklichen und dauernden Be-strebungen der slawischen Fürsten im Lande festen Fuß zu fassen-).

Daß dieselben sehr frühzeitig begannen, steht fest, daß die est-nischen, livifchen und lettischen Stämme die Gefahr rasch erkannten und sich zur Wehr setzten, nicht minder. Wohl als Rogwolod in Polozk herrschte, setzten die Russen zuerst ihren Fuß in das mittlere Dünagebiet und heischten Zins und Tribut; doch muß dieser Versuch ein schnelles Ende genommen haben, denn erst viel später (1030) hören wir von neuem Vordringen. Diesmal galt es den Esten, oder wie die alte russische Chronik sagt, den Tschuden: gegen diese zieht Großfürst Jaroslaw I. von Nowgorod, besiegt sie und erbaut, wohl au der Stelle des späteren Dorpat, eine Zwingburg Jurjew. Vorübergehend scheint ein großer Ersolg nicht ausgeblieben zu sein, gegen Ende der Regierung Jaroslaws sollen, wie die Chronik übertreibend erzählt, Esten, Liven, Letten, Litauer, Semgaller, Kuren und Schamaiten ihm gezinst haben. Doch schon nach des thatkrästigen Herrschers Tode

1) cf. Dr. E. von Nottbeck und Dr. Will). Neumann. Geschichte und Kunstdenkmäler der Stadt Reval. I. Lieferung pag. 3. Reval. Kluges Verlag 1896.

2) Siehe hierüber auch Th. Schiemauus „Rußland, Polen und Livland"

II. 5ff. und briefliche Mitteilungen Friedrich von Keußlers.

S e r a p h i m , Geschichte I . 2

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brachen Wirren aus, die 1061 mit der Abwerfung der Knechtschaft und der Zerstörung Jurjews endeten. Ein Menschenalter ging^ vor­

über, ohne daß die Gefahr von Osten sich erneute, erst mit Beginn des 12. Jahrhunderts begann durch den energischen Großfürsten Wla-dimir Monomach der Vordrang nach Westen mit doppelter Stärke.

Seitdem sein Sohn Mstislaw 1116 die wichtige Greuzburg Odeupäh erobert, schien der Kriegszustand an der Grenze sich zu verewigen.

Mag auch 1130 den Esten ein Tribut aufgelegt worden fem, zwei Jahre darauf hören wir von einer großen Niederlage: „es geschah groß Unheil, viel gute Männer aus Nowgorod wurden erschlagen"

und mochte auch wieder zwei Jahre später eine neue Festsetzung in Jnrjew versucht werden, ein Menschenalter danach sehen wir alle Estenstämme in erbittertem Rachezug gegen Pleskan selbst (1177).

Auch eine dritte Besetzung Jurjews im Jahre 1192 durch den Nowgo­

roder Fürsten Jaroslaw, einen Enkel des Mstislaw Wladimirowitsch, und die darauf erfolgte Einäscherung Odenpähs sind Erfolge von ganz vorübergehender Bedeutung gewesen, denn als die Deutscheu sich in Livland festzusetzen begannen, war nur die Landschaft Tolowa an der

obern und Mittlern Aa, der Goiwa noch in loser Tributabhäugigkeit vou den Pleskaueru, während die Dünaliven den Fürsten von Polozk zinspflichtig galten uud stromaufwärts im lettischen Gebiet zwei polozker Teilsürsten in Gereike und Kukenois (Zargrad und Kokenhnfen) resi­

dierten. Eine Mission zur Gewinnung der Seelen hat nicht stattge-snnden und ist eine solche späterhin einmal (1208) in Tolowa und Ugannien versucht worden, so ist sie nicht ernst gemeint gewesen uud ohne allen Nachdruck lediglich wegen der Konkurrenz der Deutschen unternommen worden. In Übereinstimmung mit Allem, was aus deu gleichzeitigen russischen Quellen über die Art der ersten russischen „Herr-schast" in den gegenwärtigen Ostseeprovinzen zu ermitteln ist, charak-terisiert sie vielmehr Heinrich von Lettland (XVI, 2) folgendermaßen:

„Es ist nämlich eine Gewohnheit der Könige der Russen, so oft sie ein Volk bezwungen haben, es nicht dem christlichen Glauben zu unter-werfen, sondern es zu uuterjocheu zum Zahlen von Tribut und Geld."

Wie sah es deuu aber hier zu Laude aus, als auf schnellem Meerschiff die ersten Lübecksahrer zn uns kennen1)?

') Vergleiche das großartige Werk von Dr. Angnst Bielenstein: „Die Grenzen des lettischen Volksstammes und der lettischen Sprache in der Gegenwart

Es ist nicht mehr das wilde Chaos, das einige Jahrhunderte früher das Einzige war, was bestand, eine gewisse Gliederung läßt sich nicht abweisen.

Im Norden bis zum Glint, der jäh ins finnische Meer fällt, saßen auch damals bereits in den heutigen Sitzeu die den Finnen eng oerwandten Esteu, deren Gebiet in eine Reihe noch heute erkennbarer Landschaften zerfiel: Harnen, Wierlaud und Attentaten lagerten am Nordrand bis zur Narowa, die Wieck und Jerwen diesen parallel ins Land hinein. Der Wieck gegenüber saßen auf ihrem Eiland die als verwegene Seeräuber gefürchteten Oefelaner. Der nördliche Teil des heutigen Livland, damals wie heute von Esten besiedelt, umfaßte die Landschaften Sontagana nördlich der Salis, Saccala um Fellin und Ungannien oder Ugannien um Dorpat.

Em Brudervolk der Esten waren die Liven, gleich jenen finnisch-tatarischen Bluts. Um die Wende zum 13. Jahrhundert gliederten sie sich in vier Gruppen, die Dünaliven, die Thoreider, Metsepoler und Idumäer. Die Landschaft der Dünaliven umschloß das Gebiet der späteren Stadt Riga, Düuamündes, Uexkülls bis nach Ascheraden und Lennewarden; Thoreida lag um das heutige Treiden, während Metse-pole sich an der Küste des Meeres bis über die Salis hinaus erstreckte und so viel als Waldgegend bezeichnet. Im Osten stießen die Liven Metsepoles am Bnrtneeksee bereits auf Letten. Die Landschaft Idnmäa,

— wohl livisch für Nordostland, jedoch mit biblisierter Endung, — umfaßte ursprünglich nur das heutige Kirchspiel Roop uud zeigte bereits eine mit Letten gemischte Bevölkerung.

Bon dieser Landschaft gelangte man zu deu Siedlungen der nördlich der Düna lebenden Letten, der Lettgallen, d. h. den

Be-wohnern der Lettenmark. Auch bei ihnen unterscheidet der Chronist vier Sondergebiete, das an der Amera, Tolowa, Autine und schließ-lich die terra incognita ostwärts bis nach Rußland hinein. Die größte Landschaft war Tolowa, das Gebiet beim Wasser, d. h. der liv-ländischen An, welches sich ostwärts bis zum Fürstenthum Pleskau aus­

und im 13. Jahrhundert." Petersburg 1892. Fr. von Keußler: Zur Geogra-p h i e A l t - L i v l a u d s . (М . z. 1. G . X V I , p a g . 321—336) und desselben V e r f a s s e r s Aufsatz in den Sitz. d. A.-G. 1894, desgl. Bielensteins Berichtigungen und Nach-träge im Magazin Band XIX, Stück 3 nnd im Protokoll der 66. Jahresversamm-lnng der Lettisch-Litterär. Gesellschaft.

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dehnte. Autine ist jedenfalls in der Nähe Wendeus zu fllcheu und war wohl nur ein Teil von Tolowa.

Offenbar gleichen Stammes wie die Lettgallen waren die Sem galler an der kurischen oder Semgaller-Aa, nur dialektisch von den Hochletten als Niederletten unterschieden. Auch die Seleu^

die den größten Theil des heutigen sogenannten Oberlandes in Besitz hatten und etwa von Neugut bis Dünaburg saßen, sind als Letten anzusehen, die jedoch den Lettgallen näher standen als den Semgallen.

Das eigentliche Kurland war ursprünglich, wie oben bereits kurz erwähnt, vou lettischen Stämmen bis ans Meer bewohnt, diesem indogermanischen Volk gebührt also die Priorität in diesem Lande.

Doch von der See her kamen ihnen Feinde, die stärker waren, sich an den Flußmündungen und untern Flußläufen festsetzten und den weniger energischen Letten knechteten. Das waren die finnischen Coren oder Kuren, seeräuberische Gesellen, deren Heimat wohl nicht fern von den Kareliern am Onegasee lag, mit denen ihre Sprache die auffallendste Ähnlichkeit zeigt. Eine feste Grenze zwischen ihnen und den Letten gab es nicht, je mehr landeinwärts, desto stärker wurde die Zahl der letzteren, je näher dem Meer, desto kompakter die Maffe der Kuren, deren Element, wie schon hervorgehoben worden ist, gleich den Insel- und Küsten-Esten die See war. Die Schiffe dieser Seepiraten müssen ziemlich groß gewesen sein, da sie nicht nur eine Bemannung von etwa 30 Leuten hatten, sondern auch Bergeraum sür Beute, Vieh und Gefangene. Dabei waren sie leicht und von geringem Tiefgang, um durch die Mündung der Flüsse landeinwärts fahren zu können.

Ueberraschend zahlreich müssen diese Schisse gewesen sein. Erbeuten die Deutschen doch einmal 300 große und viele kleinere Raubschiffe, werden doch auch soust Flotten von 200 Seglern erwähnt, so daß das ganze Meer wie mit einer düstern Wolke überschattet schien.

Alle diese Völkerschaften hatten es auch im 12. Jahrhundert zu keiner festen Form staatlichen Lebens gebracht, nach wie vor erfüllten ewige, meist im Winter unternommene Kriege das Land, in denen die auf Hügeln oder auf Morastinseln, zu denen nur schmale, künstlich errich-tete Dammwege führten, erricherrich-teten Burgen eine große Rolle spielten,

— mit starkem Stein- und Erdwall und Pallisaden befestigte Zufluchtsstätten, iu welche die Angegriffenen ihre Familien und ihr

Vieh bargen1). Mit raffinierter Grausamkeit wütete Feind wider Feind, die Gehöfte und offenen Dörfer, die Saatfelder wurden von den in der Mehrzahl flink berittenen Feinden verbrannt, an den Ge-fangenen schändliche Martern verübt, um sie zum Geständnis über die versteckte oder vergrabene Habe zu bewegen.

So wütete der Este gegen den Letten, der Kure gegen den Liven, aber auch der Este gegen den Esten, der Lette gegen den Letten. Denn überaus schwach entwickelt war das Rassegefühl, persönliche Unbill, Habgier, Rache drängten es allenthalben zurück. Wie hätte es auch bei der Zersplitterung in größere und kleinere Stämme, Landschaften und Gaue deren Zusammenfassung zu einem Ganzen nur höherer Kultur gelingen konnte, anders sein können. Mehr als bei den übrigen Völker-schaften läßt sich vielleicht bei den Esten eine Art nationalen Zusammen­

hanges nachweisen, wenngleich die Jnsel-Esten und die Festlands-Esten meist in heftiger Fehde gegen einander standen. Augenscheinlich war auch hier der Zusammenhang, so weit er überhaupt bestand, sehr locker.

An der Spitze der einzelnen Gaue wie der größern Landschaften standen Häuptlinge, die sich sozial nnd politisch über die Masse der andern Volksgenossen emporhoben, die Führer im Kriege bildeten, von den Deutschen als die Repräsentanten des Gaues oder der Landschaft angesehen wurden und durch den Einfluß ihrer Person wie ihrer Sippe eilte Art Erblichkeit der Wurde erworben hatten. Wir werden uus den Wirkungskreis dieser offenbar zahlreichen Häuptlinge recht weit zu denken haben, ohne deshalb ein streng geregeltes Herrschaftsverhültnis annehmen zu können. In jedem Fall finden wir hier den Ansatz zu ständischer Gliederung, zu einer nationalen Aristokratie, die über den im Übrigen zweifellos persönlich freien Stammesgliedern stand. Ein­

zelne dieser Häuptlinge werden durch Weisheit, kriegerische Gaben und ehr­

würdiges Alter thatsächlich einen emineuten Einfluß auf alle Stammes-genossen, weit über den Gau oder die Landschaft, ausgeübt haben, wie z. B. anzunehmen ist, daß des Liven Kaupos Namen allenthalben

*) Die Anlage dieser Burgen sagt Transehe 1. c. zeugt zugleich von nie-driger Kultur und großer Energie der Erbauer. Da die Eingeborenen die verbin-dende Kraft des Mörtels nicht kannten, so waren sie genötigt, ihre Wälle dämm-artig aus Erde und Steinen mit sehr breiter Basis auszuführen, was ungeheure Massen von Material und mithin sehr viel Arbeitskräfte erforderte. Man hat

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im Livenlande einen hellen Klang hatte. Der bedeutenden Persönlichkeit hat eben zu allen Zeiten die Masse sich gebeugt1).

Während die Lette« nach Südwesten bis in die Gegend von Memel itnd auf der Knrischen Nehrung gesessen zu haben scheinen, wurden sie im Süden durch die indogermanischen Litauer abgelöst, die jedoch schou außerhalb des eigeutlicheu Kurlands hausten. In der Geschichte unserer Lande haben die litauischen Stämme, vor allem der schamai-tische, eilte Rolle gespielt, deren Spuren mit Blut bezeichnet waren.

Kampf und Schlacht schien ihnen fast Leben. Unstät und räuberisch zogen sie beutegierig wie verhungerte Wölfe durch die Grenzen der Letten, Liven und Esten und selbst Nowgorod und Pleskau erzitterten vor ihrem Anprall. Dann kehrten sie, auf großen, dazu mitgeführteu Wagen die reiche Beute fortschleppend, in ihre Wälder zurück, gleich bereit, von neuem sengend und würgend über die Schwächeren her-zufallen. Wurden sie unvermutet angegriffen, so schoben sie die Wagen zu einer Wagenburg zusammen und trotzten auf's tapferste. Selbst die Weiber kämpften mit und die Witwen erdrosselten sich wohl selbst, um dem heldenhaften Mann in die ewigen Jagdgründe folgen zu können. Wie ein Heuschreckeuschwarm sind sie auf ihren schnellen Rossen da; ehe man sich zur Wehr setzt, ist alles vernichtet und nur die Flammen der Dörfer und das Wehklagen der Fortgeführten be-zeichnet ihre Spur.

Der Kulturzustaud all dieser Völker, vou denen wohl die Litauer ihre lettischen Brüder, die Letten gewiß die estnisch-livisch-knrischen

Der Kulturzustaud all dieser Völker, vou denen wohl die Litauer ihre lettischen Brüder, die Letten gewiß die estnisch-livisch-knrischen

Im Dokument Wolter Plettenberg. (Seite 21-33)