• Keine Ergebnisse gefunden

4.1   Fundgut, Befunderhebung und Auswertung 4.1.1  Fundgut und Befunderhebung4.1.1  Fundgut und Befunderhebung

4.4.2   Apicale Prozesse und Parodontopathien

Zu den apicalen Prozessen fiel bei der Auswertung der Ergebnisse auf, dass sie überwiegend durch kariöse Infektionen der Zähne oder starke Abrasionen hervor-gerufen wurden, selten aber durch Parodontopathien. Taschenbildungen konn-ten nur in wenigen Fällen beobachtet werden, obwohl die Häufigkeit von Paro-dontopathien allgemein im Fundgut der Population aus Calden bei etwa 65% (n = 354 von 545) lag (4% Taschen; n = 13), in der Population aus Rheine bei etwa 71%

(n = 17 von 24; keine Taschen) und in der Population aus Großenrode bei etwa 39%

(n = 114 von 294; 1% Taschen (n = 1)). Es wurden also häufig Parodontopathien di-agnostiziert; Taschen fanden sich aber nur selten. Bei den Zahnfunden aus Calden könnte man eine Korrelation von neun apicalen Prozessen mit gleichzeitig diagnos-tizierten Taschen am selben Zahn annehmen. Insgesamt konnten bei der Population aus Calden 59 von 586 apicale Prozesse diagnostiziert werden (10%). Für die Popu-lation aus Rheine liegt die Häufigkeit von apicalen Prozessen bei neun von 51 (18%) und für die Population aus Großenrode bei 22 von 547 (4%). Bei den beiden letzte-ren Populationen traten keine Taschen in Kombination mit apicalen Prozessen auf.

Dentale Abszesse und ausgeprägte, eitrige Parodontopathien können im Oberkie-fer mit Sinusitiden der KieOberkie-ferhöhle in Verbindung gebracht werden (Schultz et al.

2008), besonders bei den Oberkieferprämolaren und –molaren. Die Häufigkeit der

Sinusitiden, beispielsweise des Sinus maxillaris war sehr hoch bei den Populationen aus Calden und Großenrode. Für die Population aus Rheine sind dazu keine Aussa-gen möglich, da die Fundstücke zumeist unbefundbar waren. In der Population aus Calden waren apicale Prozesse nur in 22% (n = 13 von 59) der Fälle größer als Grad II. Die Gradierung reicht bis Grad V; dieser wurde aber in keiner der Populationen erreicht. Grad IV wurde in der Population aus Calden in drei Fällen (5%) festgestellt und trat in den Populationen Rheine und Großenrode gar nicht auf. Diese Zahlen sprechen eindeutig gegen eine generelle Korrelation von Kieferhöhlenentzündun-gen und apicalen Prozessen. Es müsste schon mindestens ein Grad III erreicht sein, um eine Beteiligung der Kieferhöhle nachzuweisen. Bei den drei Fällen aus Calden mit Gradierung IV handelte es sich um die Regionen der Zähne 16, 18 und 47. Nur die erst genannten Zähne kommen dabei überhaupt infrage, eventuell eine ent-zündliche Reaktion der Kieferhöhle hervorgerufen zu haben. Die entsprechenden Regionen befanden sich in Heilung, nachdem die Zähne intravital verloren gegan-gen waren; dabei waren die Alveolen zum Todeszeitpunkt noch nicht verschlossen.

Ein mögliches Szenario wäre in diesem Fall, dass tatsächlich eine odontogene Sinu-sitis maxillaris und ihre Ausbreitung über einige Zeit eine Sepsis hervorgerufen und dann nach wenigen Tagen zum Tode geführt hat. Das würde erklären, warum die Alveolen genau dieser Zähne noch nicht vollständig verschlossen waren.

Schwere, eitrige Parodontopathien kamen in der Population aus Rheine nicht vor.

Grad IV und V konnten nicht festgestellt werden. Bei der Population aus Calden gab es drei Fälle (1%) mit Grad V und neun Fälle (3%) mit Grad IV. Die anderen 327 (97%) dokumentierten Fälle von Parodontopathien entsprachen Grad I, II oder III. Vier der Fälle betrafen Prämolaren oder Molaren des Oberkiefers; diese wiesen Grad IV auf. Eine Entzündung der Kieferhöhle aufgrund dieser Parodontopathien wird in diesen Fällen nicht angenommen. Bei der Population aus Großenrode gab es einen Fall mit Grad I (1%) und vier Fälle mit Grad IV (4%). Die anderen 95% (n = 109 von 114) repräsentierten Grad III oder weniger. Von diesen betraf nur einer (Grad IV) den Oberkiefer-Seitenzahnbereich. Jedoch konnte hier an dem entsprechenden Oberkieferfragment keine Spur einer Sinusitis maxillaris festgestellt werden.

4.4.3  Abrasionen

Zahnabrasionen sind ein multifaktorielles Geschehen. Sie werden durch Zusam-mensetzung und Konsistenz der Nahrung sowie Kultur, Alter und Geschlecht der Individuen beeinflusst (Eshed et al. 2006). Der zum Teil sehr hohe Grad an Abrasionen (Vergleich Abbildungen 177, 179, 180 und weitere Aufnahmen bei den Befunden im Anhang) und ihre große Häufigkeit könnten folgende Hintergrün-de haben: Zum einen kann anhand Hintergrün-der ZahnfunHintergrün-de angenommen werHintergrün-den, dass die

Neolithiker aus Calden, Rheine und Großenrode faserreiche Nahrung zu sich ge-nommen haben, zum anderen kann durch Mahlen von Nahrungsbestandteilen (an-zunehmen ist in diesem Fall Getreide) ein erhöhter Anteil aus Staub von Mahlsteinen in die Nahrung gelangt sein - wie es bei vor- und frühgeschichtlichen Ackerbauern üblich war. Weiterhin geben einige Fundstücke Hinweise darauf, dass die Zähne auch als Werkzeug verwendet wurden. Dabei wurden Gegenstände immer wieder in ähnlicher Art und Weise zwischen die Zähne genommen, die z. B. als Schneide-werkzeuge für Kornwickel oder als Haltewerkzeug bei der Herstellung von Uten-silien genutzt wurden. Bei zahlreichen Zahn-/Kieferfundstücken der Populationen aus Calden, Rheine und Großenrode war eine schräg abradierte Zahnfläche zu be-obachten. Das mit den Zähnen bearbeitete Material wurde z. B. für die Herstellung von Körben stets in ähnlichem Winkel angesetzt (Siehe Abb. 178) und hinterließ das beschriebene signifikante Abrasionsmuster (Eshed et al. 2006). Es entstand ein Zahnbogen, in den die Zähne schräg hineinrutschten und einen halbmondförmigen Rand von Schmelz hinterließen, nachdem der Rest der Krone abgeschert worden war (Abbildungen 177 und 180) (vgl. Anderson 1965).

Anderson (1965) beschrieb zudem eine generelle Abhängigkeit bestimmter Ab-rasionsmustern von Ernährungsgewohnheiten. Dabei gibt Anderson (1965) ver-schiedene Zeitspannen an, in denen je nach Entwicklungsgrad der Zivilisation verschiedene Abrasionsmuster anzutreffen waren. Frühe Phasen beschreibt er u. a.

mit der Nutzung der Zähne als Werkzeug. In späteren Phasen kam es weniger zu Abrasionen der Frontzähne und auch die Seitenzähne zeigten etwas weniger Ab-rasionsspuren (Anderson 1965). Dennoch ist der Abrasionsgrad der Molaren noch immer als hoch einzustufen, da gemahlenes Getreide einen recht hohen Sandanteil enthielt, was dann zu Abrasionen der Molaren führte (Anderson 1965). Diese Abra-sionen waren aber zumeist flach und nicht schräg (Anderson 1965).

Abb. 177   Beispiel für sehr stark abradierte Zähne (linke Oberkieferseite)

Dieser Oberkiefer der Population aus Calden weist im 2. Quadranten Seitenzähne mit sehr starken Abrasionen bis in die Nähe des Knochenniveaus auf.

Abb. 178   Beispielzeichnung zur Verwendung der Zähne als Werkzeug

Zeichnung freundlicherweise für diese Arbeit erstellt von Andrea Cyris (modifiziert nach Eshed et al. 2006).

Abb. 179   Kiefer der Population aus Calden (Beispiel 1)

Beispiel für ein recht junges Individuum mit nicht so stark abradiertem Gebiss.

Abb. 180   Kiefer der Population aus Calden (Beispiel 2)

Beispiel für ein älteres Individuum mit stärkeren Abrasionsspuren der Zähne nach Nutzung als Werk-zeug. Weiterhin fällt ein retinierter und verlagerter linker, oberer Eckzahn auf (Pfeile), der auch im Röntgenbild gut zu sehen ist. Weiterhin sind deutliche parodontale Schäden am Gebiss zu erkennen:

Ein horizontaler Knochenabbau von etwa 2 mm.

X

4.5  Sinusitiden

Bei einigen Kieferhöhlen der Individuen der Populationen aus Calden und Großen-rode fanden sich Spuren einer chronischen Sinusitis maxillaris, die sich als platten-förmige Auflagerungen im Sinne von knöchernen Neubildungen darstellten, wie sie auch Schultz (1987) beschrieb. Sinusitiden können starke Schmerzen hervorru-fen und sogar durch eine Sepsis zum Tod führen (Schultz et al. 2008).

In der Population aus Calden konnte bei 70% (n = 23 von 33) der erhaltenen und befundbaren Stirnhöhlen eine Sinusitis frontalis festgestellt werden, bei 88%

(n = 15 von 17) der Kieferhöhlen eine Sinusitis maxillaris, bei 86% (n = 6 von 7) der Keilbeinhöhlen eine Sinusitis sphenoidalis.

In der Population aus Rheine haben sich keine auswertbaren Fundstücke bezüglich nachweisbarer Veränderungen an Nasennebenhöhlen erhalten.

Die Funde der Population aus Großenrode enthielten Schädelfragmente mit ent-sprechenden Nasennebenhöhlen. Hier war bei 75% (n = 12 von 16) der Stirnhöhlen eine Sinusitis frontalis festzustellen, bei 67% (n = 2 von 3) der Kieferhöhlen eine Sinusitis maxillaris, bei 78% (n = 7 von 9) der Keilbeinhöhlen eine Sinusitis sphe-noidalis. Eine chronische, möglicherweise granulomatöse Rhinitis hatte bei einem Schädel eines Individuums aus Calden eine Periostreizung hervorgerufen, welche im Zuge einer entzündlichen Reaktion charakteristische Spuren am Knochen hin-terlassen hat. Die Entzündung breitete sich über die Nasennebenhöhlen aus und führte möglicherweise sogar zu einer Pansinusitis.

Das gehäufte Auftreten von Sinusitiden könnte mit den Lebensverhältnissen der Menschen der hier untersuchten Populationen erklärt werden. Schlechte Atemluft (z. B. durch Stäube und Feuerqualm) wäre deutlich plausibler als dentale Ursachen (Roberts 2007). Diese Aussage konnte in der vorgelegten Arbeit unterstützt werden.

Nur in wenigen Fällen konnten dentale Abszesse festgestellt werden, die die Kno-chenwände durchbrochen hatten. In mindestens einem Fall - der Population aus Calden - konnte jedoch in diesem Zusammenhang von einer odontogenen Sinusitis maxillaris ausgegangen werden.

Meningeale Reaktionen

Bei der Population aus Calden konnten an 21 von 84 befundbaren Schädelfunden Spuren einer meningealen Reaktion gefunden werden. Das entspricht einer Häu-figkeit von 25%. Bei der Population aus Rheine wurde an einem von 24 Schädel-fragmente (4%) eine meningeale Reizung festgestellt und bei der Population aus Großenrode an 27 von 69 Schädelfunden (39%). Die Spuren der hier beobachte-ten Hirnhautreaktionen manifestierbeobachte-ten sich z. B. entlang der Rinne des Sinus

sagittalis superior (vgl. Schultz et al. 2014). Es kommen verschiedene Ursachen für die Entstehung der meningealen Reizungen in der Population aus Calden in Be-tracht. Als wahrscheinlichste Ätiologie sind bakterielle Entzündungen anzuneh-men. In 19 von 21 Fällen war eine meningeale Reizung vergesellschaftet mit einer weiteren Erkrankung: Neun Fälle einer Reizung des Meatus acusticus externus, 13 Fälle eines entzündlich-hämorrhagischen Prozesses der venösen Hirnblutleiter (pe-risinuöser Prozess), sieben Fälle einer Sinusitis frontalis, neun Fälle einer Cribra orbitalia, zwölf Fälle einer Kopfschwartenreizung bzw. –entzündung, vier Fälle ei-ner Sinusitis maxillaris und eiei-ner Sinusitis sphenoidalis. Nun ist es natürlich post mortem schwierig nachzuvollziehen, ob diese Spuren verschiedener Erkrankungen im Kopfbereich kausal miteinander in Verbindung standen, sich gegenseitig her-vorriefen oder unabhängig voneinander auftraten. Besonders schwierig ist es dann, wenn sie zeitlich zusammen aufgetreten waren, weil Entzündungen zur gleichen Zeit an verschiedenen Orten auftreten können, ohne miteinander in Verbindung zu stehen. Das Alter eines Entzündungsprozesses ist in manchen Fällen an Spuren des anschließenden Heilungsprozesses – zum Beispiel an Narben - zu erkennen. Der Immunzustand eines solchen Individuums war wahrscheinlich zeitweise – beson-ders zur Winterszeit - sehr eingeschränkt. Dann konnte der Körper Entzündungs-reizen weniger trotzen und wurde in den immunologischen Tiefs möglicherweise tatsächlich an verschiedenen Schädelregionen zur selben Zeit infiziert. Dieses Sze-nario ist nicht auszuschließen, dennoch ist beim Auftreten bestimmter Konstellatio-nen von Entzündungen im Kopfbereich auch ein kausaler Zusammenhang möglich, der tatsächlich an einigen Fundstücken nachvollziehbar war. So konnten regelrech-te Durchbruchspuren einer Entzündung beobachregelrech-tet werden. Zumeist war der pri-märe Ursprungsort nicht sicher nachweisbar, wenn auch eine Ausbreitung in die eine oder andere Richtung plausibel schien.