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Die Landesarbeitsgemeinschaft Baden-Württemberg aus der Sicht eines langjährigen ARL-Referenten

1 Aufbruch der ARL in die Bewährung

2 Die Landesarbeitsgemeinschaften im Wandel

3 Die LAG Baden-Württemberg – eine persönliche (Ein-)Schätzung

1 Aufbruch der ARL in die Bewährung

Als Prof. Dr. Werner Ernst1 1971 zum 5. Präsidenten der Akademie für Raumforschung und Landesplanung (ARL) gewählt wurde, war die Gesellschaft im Aufbruch, heraus aus der Nachkriegszeit (Wiederaufbau und Wirtschaftswunder) zu einem Bewusst-seinswandel. Aufgerüttelt durch die Studentenunruhen in Deutschland und Frankreich, den Vietnamkonflikt, die Studie des Club of Rome über die Grenzen des Wachstums (1972), den ersten Ölschock und die Automatisierung in der industriellen Produktion, den Anstieg von Arbeitslosigkeit kam es unter dem Heranwachsen einer computerisier-ten Informationstechnologie und der Ausbreitung der Automation zu anhalcomputerisier-tenden sozio-ökonomischen Veränderungen. Diese blieben nicht ohne Folgen für die Institutionen und die Gesellschaft.

Für die Hochschulen z. B. bedeuteten die studentischen Unruhen ein qualitativ neues Verhalten eines Teiles der Studierenden. Die Professorenschaft kam unter Druck. Nach dem Vorwurf „Unter den Talaren Muff von 1000 Jahren“ wurde es notwendig, die im Bereich der Hochschulen als autoritär empfundenen Strukturen an den Zeitgeist anzu-passen und darauf angemessen zu reagieren.

Indirekt unterlag damit auch die ARL dem gesellschaftlichen Druck, erst recht, als al-le von den Ländern gemeinschaftlich finanzierten wissenschaftlichen Institutionen nach 1975 neu zu bewerten waren. Die Große Koalition von 1966 hatte den Artikel 91b des Grundgesetzes dahingehend erweitert, dass der Bund sich an der Finanzierung überregi-onaler Forschungseinrichtungen im gesamtstaatlichen wissenschaftlichen Interesse beteiligen könne. Das „Königsteiner Abkommen“ aus dem Jahr 1949 wurde 1975 in die sog. „Blaue Liste“2 überführt. Ein eigens dafür eingesetzter Wissenschaftsrat evaluierte seit 1979 die in die Finanzierung zu übernehmenden wissenschaftlichen Einrichtungen.

1 8. Präsidium 1971–1974: Staatssekretär Prof. Dr. Werner Ernst (Präsident), Senatsdirektor Prof. Dr. Olaf Boustedt und Prof. Dr. Heinrich Hunke (Vizepräsidenten).

2 So hatten z. B. nur Einrichtungen, deren Haushaltsvolumen über 1 Mio. DM lag, Aussicht, weiter finanziert zu werden. 46 Einrichtungen wurden in die „Blaue Liste“ übernommen, unter ihnen auch die ARL. Durch das Großpro-jekt „Deutscher Planungsatlas der Länder der Bundesrepublik“ war seinerzeit das Finanzvolumen für Forschungsmit-tel aufgestockt worden. Damit konnte das Kriterium der Haushaltshöhe erfüllt werden.

Die Forschungsstruktur der ARL war bis Anfang der Siebzigerjahre, vereinfacht ge-sagt, durch 19 „fest gefügte“ Forschungsausschüsse3 mit traditionellen Aufgaben zur

„Grundlagenforschung“ geprägt. Da die Forschungsausschüsse über viele Jahre ge-wachsen und existent waren, galten sie als bewährt. Von den Ordentlichen Mitgliedern der ARL trugen 1972 rund 70 % den Professorentitel.4 Sie erwarteten, dass in der ARL die bisherige strukturelle Ordnung stabil bleiben werde.

In diese „statische“ Struktur eingegriffen und Veränderungen eingeleitet zu haben, ist das Verdienst des 8. Präsidiums unter Vorsitz von Prof. Dr. Werner Ernst und dem Wis-senschaftlichen Sekretär Dr. Karl Haubner.5 Als ehemaliger Bundesrichter und Staat-sekretär, unter dessen Amtszeit 1965 das Raumordnungsgesetz der Bundesrepublik ent-standen war, besaß Ernst reiche politische Erfahrung und vermochte als eine zielstrebige und ergebnisorientierte Persönlichkeit überzeugend in die Mitgliederversammlung hin-ein zu wirken. Shin-einem Weitblick und shin-einer Überzeugungskraft dürfte es zu verdanken sein, dass „Innovationsdefizite“ der überkommenen Akademiestruktur zum rechten Zeitpunkt abgebaut werden konnten. Er setzte Impulse und bewegte Mitstreiter zu Ver-änderungen, die die beharrenden Kräfte aus ihrer „Weiter-so-Haltung“ zu lösen ver-mochten.6 Beispielhaft für diese Diskussion sei hier aus dem Beitrag in den Nachrichten 1972 zitiert:7

„Forschungsprogrammierung und Schwerpunktbildung im Bereich dieser Grundlagen-forschung

ƒ können u. a. dazu beitragen, die Freiheit der Forschung einzuengen, das Erkennen bestimmter Forschungsaufgaben zu behindern und die Auffindung von nutzbrin-genden Erkenntnissen von vornherein zu unterbinden“ und

ƒ „werden aber mittel- und langfristig mit höchster Wahrscheinlichkeit mehr Nachtei-le als VorteiNachtei-le bewirken“.

1972 wurde auf die jährlich stattfindende Wissenschaftliche Plenarsitzung verzichtet, da eine Präsentation in der Öffentlichkeit während der intensiven Strukturdiskussion von den Mitgliedern gescheut wurde.8 Ein Kernsatz aus dem Munde der aufgebrachten Ordentlichen Mitglieder (OM) dieser Zeit lautete: „Wir verlieren unsere Heimat“. Um dieses Anliegen aufzugreifen, wurde vom Präsidium beschlossen, Sektionen, die später mehrfach neu strukturiert und 20029 ganz aufgelöst wurden, neu zu beleben. Sie sollten jenen Mitgliedern, die nicht gerade aktiv in einem Arbeitskreis waren, weiterhin die Möglichkeit zur Kontaktpflege geben. Bei immerhin 19 Gremien und 5 Landesarbeits-gemeinschaften hatte vor der Reform etwa jedes vierte OM einen „eigenen fachlichen

3 I. Allgemeine Fragen wissenschaftlicher Arbeit, II. Raum und Natur, III. Raum und Landespflege, IV. Raum und Bevölkerung, V. Raum und Landwirtschaft, VI. Raum und gewerbliche Wirtschaft, VII. Raum und Energie, VIII.

Raum und Verkehr, IX. Raum und Fremdenverkehr, X. Raum und Finanzen, XI. Stadtforschung, XII. Historische Raumforschung, XIII. Regionale Bildungsplanung, XIV. Recht und Verwaltung, XV. Stadtplanung, XVI. Themati-sche Kartographie, XVII. Raum und Siedlung, XVIII. Methoden der empiriThemati-schen Regionalforschung und XIX. Zent-rale Orte (Arbeitskreis).

4 Vgl. Akademie für Raumforschung und Landesplanung (1996): 50 Jahre ARL in Fakten. Hannover, S. 4 ff.

5 ab 1985 Generalsekretär.

6 „Nach intensiven Aussprachen im Kuratorium (17.03.1972, 17.11.1972.), in der Mitgliederversammlung (20.10.1972), im Wissenschaftlichen Rat (17.03.1972, 13.12.1972), mit den Leitern der Forschungsausschüsse (8.02.1973), nach mehrfachen Beratungen im Präsidium sowie nach zahlreichen Gesprächen mit interessierten Mit-gliedern und Mitarbeitern hat das Präsidium am 13.03.1973 beschlossen, die bestehenden Forschungsausschüsse durch themenbezogene und zeitbegrenzte Arbeitskreise abzulösen“; Nachrichten der ARL, Nr. 8, Juli 1973, S. 2.

7 Frhr. v. Malchus, V.: „Bringt Schwerpunktbildung in der Raumforschung die Landesentwicklung weiter?“ Nach-richten der ARL, Nr. 6, S. 1–7, Mai 1972.

8 ARL-Jahresbericht 1972, S. 15.

9 Satzung der ARL vom 14.02.2002. Ein jährliches Treffen der älteren OM hat seitdem die soziale Sektionsaufgabe übernommen.

Die LAG Baden-Württemberg aus der Sicht eines langjährigen ARL-Referenten

Aktionsbereich“. Die vielen verschiedenen frei zu gestaltenden Aufgabenfelder machten für die ARL-Mitglieder, deren Zahl begrenzt war, eine Mitwirkung interessant.

Unter dem gesellschaftlichen Wandel wurden aber Strukturveränderungen notwendig, die sich gewöhnlich auch in Änderungen der Satzung bzw. Geschäftsordnungen nieder-schlugen, die bis heute nachwirken und die durch eine gewisse Eigendynamik weitere Veränderungen nach sich zogen. Dies betraf viele Punkte wie:

ƒ Bildung von Schwerpunkten der künftigen Forschungstätigkeit;

ƒ Ersetzen der 18 Forschungsausschüsse zur Grundlagenforschung durch eine Ar-beitskreisstruktur (mit einer eng definierten Aufgabe, zeitlicher Begrenzung auf 3 Jahre und jeweils einer neuen themenbezogenen fachlichen Zusammensetzung) so-wie Strukturveränderungen bei den Landesarbeitgemeinschaften, damals 5, heute 7 infolge der Wiedervereinigung;

ƒ das Verfahren der OM-Zuwahl (zahlenmäßige und fachliche Erweiterung, stärkere Öffnung für Verwaltung und Politik). Zuletzt wurde 2002 die lebenslange Mitglied-schaft durch eine 10-Jahres-Wahlperiode abgelöst;

ƒ Umrisse eines Forschungsprogramms (inzwischen fester Bestandteil als Orientie-rungsrahmen, Arbeitsprogramm und Finanzierungsplanung);

ƒ neue Kooperationsstrukturen (Koordinierungsausschuss, Deutsch-Schweizerische Arbeitsgespräche, Kooperation mit dem Verband Deutscher Schulgeographen u. v. a.);

ƒ Europäisierung der Forschung (Europäische Arbeitsgemeinschaften, europäische Arbeitskreise);

ƒ Forderung nach mehr Praxisbezug (Kuratorium, Vertreter der Länder);

ƒ Bündelung der Veröffentlichungsreihen auf klar abgegrenzte „Säulen“ (heute:

Grundlagenwerke, Forschungs- und Sitzungsberichte, Arbeitsmaterial, Studies in Spatial Development, Positionspapiere sowie, seit 2007, E-Paper als elektronische Veröffentlichung).10

ƒ Herausgabe der Nachrichten (Nr. 1 im Mai 1971) in zwangloser Folge, um die Mit-glieder und Mitarbeiter über das Geschehen innerhalb der Akademie, vor allem über die Ergebnisse abgeschlossener und die Planung neuer Arbeitsvorhaben zu unter-richten.11

Diese entscheidenden Schritte zur Strukturveränderung in der ARL-Forschung waren gerade rechtzeitig eingeleitet worden, um in den Evaluierungen im Zusammenspiel mit den gesetzlichen Änderungen, wie z. B. später auch infolge der Wiedervereinigung,12 zu bestehen. 1992 wurden 34 wissenschaftliche Einrichtungen der ehemaligen DDR in die

„Blaue Liste“ aufgenommen, die damit 81 Einrichtungen umfasste. Die Zahl der Mitar-beiter wuchs von 5.000 auf 9.000 an. 1990 schlossen sich Einrichtungen der „Blauen Liste“ zur Vorläuferin der Wissensgemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibniz e. V.

(WGL), oder in Kurzform „Leibniz-Gemeinschaft“ genannt, zusammen. Ziel dieser Gemeinschaft ist, ihre Anliegen gemeinsam zu vertreten, um mit den anderen

10 1972 Forschungs- und Sitzungsberichte, Arbeitmaterial, Sonderveröffentlichungen (heute Grundlagenwerke), Abhandlungen, Beiträge, Deutscher Planungsatlas.

11 Inzwischen im 38. Jahrgang mit zurzeit vier Heften pro Jahr sowie Internetausgabe und Homepage als weitere Informationsebene.

12 Art. 38 des Einigungsvertrags v. 31.08.1990 (BGBl. II 1990, S. 885) zur Eingliederung der Wissenschafts- und Forschungslandschaft der ehemaligen DDR in das bundesrepublikanische System.

schaften13 der Wissenschaftslandschaft mithalten zu können und zugleich auch Regeln für ergänzende Forschungsmittelvergaben zu installieren, mit dem Fokus auf „Exzel-lenz“. Dass unter diesem Fokus eine veränderte wissenschaftliche Kultur heranwächst, wird an den Rankings und den Kriterien für die Mittelvergabe deutlich.

Die ARL hat sich 1997 der WGL angeschlossen und unterliegt den Evaluierungsver-fahren der öffentlich geförderten Einrichtungen des Wissenschaftlichen Rates bzw. seit 2001 dem externen Evaluationsverfahren der WGL. Zunehmend wurde die „externe Evaluierung“ zum Kern der Prüfungen. Die ARL trug dem Rechnung, indem sich z. B.

der Wissenschaftliche Beirat heute aus Nicht-Akademiemitgliedern zusammensetzt.

Der Änderungsdruck, der für die Beteiligten durch die Evaluierungen entsteht, ist nicht zu unterschätzen. Im Wettbewerb müssen Kriterien eingehalten und Ergebnisse bei Strukturanpassungen erreicht werden. Bisher hat die ARL sich infolge ihrer Anpas-sungsschritte und ihrer wissenschaftlichen Aufgabenstellung weitgehend erfolgreich behaupten können. Doch im Wettbewerb um Forschungsmittel und unter der Beweis-last, eine „nützliche“ Disziplin mit effektivem Management zu sein, wachsen – für die Wissenschaft ganz allgemein – sich ändernde Anforderungen im Rahmen des globalen Wissenschaftsaustauschs heran. Exzellenz, internationale Kommunikationsfähigkeit, naturwissenschaftliche Erkenntnisse mit industrieller Anwendung und global gespannte Netzwerke müssen stärker hervortreten. Es gilt, sich den großen Herausforderungen wie Bevölkerungsentwicklung, wirtschaftliche Entwicklung, Friedensforschung, Klimawan-del u. v. m. zu stellen. Wissenschaft muss sich auf eine verstärkte gesellschaftliche Sen-sibilität einstellen, die Positionen und Inhalte zunehmend stärker hinterfragt.

Weiterentwicklung unter diesen Vorzeichen bedeutet dann, an den Bedarf der Zivil-gesellschaft zu denken, Wissen zu erarbeiten, das Diskussionen über das, was zu wol-len, was möglich und was nützlich ist, auslösen kann. Die akademische Aufgabe der Erzeugung und Bündelung von Wissen allein wird unzureichend sein, wenn sie nicht auf dem international ausgerichteten Wissenschaftsmarkt richtungweisende Impulse gibt und auf die Gesellschaft einwirkende und verwertbare Erkenntnisse hervorbringt, die nachgefragt werden.